Faoláns Neugier wuchs. „Was ist mit diesem Erben geschehen? Weshalb ist er verschollen? Ich habe die Leute auf dem Markt darüber munkeln gehört.“
Bruder Ivo musste jetzt genau aufpassen, dass er seinem Gehilfen nicht zu viel verriet, obwohl es ihm nach den heutigen Vorkommnissen regelrecht auf der Zunge brannte.
„Nun, du kennst wahrscheinlich die Geschichte um das Schicksal des Grafen Farold. Nach seinem Tod beim Überfall auf die Greifburg wäre sein Sohn Rogar der rechtmäßige Erbe gewesen. Doch der ist verschollen. Trotz aller Bemühungen wurde er nicht gefunden, weder tot noch lebendig. Damals war er ein kleiner Junge gewesen und einige wähnen ihn tot. Doch es gibt noch viele, die sich an Farold und seinen Sohn erinnern und insgeheim hoffen, er möge eines Tages auftauchen und sein Recht auf die Grafschaft einfordern. Obwohl Rurik zum Grafen ernannt wurde, könnten gewisse Umstände für das Ende seines Treibens sorgen.“
Faolán verstand nicht. „Ist es nach so langer Zeit nicht eher unwahrscheinlich, dass der Junge überhaupt noch lebt? Würde es denn nicht an ein Wunder grenzen, wenn eines Tages ein Mann erschiene und sich als rechtmäßiger Erben ausgäbe? Und wie könnte er das schon beweisen?“
„Wunder gibt es! Daran solltest gerade du nicht zweifeln. Doch was mit der Grafschaft dann geschehen würde, das vermag ich nicht zu sagen. Wahrscheinlich würde ein Streit über die rechtlichen Ansprüche ausbrechen und am Ende müsste der Kaiser entscheiden. Einfach wäre dies sicherlich nicht, denn wer einmal Macht innehat, der wird sie nicht freiwillig aus der Hand geben. Schon gar nicht Rurik. Allerdings gäbe es ein Beweisstück, das alle Zweifler zum Schweigen bringen könnte: Der Siegelring des Grafen, der mit dem Erben verschollen ist. Wer ihn dem Kaiser vorlegen kann, dürfte der rechtmäßige Erbe sein.“
Faolán dachte nach und nickte dann verständnisvoll. Der Mönch schien erleichtert zu sein, als habe er soeben ein großes Hindernis überwunden, ohne selbst Schaden genommen zu haben. Ivo wusste, wie gefährlich nahe die Erklärung der Wahrheit gekommen war und er hatte keine Ahnung, ob das Gespräch nicht doch Erinnerungen an seine Herkunft in Faolán hervorgerufen hatte.
Mit schlechtem Gewissen wegen seiner eigenen Redseligkeit dachte der Mönch an Degenars Ermahnung, er solle auf Faolán gut aufpassen. Dass Ivo selbst zu einer Gefahr für den Jungen werden könnte, hatte er dabei nicht in Betracht gezogen. Deshalb gelobte er in einem stillen Gebet Besserung.
Doch die Bedenken des Cellerars waren anscheinend unbegründet. Faolán war nicht daran interessiert, über die Belange des rechtmäßigen Grafen weitere Nachforschungen anzustellen. Am nächsten Tag ging er seinen Pflichten wie gewohnt nach, ohne die Angelegenheit ein weiteres Mal anzusprechen. Ivo war darüber sehr erleichtert, nicht zuletzt, weil sein Freund Degenar bei der Beichte wegen seiner Geschwätzigkeit mit Bußauflagen nicht gespart hatte.
Die beiden Mönche mussten sich stets vor Augen halten, dass die Wahrheit für Faolán erhebliche Gefahren in sich barg. Der Junge wäre seines Lebens nicht mehr sicher, selbst in den Hallen des Benediktinerklosters. Durch Faoláns Desinteresse lösten sich all diese Sorgen zunächst von selbst auf, und schon bald waren die Wogen zwischen dem Abt und dem Cellerar wieder geglättet.
* * *
Zwei Wochen später stand der nächste Marktgang an und der Kellermeister hatte keine Bedenken, den Jungen erneut mitzunehmen. Die neuen Erfahrungen hatten Faolán wieder zu dem Novizen werden lassen, der er vor dem Rattenbiss gewesen war. Lediglich die rote Narbe auf seiner linken Wange erinnerte noch an diesen Vorfall. Selbst Faolán dachte nicht mehr oft daran. Nur wenn er das Wundmal berührte, verfiel er kurzzeitig in eine düstere Nachdenklichkeit, die allerdings schnell wieder verflog.
