Aigonn gab keine Antwort. Er wusste nicht, was es dazu zu sagen gab. Was er fühlte, hatte keinen Namen. Seine Beine hatten so heftig zu zittern begonnen, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor, als er neben seiner Mutter auf die Knie ging. Unendlich langsam hob er die Hand, strich behutsam über ihre Stirn, doch als er die Kälte ihres Schweißes spürte, zuckte er wider Willen zurück.
Ein unverständliches Wort entkam Moribes Lippen. Für einen Moment kämpfte Aigonn mit den Tränen, die aus seinen Augen hervorkriechen wollten und verbiss sich stattdessen in seiner Lippe, bis der Geschmack von Blut seinen Mund füllte. Vorsichtig beugte er sich hinunter, hielt sein Ohr so nah wie möglich über die Lippen seiner Mutter und lauschte.
Die meisten ihrer Laute ergaben keinen Sinn. Für kurze Zeit glaubte Aigonn, Bruchstücke von Worten zu verstehen, doch dann, immer wieder, ein Name. Derona …
Ein Schauer trieb Aigonns Nackenhaare in die Höhe. Plötzlich spürte er sie wieder, die eisige Kälte, die sich um seinen Nacken schloss, die die Luft zum Atmen schwinden ließ. Ruckartig wirbelte er herum. Doch was immer er zu sehen geglaubt hatte, er erkannte nur Aehrel hinter sich, der ihn fragend musterte, und mit einem Herzschlag war jegliche Kälte verschwunden.
Die Worte der Nebelfrau dröhnten wie Todesschreie in Aigonns Ohren. Schlagartig hörte er sein eigenes Blut pochen, sein Atem wollte zu keuchen beginnen.
„Alles in Ordnung, Aigonn?“
Die Wirklichkeit rief nach ihm. Er nickte rasch, doch Aehrel gab sich damit nicht zufrieden. Der skeptische Blick seines Onkels haftete auf ihm, als Aigonn sich von Aehrel auf die Beine ziehen ließ und danach geistesabwesend Staub von seiner Hose klopfte. Als er immer noch nicht auf die Frage einging, schürzte Aehrel mürrisch die Lippen und bot ihm stattdessen an: „Wenn du möchtest, kannst du die Nächte hier in meinem Haus verbringen … oder zumindest, was davon übrig ist. Wenn du bei deiner Mutter sein möchtest. Vielleicht kann deine Anwesenheit ihr helfen, wenigstens im Angesicht des Todes zu uns zurückzukommen. So zynisch es klingen mag: Noch ist nichts verloren.“
Aigonn nickte nur. Der Moment machte deutlicher als viele andere, wie sehr Aehrel an Moribe hing. Auch wenn er den Eindruck gewann, sein Onkel wollte dem Schmerz davonrennen, erkannte er die Wahrheit in seinen Augen. Aigonn wusste nicht, ob es ihm Trost spendete, dass er mit seinen Gefühlen nicht alleine war. Darüber nachzudenken aber würde nicht helfen. Es war zwecklos.
So klopfte er seinem Onkel flüchtig auf die Schulter, bevor er ihn stehen ließ und sich ohne ein weiteres Wort nach draußen flüchtete.
Nicht einmal dreißig Menschen waren gekommen. Die Versammlung war ein klägliches Abbild dessen, was Aigonn von früheren Tagen her kannte. Und wenn die schmerzstillenden Tränke nicht gewesen wären, hätte er diese Tatsache wohl voller Wut und Trauer gegen die Eichenleute beobachtet. Nun aber war sein Kopf von Gleichgültigkeit erfüllt – nicht ausschließlich, doch größtenteils gegenüber derartig geringfügigen Faktoren, die er nur wie aus einem dritten Auge beobachtete.
Rowilan und Aehrel hatten alle Überlebenden des Angriffes zusammengerufen – nicht in Behlenos’ Haus, da dieses durch den großen Brand fast vollkommen zerstört worden war, sondern im Wohnhaus eines Bauern, dessen Familie bis auf Schwager und Cousins vollständig in die Andere Welt übergegangen war. Der Schamane hatte es sich nicht nehmen lassen, vor der Versammlung den Toten ein Opfer zu bringen – allein deshalb, weil bisher kaum Zeit für größere Zeremonien geblieben war.
Aigonn saß neben Rowilan, einen Arm auf dem Boden aufgestützt und den anderen locker in seinem Schoß liegend, während er zur niedrigen Decke hinaufsah. Es baumelten von dort noch immer getrocknete Kräuter und Kornähren hinab. Wer würde sie abhängen? Für wenige Herzschläge glaubte er, die Gestalt der früheren Hausherrin zwischen den Frauen und Kindern zu erkennen. Doch als er abermals blinzelte, war sie verschwunden.
„Meine Brüder und Schwestern, ihr, die ihr als Letzte verblieben und nicht in Gefangenschaft geraten seid!“
Rowilans Worte brachten die murmelnde Menge zum Schweigen. Das Feuer, das man im Zentrum der Gruppe entfacht hatte, rußte stark und schwängerte die Luft mit Rauch, sodass Aigonn manche Gesichter nicht einmal mehr schemenhaft erkennen konnte.
„Ich bin von meiner Reise zurückgekehrt und kann euch sagen: Was ich mir vorgenommen habe, ist mir gelungen.“ Der Schamane verwies mit einer Geste auf Aigonn, während seinen Worten undeutliche Fragen folgten.
„Mir ist es gelungen, in das Lager der Eichenkrieger einzudringen und mit Aigonn wenigstens einen unserer Brüder befreien zu können, nachdem ich die Lage ausgespäht habe.“
„Warum nur ihn?“ Die Frage kam von einer Frau, die auf den ersten Blick in der Gruppe Menschen nicht auszumachen war. Als Aigonn genau hinsah, erkannte er in ihr Brals Mutter, eine bis vor kurzem noch angesehene und wohlhabende Frau, die gute Beziehungen zu weit reisenden Händlern besessen hatte. Der Unterton ihrer Stimme verriet ihm die zweite Frage, die sie nicht auszusprechen wagte: Warum hast du nur diese sonderbare Person befreit, die von den Göttern verflucht ist und uns sicherlich alle noch mehr in Gefahr bringen wird?
Rowilan schien Aigonns Gedanken zu teilen. Denn sein Ton duldete keinen Widerspruch, als er antwortete: „Zum einen war es ein Glücksfall, den Göttern möge es gedankt sein, dass ich überhaupt im Stande war, die Gunst des Augenblicks zu nutzen. Und zum zweiten ist Aigonn in der Lage, auch wenn viele von euch es nicht glauben wollen, uns mehr bei der Befreiung unserer übrigen Stammesbrüder und -schwestern zu helfen als jeder, den ich sonst hätte wählen können.“
„Warum?“ Brals Mutter schien dem Schamanen kein Wort zu glauben. Die alte Frau, fast fünfzig Jahre alt, funkelte Aigonn feindselig an, der in diesem Moment darüber keine Wut empfinden konnte. Rowilan aber legte allen Nachdruck in seine Stimme, der weitere Nachfragen unnötig machte. „Ich weiß, dass ihr Aigonn seit einiger Zeit mit Misstrauen beäugt. Aber lasst euch von mir sagen, dass dafür kein Grund besteht. Aigonn ist mit einer mächtigen Sehergabe beschenkt worden, die auch schon seine Schwester vor ihm in sich getragen hat …“
Als Deronas Name im Raum hing, stockte Rowilan unmerklich. Niemand hatte seit Jahren gewagt, öffentlich über sie zu sprechen, über ihre Fähigkeiten. Denn immer verfolgte sie der Nachhall ihres schrecklichen Todes.
„… und eben diese Gabe versetzt ihn in die Lage, uns dienlicher bei der Befreiung zu sein als jeder andere sonst.“
Aigonn zog die Augenbrauen in die Höhe, blickte Rowilan an und nahm den anderen im Raum die Frage vorweg: „Das musst du mir etwas genauer erklären!“
„Ich gedenke in den nächsten Tagen – ansonsten könnte es zu spät sein – mit so vielen kampffähigen Männern und Frauen wie möglich gegen das Lager der Eichenleute vorzurücken. Du wirst mir helfen, mögliche Wachposten ausfindig zu machen – wir müssen sehen, zu wie viel du ohne eine Ausbildung in der Lage bist. Im Schutz der Dunkelheit werden wir die einzige Gelegenheit haben, gleichzeitig die Gefängnisse unserer Stammesbrüder zu umringen und die Wächter unschädlich zu machen. Sonst bleibt praktisch keine Zeit. Wer zu langsam ist, riskiert, alles aufs Spiel zu setzen.“
Aigonn lächelte ironisch. „Das klingt wie ein Selbstmordkommando!“
„Ich muss gestehen, es ist auch kein echter Schlachtplan.“ Nun klang Rowilan ehrlich niedergeschlagen, auch wenn er dies zu verbergen suchte. „Es ist die einzige Möglichkeit, die ich gesehen habe, ohne das Lager offen anzugreifen.“
„Wozu die Heimlichkeit?“, mischte sich nun Aehrel ein. „Fewiros wird allmählich von unserer misslichen Lage erfahren haben. Er lässt uns nicht im Stich! Das kann er gar nicht!“
„Bist du dir da wirklich so sicher?“ Dieser eine Satz verriet Rowilans wahre Position gegenüber Behlenos’ Cousin. „Ich behaupte, es würde Fewiros gelegen kommen, so lange zu zögern, bis er Behlenos tot weiß