Die Blicke der Opfer bekundeten Missfallen, doch nicht einer wagte, gegen diese Ungerechtigkeit aufzubegehren. Sie ließen es geschehen und beteten darum, nicht allzu schnell erneut Opfer dieser Willkür zu werden.
Immer wieder schnappte Faolán die eine oder andere Beschwerde über die Markthüter auf, die allerdings nur geflüstert wurde, dass er nie ausmachen konnte, wer sie geäußert hatte. Hier und da wurden auch die guten alten Zeiten vor Ruriks Herrschaft erwähnt. Unter dem alten Grafen, so hieß es, wäre alles besser gewesen, und mancher fragte sich, wie es wohl seinem Sohn ergangen sein mochte. Auf diese Frage hatte allerdings niemand eine Antwort und Faolán wusste nicht so recht, was er von diesen Reden halten sollte. Aber was kümmerten ihn die Belange um einen irdischen Fürsten? Schließlich war er in einem Kloster zu Hause. So ignorierte er mit der Zeit das Gerede um die Markthüter und setzte seinen Weg fort.
Nach einiger Zeit fiel Faolán etwas anderes auf. Er konnte nicht genau erkennen, was es war, denn es tauchte immer nur kurz am Rande seines Blickfeldes auf. Sobald er es näher in Augenschein nehmen wollte, war es auf sonderbare Weise wieder verschwunden, als wolle es sich ihm entziehen. Einzig eine Farbe konnte er ausmachen: ein bemerkenswertes Rot. Faolán versuchte, ihm zu folgen.
Trotz seiner Bemühungen, es zu finden, blieb er erfolglos. Nach einer Weile beschloss er, zu Bruder Ivo zurückzukehren. Doch plötzlich erschien dieses Rot direkt vor seiner Nase. Erst jetzt konnte der Novize feststellen, dass es sich dabei um den zerzausten, kurzhaarigen, roten Schopf eines Jungen handelte, der etwa in seinem Alter sein mochte.
Faolán blieb wie angewurzelt stehen, denn er wäre beinahe mit diesem Jungen zusammengestoßen, so plötzlich war er vor ihm aufgetaucht. Die unglaubliche Farbe des Haares zog ihn in seinen Bann. Ein solches Rot hatte er noch nie gesehen. Mit jeder Bewegung des Kopfes schimmerte das Haar in einer anderen Nuance. Die Sonnenstrahlen erweckten es regelrecht zum Leben. Erschien das Haar eben noch als dunkles Orange, so besaß es im nächsten Augenblick schon die Farbe von Kastanien, nur um kurz darauf wie Feuer zu lodern. Fasziniert betrachte Faolán regungslos dieses einmalige Farbenspiel.
Erst als er eine Stimme vernahm, die ihn ansprach, fand er in die Wirklichkeit zurück: „Wenn du nicht willst, dass alle Welt sehen kann, was sie dir im Kloster das letzte Mal zu essen gegeben haben, solltest du mich mit geschlossenem Mund weiter angaffen.“
Langsam schloss sich der Mund des Novizen. Weshalb sich Faolán dabei wie ein Narr vorkam, verstand er ebenso wenig wie die Hitze, die in ihm aufstieg. Der warme Tonfall in der Stimme verriet ihm, dass es sich bei dem vermeintlichen Jungen in Wahrheit um ein Mädchen handelte, obwohl die kurz geschorenen Haare, das geflickte Hemd, die weite Hose sowie die freche Körperhaltung eigentlich auf einen Knaben von kleinem Wuchs hingedeutet hatten.
Faolán erwiderte den Blick. Wie bei dem roten Haar schien es ihm unmöglich, den Augen eine eindeutige Farbe zuzuordnen. Sie glichen einem dunklen Brunnen, dessen tiefes Wasser von Grau zu Grün wechselte. Je länger der Novize in diese Tiefe blickte, umso schwerer fiel es ihm, sich ihr zu entziehen. Als hätte jemand einen Zauber über Faolán ausgesprochen, starrte er gebannt in das Schwarz der großen Pupillen. Wer war dieses Mädchen, das solch eine merkwürdige Macht über ihn besaß?
Der Rotschopf ließ ihm keine Zeit, darüber Klarheit zu erlangen. Genüsslich biss das Mädchen mit einem frechen Grinsen in einen Apfel, dass der Saft in Faoláns Gesicht spritzte. Er war sich sicher, dass sie das Obst nicht rechtmäßig erworben hatte, ärmlich wie sie aussah. Sie kaute das Diebesgut mit halboffenem Munde und grinste dabei unentwegt. Fragend neigte sie den Kopf zur Seite.
