„Ein wenig schon, sie waren sehr lustig …“
Faolán verfiel in ein nachdenkliches Schweigen. Der Mönch wollte gerade nach dem Grund fragen, als sich zwei Personen unter dem Baldachin ihres Standes einfanden. Bruder Ivo erhob sich und Faolán erkannte sogleich die beiden Markthüter, die vor zwei Wochen bereits für Ärger gesorgt hatten. Das breite Grinsen auf den Gesichtern der Männer zeigte, dass sie sich ebenfalls daran erinnerten. Der Cellerar runzelte die Stirn, sprach jedoch mit neutraler, ja nahezu freundlich gefasster Stimme die Männer an.
„Bitte die Herren, was ist Euer Begehr?“
Der Anführer reagierte nicht. Er würdigte den Cellerar noch nicht einmal eines Blickes. Stattdessen flogen seine Blicke über die Klosterwaren. Schließlich quälten sich langsam ein paar krächzende Worte über seine spröden Lippen: „Mönchlein, findest du nicht auch, dass es heute unerträglich heiß ist? Ist es nicht unmenschlich, in dieser Rüstung unter der glühenden Sonne deines Gottes wandeln zu müssen? Und das nur, um deine Waren zu schützen!“
Bruder Ivo versuchte die Blasphemie zu ignorieren und antwortete nicht. Mit einem unverschämten Grinsen fuhr der Recke fort: „Ich glaube, wir haben uns eine Erfrischung redlich verdient! Meinst du nicht auch, Mönchlein?“
Wie beim vergangenen Mal wurde auch jetzt ein Dolch gezückt. Der fand sein Ziel erneut im Apfelfass und der Rädelsführer fischte erst eine Frucht für seinen Kameraden, anschließend eine weitere für sich selbst heraus. Der zweite Marktknecht nahm das Obst gierig entgegen, doch anstatt hineinzubeißen, begann er mit ihm zu spielen. Immer wieder warf er den Apfel hinter seinem Rücken geübt in die Luft und fing ihn auf. Faolán stand an der Seite des Wagens und beobachtete alles genau. Er fragte sich, ob die Wachmänner und der zornige Cellerar auf eine handfeste Auseinandersetzung zusteuerten.
Noch bevor Faolán weiter darüber nachdenken konnte, bemerkte er etwas Rotes am Rande seines Blickfeldes. Der Novize wusste sofort, dass es sich um den kurz geschorenen Schopf jenes Mädchens handelte! Sie näherte sich den beiden Markthütern heimlich von hinten. Die Augen des Mädchens, die Faolán vor zwei Wochen so fasziniert hatten, zogen wieder seine Blicke an. Sie funkelten regelrecht vor Aufregung. Doch das Wiedersehen war nicht der Grund, bemerkte Faolán mit Enttäuschung. Es war der Glanz der Vorfreude und Anspannung, der sich in ihren Augen zeigte. Verschwörerisch lächelte sie Faolán zu und hob einen Zeigefinger an ihre Lippen. Niemand außer Faolán schien sie dabei zu beobachten. Als das Mädchen dicht hinter dem Krieger stand, der mit dem Apfel spielte, war Faolán klar, dass dies alles andere als ein harmloser Spaß war. Entsetzen packte ihn, als er sich ausmalte, was die beiden ungehobelten Kerle mit dem Mädchen anstellen würden, sollte ihr jetzt ein Fehler unterlaufen.
Trotz der Hitze des Tages zog sich die Rothaarige die Kapuze ihres zerschlissenen Umhangs tief ins Gesicht. Hinter dem Recken stehend, beobachtete sie kurz das Spiel mit dem Apfel. Ihre Augen folgten dem Auf und Ab der Frucht exakt, als wolle sie sich dem Rhythmus anpassen. Langsam reckten sich ihre Hände mit gespreizten Fingern nach vorne und warteten geduldig.
Dann ging alles blitzartig. Die kleine Hand schnellte vor und erfasste den Apfel mit sicherem Griff, als dieser gerade die Hand des Recken verließ. Ebenso schnell wandte sich das Mädchen um und rannte in die Menschenmenge. Sie befand sich bereits mitten in der Menge, als der Bestohlene bemerkte, dass der Apfel nicht wiederkehrte. Verdutzt blickte er zunächst auf den Boden hinter sich und war überrascht, ihn dort nicht vorzufinden. Als er stattdessen eine hastige Bewegung in der Menge sah, kombinierte er schnell: Er war bestohlen worden!
„Diese kleine Kröte …!“ Mehr gab er nicht von sich, sondern setzte sofort dem Mädchen nach. Sein Kamerad und der Cellerar starrten ihm nach. Der Rädelsführer begriff nun auch, was geschehen war, vergaß seine bisherige Absicht und machte sich ebenfalls an die Verfolgung. Mit schweren Stiefeln bahnten sich die Marktknechte ihren Weg über den staubigen, mit Stroh bedeckten Marktboden. Doch die flinken, nackten Füße des Mädchens waren um einiges schneller. Die Diebin war längst nicht mehr zu sehen. Mit lauten Flüchen drängten die Wächter durch die Menschenmassen – mit mäßigem Erfolg. Es hatte nicht den Anschein, als würden die Marktgänger ihnen bereitwillig Platz machen. Einige Umstehende hatten die Tat immerhin mitverfolgt, ohne das Mädchen zurückzuhalten. Im Augenblick zählte einzig ihre Schadenfreude.
Ebenso hielt es Bruder Ivo. Als Cellerar und Novize wieder unter sich waren, brach er in schallendes Gelächter aus. Faolán ließ sich von der Heiterkeit anstecken. Nach einer Weile kam der Mönch wieder zu Atem. Gut gelaunt meinte er: „Das nächste Mal werde ich diesem Bengel höchstpersönlich den besten Apfel schenken. Möge Gott seine Flucht segnen. Amen.“
Faolán konnte nicht verstehen, dass Ivo für einen Dieb um den Segen des Herrn bat. Mit einem Mal schoss ihm eine Frage durch den Kopf: „Was geschieht, wenn der Dieb erwischt wird?“
„Mach dir mal darüber keine allzu großen Sorgen“, beruhigte der Cellerar Faolán, während er seinen Hals reckte. „Ich glaube kaum, dass sie ihn erwischen. Er scheint flinker und geschickter zu sein als die beiden trägen Kerle und wird daher auch in dem Gewimmel des Marktes entkommen. Dessen bin ich mir sicher.“
Daraufhin wandte sich der Mönch wieder Faolán zu.
„Komm’, lass uns den Wagen beladen. Wir sollten jetzt besser aufbrechen. Sonst kommen diese beiden Rüpel nach erfolgloser Hatz zurück, um erneut ihr Spielchen mit uns zu treiben.“
Der Tag war mühselig und sehr heiß gewesen, und so hatte Faolán nichts gegen eine frühe Abreise. Während des Packens nutzte er die Gelegenheit, immer wieder vom Wagen aus nach dem flüchtenden Rotschopf Ausschau zu halten. Er hoffte, das Mädchen noch einmal zu sehen.
Nur wenig später war der Wagen wieder auf den Rückweg zur Abtei und ließ Trubel, Lärm, Gestank und Staub der kleinen Stadt hinter sich. Alsbald fuhr der Klosterwagen auf dem Weg durch den Wald dahin.
Ivo und Faolán schwiegen. Trotz des Schattens der Bäume war die Luft selbst hier stickig und heiß. Die Sonne stand hoch und die Fahrt entwickelte sich für Mensch und Tier zu einer Qual. Der beleibte Kellermeister schwitzte bald so stark, dass sich unter den Achselhöhlen und auf dem Rücken seines Habits feuchte Flecken zeigten. Der Atem des Mönches ging schwer und immer wieder fächerte Ivo sich mit der flachen Hand frische Luft zu.
Schließlich konnte der Cellerar die Hitze nicht mehr ertragen. Er stoppte den Wagen an einer schattigen Stelle. Ungelenk stieg er ab und gebot Faolán mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. Für Worte fehlte ihm der Atem. Nach kurzer Suche reichte Ivo seinem Gehilfen zwei Wasserschläuche aus Ziegenleder.
„In der Nähe … befindet sich … eine Quelle …“, gab er Faolán kurzatmig zu verstehen. „… wenn ich mich recht erinnere … Geh’ durch das Unterholz … hier am Wegesrand. Nach einigen Baumreihen stößt du … auf einen Pfad. Er führt nach Osten … bis zu einem kleinen Bachlauf. Folge ihm, bis zu seiner Quelle … Dort kannst du die Schläuche füllen.“
Der Novize nahm die Wasserschläuche entgegen und zog dann einen langen Gehstab aus dem Wagen. Der sollte ihm auf dem Weg durch das Unterholz behilflich sein. Bruder Ivo hatte sich bereits im Schatten der Bäume niedergelassen, als Faolán im Blattwerk verschwand.
Schon nach kurzer Zeit befand er sich auf dem beschriebenen Pfad. Dort entdeckte er einige Tierspuren, jedoch keine menschlichen Fußabdrücke. Das schloss allerdings nicht aus, dass dieser Pfad nicht auch von Geächteten und Wegelagerern benutzt wurde. Faolán wurde es mulmig. Möglichst leise schritt er auf dem Pfad voran, bis er nach einer Weile das sanfte Gurgeln eines Wasserlaufes vernahm. Wenige Augenblicke später konnte er durch das Blattwerk eine Lichtung ausmachen.
Plötzlich vernahm Faolán ein Kreischen und ein lautes Platschen, als sei jemand ins Wasser gestürzt. Er eilte weiter und blieb dann am Rande der Lichtung hinter einem Strauch stehen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Vor ihm fiel das Erdreich einige Ellen steil ab und endete