Die Hilflosigkeit, das Versagen seiner Angehörigen, die Wut – so, wie er damals dem Geschehen ausgeliefert gewesen war, so hielten ihn nun diese Emotionen in fester Hand, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Hätte er nicht selbst damals etwas tun können? War es nicht auch seine Schuld? Aber er war so jung gewesen. Was hätte ein Kind schon tun können?
Er merkte kaum, dass er laut aussprach: „Ich ertrage ihn nicht mehr, diesen Tod. Überall verfolgt mich der Tod. Ich kann mich nicht dagegen wehren, er ist immer da …“
„Aigonn!“ Als eine Hand seinen Arm berührte, zuckte er so heftig zurück, als wäre diese brennend heiß. Die Wirklichkeit schien unter der Flut unkontrollierter Emotionen aufzutauchen. Er starrte der jungen Frau mehrere Herzschläge lang ins Gesicht, bis ihm einfiel, warum sie hier war, was er ihr erzählt hatte. Unsicherheit verbarg sich in ihrer Stimme, als sie fragte: „Was ist nach dem Tod deiner Schwester geschehen? Hat euer Schamane verraten, was ihr widerfahren ist?“
„Nein.“ In Aigonn loderte es. Unmerklich begannen seine Hände zu zucken. „Rowilan ist bestürzt gewesen. Ich will nicht abstreiten, dass er etwas für Derona empfunden hat, aber er hat eisern geschwiegen – selbst Behlenos gegenüber. Die beiden sind seit jeher gute Freunde gewesen und haben sich scheinbar untereinander arrangiert. Ich weiß nicht wie, aber jedenfalls hat Behlenos versucht, die Angelegenheit ruhen zu lassen und zu warten, bis die Zeit Wunden heilt. Aber es ist ihm nicht gelungen.“
Aigonns Blick haftete auf seiner Mutter. Für einen kurzen Augenblick war es ihm vorgekommen, als hätte sie seine Augen gestreift, eine stumme Zustimmung zu dem gegeben, was er berichtete. Doch er konnte sich auch täuschen.
„Meine Mutter hat Deronas Tod nicht verkraftet. Sie hat sich tagelang zurückgezogen und nur durch das Zureden und die Fürsorge meines Vaters wieder dem normalen Leben zugewandt. Er hat geschwiegen, aber nur Efoh und mir zuliebe. Gut ein Jahr später hat er es nicht mehr ausgehalten und versucht, Rowilan zur Rede zu stellen. Als der sich ihm verweigert hat, hat ihn die Wut überkommen. Ich weiß nicht genau, was geschehen ist. Aber einen Tag später hat Rowilan ihn vor Behlenos angeklagt, dass er versucht habe, ihn zu töten. Mein Vater hat die Anklage nicht abgestritten. Vor niemandem. Behlenos muss wohl Angst vor noch mehr Aufsehen und Unruhe gehabt haben, denn er und der Rat haben ihn nicht zum Tode verurteilt, sondern stattdessen aus dem Dorf gejagt. Wahrscheinlich ist er tot, wir haben nie wieder etwas von ihm gehört.“
Aigonn hatte gesprochen, als wäre er nicht anwesend gewesen. Erst jetzt, als sein Geist wieder Notiz von Moribe nahm, die keine fünf Fuß weit von ihm entfernt saß, stockte er und schwieg einen langen Moment. Dann fügte er hinzu: „Nachdem mein Vater verschwunden war, hat meine Mutter den Verstand verloren. Den Tod meiner Schwester hat sie nicht verkraftet, und heute spricht sie mit niemandem mehr, nimmt keinen in ihrer Gegenwart wahr. Schon andere Schamanen außer Rowilan haben versucht, ihr zu helfen, aber es hat nichts genutzt. So wie sie heute ist, wird sie wohl bis an ihr Lebensende bleiben.“
Der Zorn loderte in ihm. Auf einmal konnte er gar nicht mehr verstehen, warum ihn all dies so spät erst ereilte. Vielleicht war er zu lange weggelaufen. Vielleicht hatte sein Unterbewusstsein warten wollen, bis er bereit sein würde, seiner Schwester, seiner Mutter und seinem Vater die Gerechtigkeit zu bringen, die ihnen verwehrt worden war. Ja, vielleicht war es nun an der Zeit. Ein gefährliches Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Aigonn umfasste und rieb sich immer wieder die Hände, als könnte er sie nie wieder still halten. Gerechtigkeit. Es war das erste Mal seit so vielen Jahren, dass ein Hauch der Genugtuung in seinem Geist aufflammte – Genugtuung im Gedanken daran, was er tun konnte. Zu was er nun in der Lage war. Als Aigonn geradeaus auf die gegenüberliegende Hauswand sah, erkannte er dort für einen Herzschlag ein nicht identifizierbares Wesen – unwirklich wie eine schwarze Nebelwolke, aber da, klein wie ein Kind. Sah man lange genug hin, konnte man sich die Umrisse eines Menschen einbilden. Diesmal verspürte Aigonn nur einen kurzen Schreck, keine Angst. Er wusste, dass er diesem Wesen nicht das erste Mal begegnete. Doch dieses Mal ging von ihm keine Bedrohung aus. Vielmehr schien es, als spiegelte sich in dieser Gestalt dasselbe Lächeln, das noch immer unbewegt auf Aigonns Lippen ausharrte.
Als die junge Frau Aigonns starren Blick bemerkte, neigte sie sich ein Stück in seine Richtung und versuchte zu sehen, was er sah. In diesem Moment verschwand das Wesen. Aigonn schien wie aus einem Schlaf zu erwachen, schüttelte sich kurz, bevor er seinen Blick abwandte und die junge Frau ansah. Deren Gesicht verriet, dass sie nicht wusste, was sie von all dem halten sollte. Misstrauen und ein Funke Unsicherheit verbargen sich in ihren Augen, während sie überlegte, was es nun zu sagen gab.
Einen Moment lang herrschte Schweigen, bis sie endlich wagte zu fragen: „Glaubst du, dass deiner Schwester dasselbe widerfahren ist wie diesem toten jungen Mann auf dem Marktplatz?“
„Ja.“ Mehr konnte Aigonn dazu nicht sagen. Seine Gedanken kreisten noch immer um die Möglichkeiten, die sich ihm plötzlich aufgetan hatten. Unfreiwillig musste er sich wieder von ihnen abwenden, als er die junge Frau neben sich leicht hin und her rutschen hörte. Schließlich fragte er: „Was willst du jetzt tun?“
„Im Moment können wir nicht herausfinden, was diesem jungen Mann zugestoßen ist, aber …“
„Aber was?“
„Wenn du mir helfen würdest, bliebe uns eine Möglichkeit. Ich muss nur sagen, ich weiß nicht, ob es gelingen wird. Du hast niemals eine Ausbildung erhalten. Das, was ich vorhabe, könnte schwer für dich werden.“
„Um was geht es?“
„Es ist … Inwieweit lehrt man euch über Tod und Wiedergeburt?“
Aigonn zuckte mit den Schultern. „Wenn wir sterben, gelangt die Seele in die Andere Welt. Sobald sie bereit ist, wird sie in einem neuen Körper wiedergeboren. Das ist es, was ich weiß.“
Die junge Frau schürzte die Lippen. Aigonn konnte erkennen, dass sie mit dieser Antwort unzufrieden war.
„Das mag stimmen. Aber es gibt noch mehr. Hast du schon einmal davon gehört, dass Erinnerungen an Orten zurückbleiben können?“
Aigonn hob nur fragend die Augenbrauen.
„Nun …, ich wurde gelehrt, dass jedes sterbliche Wesen eine Spur an dem Ort hinterlässt, wo es gelebt hat oder vielleicht nur einmal gewesen ist. Wichtige, schwerwiegende Ereignisse beispielsweise hinterlassen eine Art … ‚Abdruck‘ dort, wo sie stattgefunden haben. Das ist der Grund, warum noch Generationen nach einem Krieg oder einer Schlacht Nachfahren von Kriegern dasselbe Grauen spüren wie ihre Ahnen, wenn sie einen Ort betreten – auch wenn sie nichts über dieses Schlachtfeld wissen.“
Die junge Frau hielt kurz inne, um zu prüfen, ob Aigonn ihren Worten noch folgte. Dieser lauschte schweigend, weshalb sie fortfuhr: „Dasselbe gilt für Menschen. Wenn eine Person wiedergeboren wird, kann sie sich meist kaum mehr an ihr vergangenes Leben erinnern. In der Regel bleibt Wissen wie eine Art Instinkt erhalten, aber am seltensten behält man sich die persönlichen Erinnerungen, Namen, Gefühle, dergleichen. Wie viel erhalten bleibt, ist von der Person selbst abhängig. Ein Greis, der sein Lebensende nahen spürt und sich lange auf seinen Tod vorbereitet, kann viele Erinnerungen mit sich nehmen. Jemand aber, der plötzlich stirbt, wird sich im nächsten Leben an wenig erinnern. Die Bilder, die er zurückgelassen hat, bleiben entweder am Ort seines Todes oder in seinem Körper.“
„Was hilft uns das?“ Aigonn wusste nicht recht, was die junge Frau ihm sagen wollte.
„Ich habe … einmal gelernt, diese verlorenen Erinnerungen zu finden. Der junge Mann wird nicht viel mit in die Andere Welt genommen haben. Vielleicht … können wir sehen, wie er gestorben ist.“
Aigonn