„Dein Mönch wartet sicherlich schon auf dich. Solltest du hier noch Wurzeln schlagen, so wird er eine Axt erstehen müssen, um dich wieder mit in euer Kloster nehmen zu können.“
Obwohl Faolán darauf etwas zu erwidern versuchte, fand er keine Worte. Das Mädchen erwartete wohl auch keine Antwort, nickte einmal kurz zum Gruß und machte sich davon. Sie schlug zwei, drei flinke Haken und war ebenso plötzlich verschwunden, wie sie aufgetaucht war. Das rote Haar und die abgrundtiefen Augen waren mit einem Mal verloren und Faolán schien es, als hätten sie alle Farben dieser Welt mit sich genommen.
Verwirrt schüttelte der Novize den Kopf, als wolle er die Farben des Lebens wieder zurückholen und zugleich das Mädchen leugnen. Geistesabwesend wischte er sich den Saft des Apfels aus dem Gesicht. Das verschaffte ihm Gewissheit: Sie war kein Trugbild gewesen, dem er erlegen war. Langsam holten die Menschen Faolán wieder in die Wirklichkeit zurück, und der Lärm des Marktes füllte seinen Schädel mit einer Wucht, die ihn taumeln ließ. Der grobe Stoß eines Markthüters setzte Faolán schließlich wieder in Bewegung, dass er leicht benommen zum Klosterstand zurücklief.
Dort fand er den Kellermeister aufgebracht und hitzig vor. Als der Mönch seinen Gehilfen erblickte, sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus. „Wenn ich diesen Rotschopf erwische! Dieser Bengel hat doch tatsächlich einen unserer schönsten Äpfel gestohlen! Hätte ich mich doch nur nicht ablenken lassen … Hast du etwas gesehen?“
Faolán überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf. Natürlich hatte er nichts dergleichen beobachtet, ahnte aber wohl, wen der Cellerar des Diebstahls bezichtigte. Er spürte, wie sich ein verräterisches Schmunzeln auf seine Lippen schlich und versuchte, es zu unterdrücken.
Noch bevor der Cellerar weitersprechen konnte, erschienen zwei der berüchtigten Markthüter in der Nähe des Klosterwagens. Bruder Ivo hielt es für angebracht, kein weiteres Aufsehen zu erregen. Schweigsam folgte er den Recken mit den Augen, während er still ein Stoßgebet gen Himmel sandte.
Doch die Bewaffneten blieben vor dem Wagen stehen. Ivo richtete sich auf und trat schützend vor seinen Gehilfen. Gespielt höflich sprach er die Krieger an: „Wie kann ich den Herren behilflich sein?“
Die Frage wurde ignoriert. Die Blicke der Markthüter überflogen die angebotenen Güter, schienen jedoch nichts zu ihrer Zufriedenheit zu finden. Schließlich zog einer der beiden seinen Dolch, stach einmal in das Apfelfass und warf die Beute seinem Kameraden zu. Dann stach er noch ein zweites Mal hinein. Kritisch prüfend hielt er die Frucht vor seine Augen und drehte sie langsam. Ivo wurde ungehalten und versuchte etwas zu sagen, fand jedoch keine Worte.
Der Recke mit dem Dolch nickte mit dem Kopf und schaute mit einem zufriedenen, spöttischen Grinsen auf den sprachlosen Mönch herab. „Beruhig’ dich wieder und betrachte es als eine Kontrolle.“
Diese Frechheit brachte Ivo wieder zum Sprechen. „Und was ist, wenn ich es als Diebstahl bezeichne?“
„Vorsicht, Mönchlein!“ Die Klinge mit dem Apfel neigte sich nach vorne und tippte bedrohlich gegen Ivos Kinn. „Achte auf deine Worte. Achte vor allem darauf, an wen du sie richtest. Sie könnten nur allzu leicht als Anklage missverstanden werden.“
Die Drohung beeindruckte den Cellerar nicht im Geringsten. „Was heißt hier missverstanden? Vor dem Antlitz des Herrn gibt es in dieser Angelegenheit nichts misszuverstehen!“
„Es ist aber unser irdischer Herr, der über diesen Markt herrscht und nicht dein himmlischer. Gib also Acht und hoffe, dass uns deine Äpfel schmecken. Sollten sie verdorben oder zu sauer sein, werde ich das ganze Fass vom Markt entfernen lassen und euch gleich mit. Was machst du dann?“
„Ihr würdet es nicht wagen …“, hauchte Ivo nahezu tonlos.
„Glaubst du tatsächlich, Mönchlein?“
„Der Herr wird Euch für diese Dreistigkeit bestrafen, seid Euch dessen gewiss!“
Der Bewaffnete kniff die Augen zusammen und lehnte sich leicht nach vorne. Der säuerliche, nach Wein stinkende Atem schlug dem Benediktiner ins Gesicht, dass er am liebsten zurückgewichen wäre. Doch Ivo hielt stand, während er die ruhigen Worte des Recken vernahm: