Nichts war zu hören, nicht mal ein Atmen. Sollte Aehrel noch immer bei seinem Schamanen Wache halten, war er eingeschlafen oder harrte vollkommen reglos aus – wobei Aigonn letztere Möglichkeit jedoch unwahrscheinlich erschien. Er warf schnelle Blicke nach links und rechts, dann schlich er bis zur Tür und zog behutsam an dieser.
Sie öffnete sich. Aigonn hätte beinahe aufgelacht. Niemand hatte sie verriegelt. Warum auch? Für gewöhnlich drohte keinem Bärenjäger in seiner Siedlung Gefahr, schon gar nicht Rowilan, der unter den Menschen so hohe Achtung genoss.
Er lächelte scharf. Wer hätte auch ahnen können, dass er in dieser Nacht dem Schamanen einen Besuch abstatten wollte?
So leise wie möglich öffnete Aigonn die Tür noch ein Stück, zwängte sich durch den Spalt für den Fall, dass eine Wache den offenen Eingang bemerken würde, und schritt langsam über den mit Grasmatten ausgelegten Lehmboden. Im Dunkeln erfüllte Rowilans Haus jegliche Vorstellungen des Schlupfwinkels von einem greisen, alten Einsiedler, der nach den Geistern und Göttern suchte. Nur die schwache Flamme einer Talglampe erhellte den Raum, sodass Aigonn zweimal wider Willen gegen Körbe oder Regalecken stieß. Beim zweiten Mal sog er scharf die Luft ein, doch es rührte sich nichts. Aehrel war weder zu hören noch zu sehen, sodass neuer Platz geschaffen war für das Lodern, das Aigonn vorwärtstrieb.
Er fühlte die Wut, den Hass. Sie hatten sich in eine beständige Flamme verwandelt, die nach neuem Zunder dürstete. Vorsichtig schritt er durch den Raum, bis er die Bettstatt erkennen konnte, auf der Rowilan lag. Aehrel hatte an diesem Nachmittag berichtet, dass es dem Schamanen nicht besser ging. Welches Ritual auch immer ihn in diesen prekären Zustand gebracht hatte, Aigonn war es in diesem Moment ganz egal. Stattdessen dankte er Rowilan in Gedanken für diesen Fehler, der ihm endlich erlaubte zu tun, was seinem Vater nicht gelungen war.
Langsam trat er an die Bettstatt des Schamanen. Je näher er kam, desto mehr hörte er eine innere Stimme in sich aufschreien, die ihn zurückhalten wollte. Doch sie erstickte, würde übertönt von einem Wispern in seinen Ohren, einem Wispern, das ihn daran erinnerte, weshalb er hier war, welche guten Gründe es gab, diesen Hass zu empfinden und ihn auszuleben, ihm Gestalt zu verleihen.
Dort lag er, Rowilan, wehrlos, halb schlafend, halb in der Anderen Welt gefangen. Es schauderte Aigonn, als er die Präsenz der Geister wahrnahm, die den Schamanen noch immer gefangen hielten. Er war ein Seher. Jemand der die verlorenen Erinnerungen eines Toten wiederfinden konnte. Warum sollte er nicht versuchen, auch die eines Lebenden zu sehen, einen Menschen dazu zu zwingen, ihn daran Teil haben zu lassen? Dies war seine einzige Chance – die Chance, von Rowilan das zu erfahren, was ihm immer in der Seele gebrannt hatte. Und vielleicht dann endlich Gerechtigkeit walten lassen zu können; Gerechtigkeit, die seiner Familie so lange schon verwehrt geblieben war.
Aigonn ging in die Knie. Er sah Rowilans Lippen kaum hörbare Worte murmeln. Die Augen des Schamanen zuckten unter ihren Lidern, als führten sie ihren eigenen Kampf gegen die Bewusstlosigkeit. Aigonn konzentrierte sich. Niemals hatte er bewusst versucht, diese Fähigkeiten, die ihm gegeben waren, kontrolliert zu benutzen. Nun tat er es. Er wollte sehen, Rowilan dort erreichen, wo er in diesem Moment gefangen war.
Plötzlich spürte er die Geister der Anderen Welt mit so nicht gekannter Heftigkeit. Beinahe wäre er drei Schritte nach hinten gestolpert, doch Aigonn mahnte sich zur Ruhe. Wenn mich heute Nacht jemand hier in diesem Haus entdeckt, werden sie mich umbringen. Und von diesem Gedanken war er überzeugt.
Deshalb versuchte er, sich zu beherrschen. Gestaltlose Lichtwesen waren auf einmal rund um die Bettstatt zu erkennen, die Aigonn jedoch nicht weiter identifizieren konnte. Für einen kurzen Moment überkam ihn der Gedanke, sie um Hilfe bei seinem Vorhaben zu bitten. Doch er kam schnell zur Vernunft. Rowilan konnte ihnen nicht entkommen. Was würde ihm wohl blühen, wenn dieses Experiment außer Kontrolle geriet?
