Das Geschrei ließ nicht nach und hatte allmählich in Aigonns Ohren zu dröhnen begonnen. Er konnte seine Hände nicht ruhig halten. Verzweiflung drängte sich in seinen Kopf. Er konnte ihr nicht helfen, nicht er. Aigonn sah schon gar nicht mehr hin, als er in ein Säckchen hineinfasste, das unter anderen Beuteln verborgen gelegen hatte.
Der Inhalt glitt unbeachtet durch seine Finger – bis er stutzte und hinsah. Pilze waren im Schein des Herdfeuers zu erkennen. Durch das Trocknen waren sie eingeschrumpelt, doch es waren noch immer vereinzelte Punkte als Vertiefungen zu sehen. Mit gerunzelter Stirn roch Aigonn daran. Der Geruch war für ihn nichtssagend – und genauso gut wusste er, dass viele Pilze zum Heilen von Krankheiten verwendet wurden. Schleierhaft war ihm jedoch die Herkunft einiger eingetrockneter Kapseln, dick wie ein Daumen und mindestens halb so groß, die zwischen den Pilzen im Beutel lagen. Als Aigonn eine davon herausnahm, zerdrückte er sie versehentlich und erkannte in ihrem Inneren eine feste – vielleicht aber auch klebrige – pulverartige Struktur. Einen Herzschlag lang überlegte er, ob er die Substanz probieren sollte, doch er entschied sich dagegen, verschloss den Beutel wieder und ließ ihn skeptisch zu Boden sinken.
Wenn Aehrel wieder hier sein würde – wo auch immer er war – wollte Aigonn seinen Onkel nach den seltsamen Kräutern fragen, die er aufbewahrte. Er selbst hatte noch nie gesehen, dass besagte Kapseln in irgendeiner Weise gegen Krankheiten oder Leiden verwendet wurden. Wenn Aigonn ehrlich war, hatte er überhaupt noch nie solche Kapseln gesehen – zumindest konnte er sich dessen im Moment nicht entsinnen.
Die Schreie seiner Mutter erinnerten ihn daran, wonach er auf der Suche war. Für einen Moment überkam ihn Verzagtheit. Was konnte er allein schon ausrichten?
Allein. Dieser Gedanke brachte ihm eine neue Idee. Er war vielleicht nicht dazu im Stande, aber Rowilan! Ohne den Kräuterbeuteln weitere Beachtung zu schenken, stieß Aigonn die Tür auf und rannte in die Dunkelheit hinaus.
Es war tiefste Nacht. Wolken hielten das Licht des Mondes verborgen, sodass die Lichtfunken der wenigen, ausglühenden Herdfeuer wie Sterne in der schier undurchdringlichen Schwärze erschienen. Aigonn stolperte mehrfach, als er über die erdigen Wege hechtete und endlich nach einiger Zeit die Silhouette von Rowilans Haus in der Dunkelheit erkannte. Er hoffte zumindest, dass er sich nicht geirrt hatte.
Ohne anzuklopfen, riss Aigonn die Tür auf – und blickte tatsächlich in das von einem Herdfeuer erleuchtete Haus des Schamanen. Dieser saß auf einem Rehfell, die Beine ineinander verschlungen und eine bronzene Kanne in den Armen, die er mit einem Lappen reinigte.
Rowilan sah erstaunt auf, als er den unerwarteten Besucher bemerkte. Aigonn erkannte, dass der Schamane ihn soeben noch freundlich willkommen heißen wollte. Doch als diesem Aigonns panischer Gesichtsausdruck bewusst wurde, vergaß er jegliche Floskeln, sondern fragte direkt: „Was ist passiert?“
„Meine Mutter … sie … ich weiß nicht, was mit ihr geschieht! Sie schreit, als ob man sie zu Tode hetzen würde, doch ich kann dir nicht sagen, was ihr fehlt. Ich … ich weiß nicht, was ich tun soll!“
So behutsam wie möglich ließ Rowilan die Kanne auf das Fell gleiten, bevor er aufsprang und in die andere Seite seines Hauses eilte. Kurz darauf kam er mit gut und gern fünfzehn verschiedenen Tontöpfchen und kleinen Beuteln zurück, von denen er Aigonn die Hälfte in die Arme drückte und dann zügig sein Haus verließ.
„Wo ist Aehrel? Ist er nicht zu Hause?“
„Nein, Aehrel ist weg. Ich kann dir nicht sagen wohin.“
Es war in der Dunkelheit nicht sichtbar, doch Aigonn war sich sicher, dass Rowilan die Stirn runzelte. Wie um seine Gedanken zu bekräftigen, murmelte er verständnislos: „Mitternacht müsste bald vorbei sein. Hat er nicht gesagt, was er vorhat?“
„Kein Wort.“
Auf dem Rückweg bemerkte Aigonn erst, dass auch andere der verbliebenen Dorfbewohner von den Schreien seiner Mutter aufgeweckt worden waren. Eine kleine Menschentraube hatte sich vor Aehrels Haus gebildet – unsicher, ob sie das fremde Haus betreten sollten, das Aigonn kurz zuvor erst verlassen hatte.
Rowilan scheuchte die Gruppe, die überwiegend aus Frauen bestand, mit einer kurzen Bemerkung beiseite, bevor er sich Zutritt zum Haus verschaffte und die Schaulustigen draußen aussperrte.
Moribe hatte sich immer noch nicht beruhigen können. Man hörte deutlich, dass ihre Kräfte nachließen. Unverständliche Worte schwangen immer wieder in ihren Schreien mit, die jedoch weder Aigonn noch Rowilan wirklich verstanden. Der Schamane sank neben ihrem Schlaflager auf die Knie, Aigonn kurz hinter ihm, und befühlte sorgenvoll ihre schweißnasse Stirn. „Sie hat Fieber, immer noch.“
Er fasste nach ihrem Puls. Seine Miene verdunkelte sich. „Ihr Herz rast. So geschwächt wie sie ist, wird sie das nicht mehr lange durchhalten.“
Aus Aigonns Ahnung wurde Schrecken. Obwohl der Schamane nach einem der Töpfchen langte, die sie mitgebracht hatten, erkannte Aigonn an dessen Ausdruck, dass auch er nicht viel tun konnte.
„Bring mir Wasser und eine flache Schale!“
Aigonn stolperte davon, brachte kurz darauf aber einen kleinen Krug und das gewünschte Geschirr mit sich. In die Schale kippte Rowilan einen Schuss Wasser, vermischte dieses mit einigen Kräutern zu einer breiigen Paste, bevor er Aigonn den Krug in die Hände drückte. „Du musst mir helfen“, wies er ihn an. „Sie wird die Paste nicht einfach schlucken. Du musst vorsichtig versuchen, Wasser hinterher zu gießen, damit sie es nicht ausspuckt. Ihr Körper wird Flüssigkeit brauchen!“
„Was ist das?“ Aigonn blickte zweifelnd auf den Brei, den Rowilan in der Schale in seinen Händen hielt. „Baldrian. Normalerweise verwende ich ihn nicht pur. Aber das hier ist eine Ausnahme. Also hilf mir!“
Aigonn nickte. Zusammen mit dem Schamanen beugte er sich vor. Rowilan hatte gerade die Schale an Moribes zuckende Lippen gesetzt, als diese auf einmal erschlafften. Der Körper der Frau entspannte sich. Als hätte der Schamane einen Zauber gesprochen, verstummten ihre Schreie, verlangsamte sich ihre Atmung. Die Erschöpfung schien wie ein Tuch auf sie niederzufallen.
„Was geschieht mit ihr?“ Mit schreckensweiten Augen sah Aigonn zu seiner Mutter hinab. Rowilan stellte verwirrt die Schale beiseite, legte stattdessen das Ohr direkt über ihr Herz und stockte, als ihn Gewissheit überkam.
Aigonn sah den Ausdruck in seinem Gesicht – eine Miene, die deutlich machte, dass es nichts mehr zu tun gab. Ein Gedanke – nicht ausgesprochen, aber gegenwärtig – schnürte ihm die Kehle zu. Obwohl er sie zurückhalten wollte, brach die Panik in seiner Stimme durch, als er Rowilan abermals fragte, noch lauter als zuvor: „WAS GESCHIEHT MIT IHR?“
„Sie stirbt.“ Rowilans Stimme war nicht zu deuten. Es gab kein Gefühl in ihr, keine Trauer oder Verzagen – nur die Gewissheit, die Aigonn die Luft zum Atmen raubte. Ein Schrei, ein Vorwurf, lag ihm auf den Lippen. Er wollte ihn bereits ausstoßen, als eine andere Stimme alles vergessen machte, das er hatte sagen wollen.
„Aigonn!“
„Mutter?“
Sie war es. Sie erinnerte sich an seinen Namen. Sie war zurück, so kurz vor dem Ende! Aigonn ließ den Tonkrug achtlos zu Boden fallen. Leise klirrend splitterte ein wenig Ton, der Henkel brach ab. Doch diese Sinneseindrücke erreichten Aigonns Bewusstsein nicht mehr. Er beugte sich weiter vor – sodass sein Ohr dem Mund seiner Mutter ganz nahe war. Und dann hörte er, wie sie sagte: „Aigonn …, ich bin angekommen.“
Auf einmal waren sie wieder da – die Erinnerungen, seine Kindheit.