Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle. Astrid Rauner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Astrid Rauner
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия: Von keltischer Götterdämmerung
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783862827732
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der Menge nach draußen folgte. Sie fühlte Aehrels Blick in ihrem Rücken; in seinen Augen hatte zuletzt ein Ausdruck gelegen, den sie nicht recht hatte deuten können. Aber sie beschloss, die unzähligen Fragen, die diesem Moment anhafteten, beiseite zu schieben und sich zuerst darauf zu konzentrieren, was viel wichtiger war.

      Vom Sterben

      Gemischte Gefühle stiegen in Aigonn auf, als er Behlenos davoneilen sah. Er wusste nicht, was er davon halten sollte, von dem Toten. Während sich seine Gedanken mit ganz elementaren Fragen beschäftigten, stieg immer wieder ein namenloses Gefühl in ihm auf – eine Angst, Bedrückung, was auch immer es war. Er wünschte sich, dass er sich davon befreien könnte, doch es war zwecklos.

      Auf einmal fasste eine Hand nach seinem Arm. Die Menge der Schaulustigen hatte sich gelichtet, sodass niemand bemerkte, wie die junge Frau zu ihm sagte: „Komm mit mir!“ Dann zog sie ihn, ohne auf eine Entgegnung zu warten, hinter sich her in den Schatten zweier Ställe.

      Aigonn wusste nicht, ob er erstaunt oder erschrocken sein sollte, als er den Augen der jungen Frau begegnete. Ganz gleich, ob es Lhenias Körper gewesen war, er hatte dem toten Mädchen gegenüber noch nie so fremd gewirkt wie in diesem Moment. Erkennen, erschrockene Klarheit hatte sich in die Zügen der jungen Frau eingebrannt, und er hörte es an ihrer Stimme, als sie sagte: „Das ist es!“

      „Was?“

      „Dieser Tote. Er ist es, warum ich da bin.“

      Aigonn stutzte einen Moment, auch wenn er diese Nachricht längst erahnt hatte. Schon in dem Augenblick, als er die junge Frau vor der Leiche hatte stehen sehen, war ihm klar geworden, dass sie etwas erfahren hatte, was außer ihr niemand sonst wusste. Antworten!, schrie es in Aigonns Kopf. Jetzt gibt es Antworten!

      „Woher weißt du es?“, fragte er sie.

      „Ich habe es gesehen. Ich kann dem, was ihm widerfahren ist, keinen Namen geben. Aber als ich sein Gesicht gesehen habe, habe ich mich erinnert – an ein Gefühl. An ein abscheuliches Gefühl. Es schien, als ob ich gefühlt hätte, was er gefühlt hat.“

      „Glaubst du wirklich, dass er sich selbst getötet hat?“

      „Ja“, antwortete sie mit Bestimmtheit. „Ich bin sicher. Es steckt etwas dahinter. Ich kann dir nicht sagen, was es ist. Aber das muss es sein. Das, weshalb ich hier bin.“

      Auf einmal bremste sich ihre Aufregung. Ihr Blick erforschte Aigonns Miene und ließ sie sich daran erinnern, was ihr aufgefallen war. „Aber du! Du weißt auch mehr als alle anderen. Es hat einen Grund, warum die Nebelfrau ausgerechnet dich ausgeschickt hat, um nach mir zu suchen. Und ich glaube, es hängt damit zusammen, was du weißt. Auch du hast dich an etwas erinnert, als du ihn gesehen hast. Was war es?“

      Aigonn erstarrte. Die Schatten, die ihn seit diesem Morgen verfolgten, hatten in jenem Moment seine Abwehr überwunden und umarmten ihn mit all der Grausamkeit, vor der er zu fliehen versuchte. Bilder zuckten vor seinen Augen umher. Er wusste genau, was die junge Frau meinte und es graute ihm davor, dass es nun an der Zeit war, der Vergangenheit wiederzubegegnen.

      „Wir sollten uns einen Ort suchen, an dem wir wirklich vor unliebsamen Zuhörern geschützt sind.“

      „Ich folge dir.“

      Aigonn führte die junge Frau durch das Dorf in Richtung seines Elternhauses. Als sie am Marktplatz vorbeikamen, mied er den Anblick der verzweifelten Gestalt, die selbst im Tod keine Ruhe gefunden hatte. Er flüchtete sich durch die Tür in das stickige Halbdunkel und begrüßte Efoh, der gerade ein einseitiges Gespräch mit ihrer Mutter führte: „Efoh, würdest du uns kurz allein lassen?“

      Efoh verharrte kurz, blickte von Aigonn zu der jungen Frau und wieder zurück, bevor er entgegnete: „Sind deine Geheimnisse doch so groß und wichtig, dass du sie nicht mit mir teilen willst?“

      „Sie sind es. Es tut mir leid, aber diesmal … ist es nicht für dich gedacht, was wir besprechen müssen. Würdest du gehen?“

      Aigonn traf der stumme Blick seines Bruders. Er spürte, dass er Efoh in diesem Moment mehr enttäuscht hatte, als er es bislang vermutete. Doch als sein Bruder das Haus verließ, gab Aigonn sich zufrieden und bot der jungen Frau einen Sitzplatz auf den Fellen am Herdfeuer an.