Somit blendete er die fremden Geister bestmöglich aus und konzentrierte sich ganz auf den schlafenden Schamanen. Aigonn wusste zwar nicht, was er sehen sollte. Doch er spürte, dass er Rowilan aus anderen Augen ansah. Das Gefühl elektrisierte ihn. Sein Geist schien nicht mehr vollständig mit dem Körper verbunden. Er schien mit einem Mal ungeheure Macht zu besitzen, und dieser Gedanke verwandelte Zorn in Euphorie.
Selbstsicher näherte Aigonn sich nun Rowilans Ohr. Als sein Atem die Haare des Schamanen in Bewegung brachte, hauchte er aus: „Derona. Derona …“
Dann wartete er. Rowilan zuckte unmerklich bei seinen Worten, presste die Augen fester aufeinander. Schließlich wiederholten seine Lippen fast unhörbar Deronas Namen.
Aigonn hätte am liebsten aufgejubelt. Es geschah, was geschehen sollte. Als er sich Rowilans Ohr ein zweites Mal näherte, schienen selbst die fremden Geister innezuhalten und zu lauschen, was dieser kleine Sterbliche dem Schamanen zu entlocken versuchte.
Er formulierte eine Frage: „Wozu war Derona in der Lage?“
Stille folgte. Die Welt schien den Atem anzuhalten. Die Lichtwesen um Aigonn herum schwebten still in der Luft. Ihre Blicke schienen wie feine Nadeln in seine Haut zu stechen. Ein weiterer Schauer jagte ihm den Rücken hinab. Dann antworte Rowilan flüsternd: „Derona hat gesehen, was ich nicht sehen konnte.“
„Was hat sie gesehen?“
„Die Andere Welt, ihre Wesen, die Geister, all das, viel klarer als ich.“ Rowilan begann, keuchend zu husten. Durch seine liegende Position waren es nur leise, erstickende Laute, die sich schnell legten. Die Lichtwesen schienen näher an die beiden Männer herangerückt. Eines von ihnen schimmerte keine Hand breit neben Aigonns Gesicht. Er fühlte es mehr, als dass er es sah. Doch diese Empfindung genügte, damit eine eisige Kälte jegliche Wärme aus seinem Körper vertrieb. Unwillkürlich fröstelte er. Als er wieder zu Rowilan hinabsah, erkannte er, dass der Schamane ebenfalls zitterte. Für einen Moment dachte Aigonn darüber nach, wieder zu gehen, Rowilan in Frieden zu lassen. Eine leise Angst schlich sich in seinen Kopf. Wenn er den Schamanen nun so belastete in seinem Kampf mit den Geistern und der Anderen Welt, würde er dann jemals wieder erwachen? Sollte er ihm nicht lieber helfen, diesen Kampf zu gewinnen?
Doch diese Funken Zweifel verbrannten in der Wut seines Innersten. Für Rowilan empfand er kein Mitleid. Der Schamane hatte seine Schwester in den Tod getrieben und dafür gesorgt, dass sein Vater das Dorf verlassen musste. All die Jahre über hatte er ungestraft weitergelebt. Niemand hatte sich darum geschert, was passiert war.
Für einen kurzen Moment schien es Aigonn, als wäre eine weitere Präsenz zu den Geistern hinzugekommen. Neue Kälte erfasste ihn, eine ganz andere als jene, welche das Lichtwesen aussandte. Vielmehr war es die klamme Feuchte, die ausgekühlten, toten Körpern anhaftete – so wie jene, die man auf einem Schlachtfeld zurückließ. Ein weiterer Schauer erfasste Aigonn und dieser zwang ihn beinahe in die Knie. Er kannte dieses Gefühl. Es war nicht das erste Mal, dass er es wahrnahm. Zwei kalte Hände schienen an seinem Hals zu ruhen, doch diesmal drückten sie nicht zu, raubten ihm nicht die Luft. Sie waren vielmehr eine Drohung, die ihn zwang, sich zu konzentrieren, sich darauf zu besinnen, weswegen er hierher gekommen war. Seine Lippen formten eine weitere Frage, die Frage, die ihn seit Jahren quälte.
Plötzlich erfasste eine Windböe die angelehnte Tür und schlug sie knallend gegen die Hauswand. Aigonn fuhr auf. Im selben Moment sah er Rowilan die Augen öffnen, verschlafen blinzeln. Sein Blick trübte sich. Die Geister verloren an Gestalt, bis sie für ihn vollkommen unsichtbar wurden.
Auf einmal war die Kälte der angenehmen Frische des Abends gewichen. Die Flamme des Zorns war erloschen. Aigonn nahm sich nicht mehr die Zeit, um sich der Umstände zu besinnen, sondern huschte so schnell und leise wie möglich zur Tür – hinaus in die Dunkelheit.
Zwei Häuser weiter drückte er sich in den Schatten eines Viehstalls. Er bemerkte erst jetzt seinen keuchenden Atem und eine plötzliche Luftarmut, der abgeholfen werden musste. Kalter Schweiß klebte überall auf seinem Leib. Wo die wispernde Stimme gewesen war, erfüllte ein quälendes Rasseln seinen Geist, das die Antwort seines rebellierenden Körpers auf die Anstrengung zu sein schien, die er so gar nicht wahrgenommen hatte.
Erst als er einen Moment sitzen geblieben war und