„Was willst du, elender Hund?“ Der Späher hatte angesetzt, Aigonn ins Gesicht zu spucken, doch ein schallender Schlag auf seine Wange gab ihm keine Gelegenheit dazu. Aigonn glaubte, sich nicht mehr halten zu können. Alle Wut, die sich binnen der vergangenen Tage angesammelt hatte, wollte aus ihm herausbrechen. Sein ganzer Körper bebte, als er dem Eichenkrieger ins Gesicht schrie: „WAS ICH WILL? Ich will die Wahrheit, du von den Göttern verfluchter Bastard! Euer Fürst hält eine Frau gefangen, deren Leben mir mehr wert ist, als ihr euch vorstellen könnt! Was ist mit Lhenia passiert, mit der Wiederauferstandenen, der, die ihr alle fürchtet? Was habt ihr mit ihr gemacht?“
Der Eichenkrieger spie Blut zu Boden. Erst jetzt bemerkte Aigonn, dass er dem jungen Mann einen Schneidezahn ausgeschlagen hatte, der schräg und fast ohne Halt zwischen zwei weiteren, schief stehenden Zähnen hing.
Dann, auf einmal, begann dieser zu lachen. Aigonn glaubte, die Wut würde ihn zerreißen, als der Späher todesgewiss allen Mut sammelte und ihm mit einem höhnischen Grinsen auf den Lippen offenbarte: „Spar dir die Mühe! Die von allen Göttern verdammte Hexe wird keine Gelegenheit mehr haben, uns mit ihrem dunklen Zauber zu blenden! Noch heute Abend übergibt mein Herr Khomal sie den Geistern des Moores und du kannst nichts dagegen t…“
Weiter kam er nicht. Aigonn spürte das Nasenbein brechen, als seine Faust wie von selbst in das Gesicht des Spähers schoss. Ein gellender Schmerzensschrei verhallte, dann brachte die Messerklinge, die Aigonn ihm in die Brust rammte, ihnen beiden Frieden. Aigonn jedoch nur für kurze Zeit.
Die ganze Welt schien sich zu drehen. Er glaubte, dem Wahnsinn zu verfallen. Wut und Angst begehrten gleichzeitig in seiner Seele auf. Sie zehrten an ihm wie glühendes Pech, wollten ihn verbrennen, verschlingen, während gleichzeitig mit jedem Lidschlag sinnlosen Innehaltens neuer Zunder in die Flammen geworfen wurde.
„ROWILAN!“ Aigonn hatte keine Zeit, sich seiner Tat bewusst zu werden. Als wäre der tote Eichenmann eine Wurzel, riss er ihm das blutbesudelte Messer aus der Brust, sprang auf und rannte brüllend in Richtung des Felsvorsprungs, von dem sie gekommen waren. „ROWILAN!“
Es dauerte einen Moment, bis der Schamane sich keuchend den Weg durch das Dickicht freigekämpft hatte. Eine Platzwunde prangte dreckverschmiert an seiner Stirn und verlief beinahe in die Abschürfungen auf Wange und Nase, die stumme Zeugen eines Zweikampfes waren. Tief atmend erklärte er: „Der … Kerl ist mir entwischt. Konntest du …“
„ROWILAN, VERDAMMT!“
Der Schamane erbleichte. Erst jetzt wurde er sich der Panik gewahr, die Aigonns Züge wie ein Krampf gefangen hielt.
„Bei allen Göttern, was ist denn passiert?“
„Sie werden Anation umbringen! Heute Abend noch! Wir müssen los! Er hat gesagt, sie soll den Moorgeistern übergeben werden. Uns bleibt keine Zeit mehr!“
Rowilan brauchte einen Herzschlag, um zu begreifen und zu reagieren, was Aigonn fast den Verstand zu kosten schien. Wie konnte er noch zögern? Jeder Augenblick des Wartens war für immer verloren, ein wertvoller Funke Zeit, der ihm hinterher fehlen konnte. Sie werden Anation umbringen. Er würde sie für immer verlieren!
Da Rowilan noch immer die Fassung nicht recht wiedergefunden hatte, packte Aigonn den Schamanen kurz entschlossen am Arm und zog ihn im Laufschritt hinter sich her, den Pferden entgegen. Ungeachtet aller Späher, die noch im Wald auf sie lauern konnten, trat Aigonn jeden Strauch nieder, der ihm im Weg stand und für den seine Kräfte genügten. Unterdessen fragte er den noch immer perplexen Rowilan: „An welchem Moor führen die Eichenleute ihre Rituale aus?“
„Das Rote Moor. Es ist das Moor, in dem wir gelagert haben. Wenn du dich an den Weg erinnerst, könntest du bis zum Nachmittag dort sein.“
„Gut.“ Mehr wollte Aigonn nicht hören. Sobald die Pferde in Sicht kamen, riss Aigonn mit einem Griff den Strick los und setzte bereits an, sich auf den Rücken seines Reittieres zu schwingen, als Rowilan letztendlich seine Fassung zurückgewann.
„Aigonn, warte!“
Wider Willen wurde Aigonn zurück zu Boden gezogen. Seine Wut schien zu explodieren. Mit mehr Gewalt, als es gut tat, schüttelte er die Hand des Schamanen ab, bevor er abermals versuchte, aufzusitzen. Rowilan jedoch vereitelte auch diesen Versuch, diesmal deutlich hartnäckiger. „AIGONN, BEI DEN GÖTTERN, BESINNE DICH!“
„LASS MICH GEHEN, VERDAMMT!“ Er versuchte, sich dem Griff des Schamanen zu entziehen, dieser aber hielt nun seinen Oberkörper fest, sodass Aigonn beinahe stolperte, hätte Rowilan ihn nicht aufgefangen. „ZUERST WIRST DU ZUHÖREN! Verdammter Hitzkopf! Was willst du tun? Mit den Pferden zum Roten Moor reiten, in die Reihen der Feinde preschen und die Jungfrau retten, wie es nur alte Sagenhelden tun? Ist das dein Plan?“
Aigonn wusste nicht, was er antworten sollte. Am liebsten hätte er Rowilan von sich gestoßen. Er musste fort, weg von hier! Es blieb keine Zeit. Allmählich jedoch begann die leise Stimme seiner Vernunft wieder die Oberhand zu gewinnen. Widerwillig hielt er inne, um sich anzuhören, was Rowilan zu sagen hatte:
„Bitte warte ab! Ich weiß, dass … Anation dir etwas bedeutet und verstehe deine Panik. Aber du hilfst weder ihr noch dir selbst, wenn du allein in den sicheren Tod reitest! Oder glaubst du, Khomal rechnet nicht mit einem Angriff? Er hat erfahren, dass du entkommen bist! Ich glaube vielmehr, er wird auf dich warten. Vielleicht ist es eine Falle; dieser Mann ist gerissener, als wir beide glauben, fürchte ich!“
Aigonn hatte das Gefühl, sein Kopf würde zerplatzen. Eine Stimme in seinem Inneren murmelte, dass Rowilans Warnung vernünftig war, er besser warten sollte. Doch alles andere wehrte sich dagegen. Anation. Sie bedeutete ihm etwas? Er musste sich eingestehen, dass Rowilan nicht Unrecht hatte. Vielleicht traf seine Aussage die Wirklichkeit besser, als Aigonn es wahrhaben wollte. Doch in diesem Moment stand ihm nicht der Sinn danach, sich mit dieser Frage auseinander zu setzen. Erzwungen ruhig hakte er deshalb nach: „Und was soll ich deiner Meinung nach tun?“
„Du kannst nicht alleine reiten, das ist Irrsinn! Wir werden in der Siedlung nach verbliebenen Kriegern suchen, die uns begleiten können. Lass uns wenigsten warten, bis Aehrel zurück ist, wo auch immer er bleibt!“
„Gut.“ Vermutlich hatte er keine Wahl. Die Gewissheit, dass Anation in so unmittelbarer Lebensgefahr schwebte, trieb Aigonn immer noch beinahe in den Wahnsinn. Er nahm sich jedoch so weit zusammen, dass er an Rowilans Seite zur Siedlung zurückkehrte und dort die Nachricht unter den Überlebenden verbreitete. Zu Aigonns Verdruss zeichneten sich die Männer durch Zurückhaltung aus. Es waren so wenige verblieben, dass niemand für eine waghalsige Befreiung sein Leben und die Sicherheit der spärlich geschützten Siedlung opfern wollte – erst recht nicht, wenn es sich nur um eine einzige Person handelte, die sie alle seit Tagen mit Furcht und Unbehagen beobachtet hatten. Rowilan hatte Mühe, Aigonn zu besänftigen. Seine Geduld wurde auf die Zerreißprobe gestellt. Als der Morgen schließlich zum Vormittag wurde und sich nicht einmal Aehrel blicken ließ, erschöpfte sie sich schließlich. Aigonn sprang von dem Hocker im Haus seines Onkels, wo sie auf diesen gewartet hatten, packte sein Schwert und die Scheide und verkündete: „Es reicht! Komm mit mir oder bleib hier, Rowilan. Mir soll es gleich sein. Ich weiß nur, dass ich nicht noch länger warten werde!“
„Aigonn …“ Der Schamane fühlte, dass nun jegliche Widerworte zwecklos wären. Entschlossen trat Aigonn in den sonnigen Vormittag hinaus, suchte das Pferd, das ihn schon auf der Flucht vor den Eichenkriegern hierher getragen hatte, und legte ihm Zaumzeug an. Als das Tier fertig zur Abreise war, fragte er noch einmal Rowilan, der sein Treiben schweigend beobachtet hatte: „Kommst du mit?“
„Ich lasse dich nicht im Stich, das verspreche ich dir! Aber ich werde noch warten. Vertrau mir, auch du kommst nicht zu spät, wenn du uns ein wenig länger Zeit gibst!“
„Nein. Jetzt