      Moribe webte leise summend an dem Stück Stoff, das wohl niemals fertig werden würde. Aigonn hatte sie einmal dabei beobachtet, wie sie die Fäden wieder aus dem Rahmen herausgezogen hatte, kurz bevor sie ihr Werk beendet hätte. Der Stoff zuvor, den sie fertig aus dem Rahmen gelöst hatte, war dem Herdfeuer zum Opfer gefallen.

      „Möchtest du etwas essen oder trinken?“

      „Nein.“ Der Ton der jungen Frau verriet, dass sie endlich zur Sache kommen wollte. „Nun erzähl!“

      Aigonn atmete tief ein, als er sich neben sie ans Feuer setzte. Kurz huschte sein Blick zu seiner Mutter, als ob sie ihm helfen könnte, diese Bürde zu tragen. Denn immerhin war sie dabei gewesen, als geschehen war, was er nun erzählen würde. Doch Moribe nahm von ihrem Sohn keine Notiz, auch nicht von der fremden Frau. Sie blieb ein Teil ihrer eigenen Welt. Nichts sonst.

      „Meine Schwester Derona ist eine Schülerin unseres Schamanen gewesen. Sie war sehr viel älter als ich. Ich kann dir nicht sagen, worin genau ihre Talente bestanden, doch Rowilan hat sehr viel in ihr gesehen. Und obwohl es nicht üblich ist, hat er sie kaum nach Abschluss seiner eigenen Ausbildung in die Lehre genommen.“

      Aigonn sah die junge Frau nicht an. Er starrte auf die ausgeglühten Holzscheite der Feuerstelle, als ob er die Flammen damit wieder entzünden könnte.

      „Ich glaube, Rowilan war in Derona verliebt. Vielleicht wollte er sie deshalb so schnell an sich binden. Sie hat ihn nicht unattraktiv gefunden. Genau kann ich es nicht einschätzen, es ist sehr lange her. Jedenfalls hat er gehofft, irgendetwas mit oder durch Derona zu erreichen. Er ist damals noch sehr ehrgeizig gewesen. Was es war, das brauchst du mich nicht fragen. Aber Derona war zu Dingen in der Lage, die er nicht beherrscht hat. Deshalb hat er sie gebraucht. Ich kenne nicht genügend Details …“

      „Was ist geschehen?“, fiel die junge Frau Aigonn ins Wort. Sie schien zu spüren, dass er schon wieder vor dem relevanten Geschehen zu flüchten versuchte. Doch sie wollte es nicht zulassen. Ungewollt begann seine Stimme zu zittern:

      „Wie gesagt, ich weiß nicht, was sie getan oder versucht haben. Aber Derona hat es nicht verkraftet. Sie ist mit der Zeit immer verstörter geworden, hat sich verfolgt gefühlt. Rowilan hat es nicht ernst genug genommen oder nicht verstanden. Jedenfalls … eines Tages … ist sie zum Abend hin verschwunden. Sie muss mit meiner Mutter vorher über ihre Ängste gesprochen haben, sonst hätte sie nicht gewusst, wo sie suchen musste.“

      In diesem Moment verließ Aigonn die Gegenwart. Er kehrte zurück in jene sternenlose Nacht, zum Grab der Götter, sah seine Mutter mit der Fackel vorauseilen.

      „Wir haben Derona beim Grab der Götter gefunden – dort, wo ich dich gefunden habe. Ich bin dabei gewesen. Wir waren zu spät, um sie aufzuhalten. Ich glaube …“ Die letzten Worte sprach er nicht aus. … diese Bilder werden mich bis ans Ende meines Lebens verfolgen.

      „Aigonn!“ Die junge Frau sah ihn an, fast fürsorglich.

      „Sie hat sich von einem der Felsen gestürzt.“ Zwei tote Augen sahen zu ihm auf. Augen, denen dieselbe Verzweiflung innelag, wie sie der Leiche auf dem Marktplatz anhaftete.

      Die junge Frau fragte nicht weiter. Sie verstand, was diese Botschaft für sie beide bedeutete. Vorsichtig hakte sie nach: „Du warst dabei?“

      „Ja.“ Aigonn konnte nicht sagen, wer für ihn redete. Sein Körper war nur noch eine lebende Hülle. Sein Geist wurde von einem unsichtbaren Sog in der Vergangenheit gehalten, dem er sich nicht entziehen konnte. Tote Augen. Die Verzweiflung schien auf ihn überzugreifen. Derona hatte so oft stumm nach Hilfe gerufen, selbst er hatte es damals gesehen.

      Warum hatte seine Mutter nicht früher vorausgeahnt, was kommen würde? Im Grunde war er sich sicher, dass sie damit gerechnet hatte.