Einen Tag vor dem nächsten Marktgang ließ der Abt Faolán zu sich rufen. Der Novize folgte diesem Ruf rasch, denn nach wie vor schätzte er es, ganz allein mit dem Klosteroberhaupt sein zu dürfen. Heute allerdings kam ihm Degenars Forderung ungelegen: Faolán steckte mitten in den Vorbereitungen für den morgigen Tag. Als er bei den Gemächern des Abtes ankam, klopfte er zaghaft an die Tür und wurde sofort hereingebeten. Unkonzentriert wartete er auf das erste Wort des Abtes, weil er in Gedanken bei den unzähligen Aufgaben weilte, die noch zu erledigen waren.
Als der Abt schließlich zu sprechen begann, überraschte er Faolán mit einer Frage: „Was hat dich in den vergangenen Tagen am meisten beschäftigt?“
„Der Markt, ehrwürdiger Abt!“, platzte Faolán ohne Zögern heraus. „Der Markt“, wiederholte er noch einmal, mit etwas gesenkter Stimme und einem schamvoll zu Boden gerichteten Blick.
Degenar überhörte den ungestümen Tonfall und fügte die nächste Frage an: „Was genau beschäftigte dich daran?“
Faolán musste nicht lange überlegen: „Mich beschäftigte die auf dem Markt herrschende Ungerechtigkeit. Damit meine ich die Markthüter, die immer wieder dreist die Leute betrügen und bestehlen! Deren Willkür war es, die mir nicht aus dem Kopf ging.“
Die Antwort überraschte den Abt sichtlich. Er hatte mit so manchem Gedanken gerechnet, doch nicht mit der Frage nach Recht oder Unrecht. Noch bevor Degenar darauf eingehen konnte, fuhr Faolán aufgebracht fort:
„‚Non furtum facies – du sollst nicht stehlen, lehrt uns die Heilige Schrift. Diese Schurken aber treten die Gebote des Herrn mit ihren schmutzigen Stiefeln. Sie bereichern sich an Händlern und Bauern, ohne Scham oder Reue zu zeigen.“
Der Abt versuchte seinen Novizen zu beruhigen. „Es waren doch nur ein paar Äpfel, die sie genommen haben. Statt mit den Männern zu hadern, solltest du dich besser in Vergebung üben. Wäre es nicht gottgefälliger, für das Seelenheil der Diebe zu beten, statt sich über sie zu ärgern und sich dadurch von den eigenen Pflichten ablenken zu lassen?“
„Aber es ist und bleibt ungerecht und gottlos!“, protestierte Faolán stürmisch. „Sie sind die Markthüter. Es ist ihre Pflicht dafür Sorge zu tragen, dass keine Missetat auf dem Markt geschieht. Doch statt das Recht zu vertreten, verkörpern sie selbst die reine Willkür. Man sollte sie einsperren, hinter Schloss und Riegel bringen und ihnen wahre Gerechtigkeit zuteil werden lassen. Gebete sind hier keine Hilfe mehr.“
Die letzten Worte rief Faolán wütend und entrüstet. Als er bemerkte wie laut er geworden war, senkte er beschämt sein Haupt. Der Abt ließ die Worte nachklingen und wartete ein wenig, bevor er erneut sprach. „Gebete sind immer eine Hilfe! Merke dir das! Weißt du denn genau, was Recht und Unrecht ist, wenn du schon so schnell darüber urteilst?“
Die Worte drangen in Faoláns hitziges Gemüt und ließen es schlagartig abkühlen. Er schämte sich jetzt wegen seiner Worte. „Entschuldigt mein Aufbrausen, ehrwürdiger Abt.“
„Noch ist niemandem Leid widerfahren, daher bedarf es keiner Entschuldigung. Doch bedenke dies: Würdest du ebenso hart urteilen, wenn bei gleichem Vergehen der Dieb ein Kind wäre, das lediglich seine Geschicklichkeit und die Unachtsamkeit der Anderen zu nutzen wüsste, um etwas Brot zu bekommen, für sich und seine hungrigen Geschwister? Würdest du bei gleichem Vergehen dieses Kind nicht eher an deine reich gedeckte Tafel bitten und ihm die Hälfte deines Brotes abgeben, statt es zu verurteilen?“
Faolán erkannte die Weisheit in den Worten des Abtes. In diesem Moment tauchte vor seinem geistigen Auge das freche Gesicht des rothaarigen Mädchens mit dem verschmitzten Lächeln auf, das ebenfalls einen Apfel bei Bruder Ivo gestohlen hatte. Er fragte sich, ob Degenar nur zufällig dieses Beispiel gewählt hatte oder ob er von diesem Diebstahl wusste? Zwei identische Vergehen, und Faolán wertete sie tatsächlich unterschiedlich.
„Ja, das würde ich, ehrwürdiger Abt“, gab Faolán schließlich zu, hütete sich allerdings davor, sein Wissen vom zweiten Diebstahl preiszugeben. Dann fragte er verwirrt: „Doch weshalb würde ich das tun?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete der