„Haelinon war weit über die Stämme dieser Gegend hinaus bekannt – obwohl sie als einzige die Sehergabe ihres Vaters nicht geerbt hatte. Sie, zwei ihrer Brüder und ihre Schüler haben über Jahre hinweg Schamanen unterrichtet – sogar welche aus den Ländern nahe den gewaltigen Bergen weit im Süden – und diese haben die Eichenleute dafür reich entlohnt. Auf diese Schamanen gründete sich der ganze Reichtum, bis sie nacheinander an ihrer Macht zu Grunde gegangen sind.“
„Was ist geschehen?“
„Eifersucht, menschliche Schwäche. Die Schüler wollten sich aus dem Schatten ihrer Meister befreien. Es hat sich zu einer schlimmen Fehde entwickelt, in welcher letztendlich einer der Söhne des Moorsängers erschlagen wurde. Sein Bruder hat die Eichenleute verlassen und ist nicht mehr zurückgekehrt. Haelinon blieb als einzige weitgehend unbehelligt. Selbst ich habe sie noch als alte Frau kennengelernt, bis sie von einem Tag auf den anderen verschwunden ist. Es gibt Gerüchte, sie sei ermordet worden. Aber eigentlich hätte niemand mehr einen Grund gehabt. Die Fehde war zu dieser Zeit längst beendet, doch das tat nichts mehr zur Sache. Segastes war Haelinons letzter Schüler und letztendlich mein Lehrer. Mich wundert es, dass du ihren Namen nicht weiter zuordnen kannst.“
„Ich gebe zu, ich weiß wenig über die Geschehnisse außerhalb des Dorfes. Vielleicht … habe ich mich nie genug darum gekümmert.“
„Es hat sehr wohl etwas mit dem Dorf zu tun. Haelinon war Aehrels Mutter.“
„Was sagst du?“ Aigonn traute seinen Ohren nicht. Er hatte gedankenverloren begonnen, auf der harten, ungekochten Hirse herumzukauen, die ihm unangenehm auf das Zahnfleisch drückte. Das eben Gehörte aber ließ ihn einige Körner ausspucken, bevor er herausbrachte: „Aber … -Aehrel … ist mein Onkel. Also … der Bruder meiner Mutter.“
„Ihr Stiefbruder, ja. Haelinon hat ihn kurz nach seiner Geburt zu Moribes Familie gegeben – warum weiß niemand so genau. Er selbst hat davon erst spät erfahren, weil Haelinon scheinbar viel Wert darauf gelegt hat, das niemand ihren Namen erfährt. Jeder wusste, dass er nicht der leibliche Bruder deiner Mutter war, aber keiner kannte die Identität seiner Eltern.“
Diese Informationen waren für Aigonn zu viel. Für einen Moment ersparte er sich weitere Fragen, um verdauen zu können, was man ihm soeben erzählt hatte. Aehrel der Sohn einer mächtigen Schamanin? Es war schwer vorstellbar. Moribes Stiefbruder hatte sich Zeit seines Lebens vor allem als geschickter Kämpfer und besonnener Taktiker herausgetan, der Behlenos vor allem in Kriegsfragen eine unfreiwillige Stütze war. Doch der Sohn einer Schamanin? Nur weil Aehrel Rowilan manchmal zur Hand ging, hätte Aigonn dem ruppigen Krieger einen solchen Hintergrund nicht zugetraut. Immerhin war er kaum älter als seine eigene Mutter.
Die Geschichte hatte ihn so für sich eingenommen, dass ihm nicht aufgefallen war, wie der Wald sich gelichtet hatte und der abnehmende Mond weiß vom Himmel auf die beiden Reiter herabschien. Die Stute lief unsicherer auf ihren Hufen. Er hörte den schlammigen Boden unter ihren Schritten schmatzen, was ein untrügliches Zeichen dafür war, dass das Moor nicht mehr weit sein konnte.
Auch Rowilan bemerkte dies erst jetzt und hielt die Stute an. „Aigonn?“ Dieser antwortete nicht, war in seinen Gedanken versunken. „Aigonn!“ Rowilan stieß ihn leicht in die Seite, wich aber zurück, als Aigonn vor Schmerz zusammenzuckte. „Entschuldige. Wir müssen absteigen. Verheilt deine Rippe so schlecht?“
„Ich habe mir keine große Mühe gegeben, sie zu schonen.“
Auf diesen Kommentar hin meinte Aigonn ein Schmunzeln auf Rowilans Lippen zu erkennen. Der Schamane fasste das Pferd am Zügel und machte vorsichtig einen Schritt vor, um sich besser in der Landschaft orientieren zu können. Der dichte Buchen- und Eichenwald war im Laufe des Weges in Birken und Ohrweiden übergegangen, die in immer größeren Abständen zueinander wuchsen. Eine klamme Feuchtigkeit kroch Aigonn die Beine hinauf. Der morastige Boden schmiegte sich wie ein Fell an seine abgetretenen, aus einem Stück Leder genähten und gewickelten Bundschuhe und saugte sie an, als ob die Geister des Moores ein Weiterlaufen verhindern wollten. Rauschbeere und Heidekraut bedeckten zunehmend die Erde. Die rosafarbenen Blüten schienen in der Dunkelheit zu glimmen, mal heller, mal blasser – dem Wechselspiel der Wolken angepasst, die im Wind immer wieder Teile des Mondes verdeckten.
Aigonn konnte das erste Moorauge von weitem im Mondlicht spiegeln sehen, als er Rowilan fragte: „Heißt das …, auch Aehrel ist ein Seher?“
„Aehrel?“ Rowilan wandte sich kurz zu ihm um, bevor er einen Ast von einer Birke brach, um das Gefüge des Bodens vor sich abzutasten. „Nein. Aehrel hat keines der Talente seiner Mutter geerbt, schon gar nicht eines seines Großvaters. Auch sie war schließlich keine Seherin, aber zumindest eine begabte Schamanin. Ich glaube, er ist unglücklich darüber, aber ich habe ihn mehrfach auf die Probe gestellt. Zur Entschädigung gewissermaßen lasse ich ihn helfen, wenn ich einfache Rituale zu verrichten habe. Viel kann er ohnehin nicht tun.“
„Verstößt das nicht gegen die Gesetze? Er ist ein Uneingeweihter.“
„Und erfährt nichts von dem, das nur den Eingeweihten vorbehalten ist.“
Damit beendete Rowilan dieses Thema zunächst. Während sie den Wald immer weiter hinter sich ließen, breitete sich vor Aigonn und dem Schamanen ein Moor aus, das Aigonn in dieser Größe hier nicht vermutet hätte. Doch im Grunde hatten seine Vermutungen an dieser Stelle keinen Sinn. Er wusste nicht annähernd, wo im Land sie sich befanden. Die Schwärze der Nacht fraß alle Konturen des Horizontes und raubte Aigonn damit jegliche Orientierung. Auf diese Weise blieb ihm nur das Vertrauen in Rowilan und das Moor, das wie ein ruhender Geist dazuliegen schien – Jahrtausende alt und voll von Erinnerungen.
Die Nebelfrau
Der rhythmische Gesang schien längst einer anderen Welt zu entstammen, als Aigonn seine Augen öffnete und sie kurz darauf wieder zufallen ließ. Der Schlaf hatte Träume beschworen, die ihm noch zu wirklich erschienen, als dass er sie als solche identifizieren konnte, und deshalb wanderte er noch ziellos, auf der Suche nach etwas, dessen Namen er längst vergessen hatte, durch einen nachtschwarzen Wald. Die Schatten gesichtsloser Schamanen erschienen immer wieder zwischen den Bäumen, während er Aehrel und seine Mutter von weitem unverständliche Worte rufen hörte. Der Gesang, den er vernahm, wollte sich nicht recht in dieses Bild einfügen. Wieder schlug Aigonn für einen kurzen Moment die Augen auf. Doch als er diesmal statt Schwärze verwaschene Konturen erkannte, versuchte er die Müdigkeit wegzublinzeln und befreite sich endlich aus seinem Traum.
Wie er feststellen musste, war der Gesang real. Aigonn brauchte einen Moment, bis er taunasses Wollgras in dunstigem Zwielicht ausmachte und sich endlich entsann, wo er eingeschlafen war.
Die Morgensonne schickte erstes Rot über den Horizont, sodass das Moor unwirklich dalag, sich der Realität zu entziehen schien. Nebelschwaden hingen über den schwarzen Mooraugen und dem rötlichgrünen Heidekraut und verschleierten die Landschaft ebenso wie die Gefahr.
Der kleine Flecken Land, den Aigonn und Rowilan als Nachtlager bestimmt hatten, war mit Bedacht gewählt. Eine uralte hölzerne Statue, verwittert und die Züge vom Alter unkenntlich geworden, stand am Rande eines gewaltigen Moorauges und war stiller Zeuge dafür, dass sie sich an einem heiligen Ort befanden.
Verschlafen rieb Aigonn sich über die Augen und versuchte, seinen Blick zu klären. Rowilan hatte ihm, nachdem er seine Pfeilwunde versorgt hatte, einen Sud aus Weidenrinde bereitet. Als die gewünschte Wirkung aber auf sich hatte warten lassen und Aigonns Schmerzen sich zunehmend ins Unerträgliche gesteigert hatten, war schlichter Met die einzige Lösung gewesen, die der Schamane noch zu bieten gehabt hatte. Der Alkohol hatte schiere Wunder gewirkt. Aigonn war in einen seligen Schlaf verfallen, hatte nun aber Mühe, gegen den Rausch anzukämpfen, der die Bilder vor seinen Augen schwanken und verschwimmen ließ.
Lange konnte er demnach nicht geschlafen haben. Seine Rippe schmerzte dumpf, als Aigonn sich aufsetzte und angestrengt das Gesicht verzog. Das kleine Feuer, das sie entzündet hatten, war zu einer funkelnden Glut herabgebrannt. Aigonn hatte lediglich auf einer schmalen Lederplane geschlafen, da Rowilan sein Pferd nur mit dem Nötigsten hatte bepacken