Obwohl Bruder Ivo nicht gerade in bester Laune für Fragen war, konnte Faolán dennoch eine weitere nicht zurückhalten.
„Was ist, wenn die Regularien in manchem Bezug keinen Sinn ergeben?“
Abrupt zog Bruder Ivo die Zügel an und brachte den Wagen zum Stehen. Faolán wusste, dass er seine Grenzen überschritten hatte, doch es war zu spät. Streng blickte der Cellerar seinen Gehilfen an. Seine Stimme zitterte leicht und Faolán spürte förmlich die Anspannung des Mönches.
„Ist es bereits so weit? Es gehört sicherlich nicht zu deinen Aufgaben die Regularien unserer Gemeinschaft in Frage zu stellen. Weder hast du bis jetzt die notwendige Weisheit dazu erlangt, noch die entsprechende Stellung hierfür. Wäre ich nicht der, den du kennst, und würde ich dich nicht besser kennen, als du dich selbst, so würde ich dich unverzüglich zum Abt bringen. Deine Äußerungen könnten dir in Gegenwart anderer sehr leicht zum Verhängnis werden. Es ist eine ungeheuerliche Anmaßung, den heiligen Benedikt und seine Regeln in Frage zu stellen.“
Nachdem sich der Mönch vergewissert hatte, dass sein Schützling ihn richtig verstanden hatte, trieb er das Pferd an und der Wagen setzte sich wieder in Bewegung. Nach langem Schweigen wagte Faolán doch noch eine Frage:
„Wie habt Ihr das gemeint, Meister, dass Ihr mich besser kennt als ich mich selbst?“
Der Mönch wurde plötzlich verlegen. Sein Gehilfe kannte ihn gut genug um zu erkennen, dass er nach einer ausweichenden Antwort suchte. Instinktiv wusste Faolán, dass hinter der Bemerkung mehr stecken musste als eine Floskel.
„Nun ja …“, begann der Cellerar zögernd. „Immerhin arbeitest du schon seit einigen Jahren unter meinem Amt und da kenne ich dich eben besonders gut. Und ich kenne dich in mancher Hinsicht sogar besser als du dich selbst. Das denke ich zumindest.“
Faolán nickte und ließ es dabei bewenden, auch wenn er mit der Antwort nicht zufrieden war. Der Kellermeister war darüber sichtlich erleichtert. Die Gedanken des Novizen blieben jedoch rastlos, suchten nach dem, was Bruder Ivo tatsächlich über ihn zu wissen glaubte. Diese Neugier behielt Faolán allerdings für sich, wohl wissend, von Bruder Ivo heute keine bessere Antwort zu erhalten. So fuhren sie weiter, schweigend und nachdenklich, ein jeder für sich.
Zurück im Kloster, wies der Kellermeister seinen Gehilfen an, die Waren zu entladen, das Pferd abzuschirren und in den Stall zu bringen. Obwohl letzteres nicht zu Faoláns Aufgabenbereich gehörte, hielt der Mönch ihn damit für längere Zeit beschäftigt, um seinen eigenen Absichten in Ruhe nachgehen zu können.
In Gedanken versunken eilte Bruder Ivo zu den Räumlichkeiten des Abtes. Dort schilderte er seinem Freund die Vorkommnisse auf dem Markt, die Rast im Wald und das seltsame Gespräch mit Faolán auf der Rückfahrt. Bruder Ivos Besorgnis war unverkennbar. Am Ende fielen seine Worte ähnlich hart aus wie schon Faolán gegenüber.
Degenar versuchte Ivo zu besänftigen.
„Mein lieber Freund, beruhige dich. Deine Sorge könnte ebenso gut unberechtigt sein. Schließlich hast du nicht das Geringste gesehen, was deine Mutmaßungen bestätigen könnte.“
Ungläubig blickte Ivo den Abt an, als habe er sich verhört. „Verstehst du denn nicht, dass der Junge jemandem begegnet sein muss, der einen nachhaltigen Einfluss auf ihn ausübt? Obwohl es nur kurz gewesen sein kann, wurden ihm aufwühlende Wünsche und Fragen in den Kopf gepflanzt. Nun beginnt er sogar, die Regeln des heiligen Benedikt anzuzweifeln! Das vermag nur der Leibhaftige oder ein Weibsbild zu vollbringen. In Faoláns Fall vermute ich das Zweite.“
Nachdenklich ließ sich der Abt neben den Cellerar auf einer Bank in der Exedra nieder. Er konnte Ivos Bedenken gut nachvollziehen. „Nehmen wir einmal an, deine Vermutungen treffen zu: Was könnte dann schlimmstenfalls geschehen? Dass er die Welt etwas kritischer betrachtet? Das sollte er auch. Wir beide streben doch an, dass sich Faolán eines Tages den Gegebenheiten außerhalb des Klosters stellen kann. War es nicht deine ureigene Idee, den Jungen mit auf den Markt zu nehmen, um ihm neue Perspektiven und Anregungen zu vermitteln? Du hattest Recht mit deinem Vorhaben. Deine Absicht, den Jungen wieder mehr für sein Leben zu begeistern, trägt erste Früchte. Die Fahrten nach Neustatt haben aber noch mehr bewirkt, weil Faolán ein schlauer, aufgeweckter Bursche ist. All die neuen Eindrücke treiben ihn zu neuem Denken an. Darin beweist er sich als echter Sohn des einstigen Grafen.“
„Aber was wird geschehen, wenn ihn die neuen Eindrücke übermütig werden lassen? Wenn er seine neuen Gedanken und Zweifel eines Tages statt uns einem anderen Mönch preisgibt? Sollte der Prior davon erfahren, wird er sich nicht scheuen, den Schützling des Abtes offen zu attackieren.“
„Noch ist dergleichen nicht geschehen. Was aber Frauen angeht, wird auch Faolán früher oder später auf eine treffen, die ihm gefällt. Und er wird nicht der Erste im Kloster sein, dem das widerfährt. Ich muss dich wohl nicht an Elizabeth erinnern. Schließt du sie nicht selbst heute noch in deine Gebete ein?“
Bruder Ivo errötete mit einem Mal. „Ich bitte dich, Degenar. Das ist schon viele Jahre her. Zudem trug sich die Angelegenheit lange vor meinem Mönchsgelübde zu.“
„Genauso verhält es sich bei Faolán.“
„Ich fürchte auch nicht, dass er irgendwann ein Mädchen kennen lernen wird. Vielmehr fürchte ich seine neuen Gedanken, die er heute geäußert hat. Sie sind in meinen Augen sehr beunruhigend und gefährlich.“
„Faolán hat nur ein paar neugierige Fragen gestellt und einige unserer Regeln kritisch betrachtet. Doch welcher kluge, junge Mensch wird die ihm auferlegten Einschränkungen nicht anzweifeln? Wenn du mich fragst, ist diese Kritik sogar Ausdruck von Faoláns Willensstärke und Intelligenz.“
„Aber gerade solche Kritik könnte für ihn gefährlich werden, sollte er sie zur falschen Zeit am falschen Ort äußern!“
„Da stimme ich dir zu. Es darf uns auch nicht egal sein, was er tut und denkt. Wir müssen nur weiterhin ein wachsames Auge auf ihn haben und sollten das zweite ab und an wohlwollend schließen. Ich bin mir sicher, dass Faolán an den Herausforderungen und Erfahrungen in Neustatt nicht scheitern, sondern an ihnen wachsen wird. Früher oder später muss er sich dieser Welt stellen. Dessen sollten wir uns bewusst sein. Wenn wir ihm jetzt nicht die ersten Schritte zutrauen, wie soll er dann später zurecht kommen?“
„Dennoch sorge ich mich um ihn!“ Der Kellermeister dachte über die Worte seines Freundes nach, dann sprach er mit Entschlossenheit weiter. „Du verlangst viel von mir, Degenar! Einfach ein Auge zudrücken, das liegt mir nicht und das weißt du ganz genau. Vielleicht wird es mir aber etwas leichter fallen, wenn du mir im Gegenzug ebenfalls einen Gefallen erweist. Sprich bitte mit Faolán über alles. Erkläre ihm die Situation und die Gefahren, denen er ausgesetzt sein wird. Erläutere ihm auch mögliche Folgen, ohne dabei zu viel preiszugeben.“
Nun war es an Degenar über die Worte seines Freundes nachzudenken. Schließlich nickte er.
„Gut, ich werde noch heute mit ihm sprechen. Allerdings nur, wenn du mir versprichst, dass der nächste Marktgang für Faolán genauso abläuft wie heute, mit allen Privilegien und Freiheiten!“
„Weshalb?“, entfuhr es Ivo entsetzt, während er von der Bank aufsprang und mit großen Augen Degenar fassungslos anstarrte. „Das wird die Lage nur verschlimmern! Sollten wir ihn nicht lieber einschränken?“
„Du bist sein Mentor, vergiss das nicht. Er hält große Stücke auf dich. Wenn du ihm bisherige Privilegien nimmst, so wird er dir bald nicht mehr vertrauen. Sein Vertrauen in uns darf aber nicht erschüttert sein, wenn er sein Erbe einfordern wird. Wenn er dann unsere Führung und unseren Rat abschlägt, wird er wenig Aussicht