Faolán wusste es sehr zu schätzen, allein mit Bruder Ivo die Abtei verlassen zu dürfen. Es war nämlich nicht üblich, dass Mönche die Klostermauern hinter sich ließen. Einen Novizen ließ man unbeaufsichtigt schon gar nicht gehen. Die weltlichen Versuchungen des Fleisches und des Geistes seien außerhalb des Klosters einfach zu mächtig, als dass ihnen ein junger Novize widerstehen könne. So lautete zumindest die Begründung. Was damit genau gemeint war, wusste Faolán nicht. Aufgrund des Entsetzens, das einige Brüder zeigten, schloss Faolán allerdings, dass es dort draußen gefährlich sein musste.
So sehr sich die Mönche fürchteten und Faolán bedauerten, so stark betrachtete Drogo ihn mit Neid. Worauf er neidisch war, konnte Faolán nicht sagen, denn er hatte ja keine Ahnung vom Leben jenseits der Klostermauern. Drogo hingegen kannte es und erwartete nichts sehnlicher als den Tag seiner Rückkehr zur Grafenburg. Nach all den Wochen des überheblichen Siegerlächelns verschwand das Grinsen auf Drogos Gesicht jetzt. Seine Laune wurde zusehends schlechter, während sich Faoláns Stimmung erkennbar hob. Bruder Ivo beobachtete diese Entwicklung zufrieden. Jetzt musste Faolán nur noch beweisen, dass er der Herausforderung auch gewachsen war.
Und dann war es endlich soweit. Der Tag war gekommen, an dem Faolán gemeinsam mit dem Kellermeister das Kloster verlassen würde, um den nahegelegenen Markt in Neustatt aufzusuchen. Lange Zeit war Neustatt nur eine große Siedlung gewesen. Die Nähe zur Grafenburg führte dazu, dass sie langsam aufblühte und vor einigen Jahren hatte sie das Marktrecht erhalten. ‚Nova Civitas wurde diese junge Stadt seither urkundlich benannt, doch im Volksmund hatte sich der umgänglichere Name Neustatt eingebürgert. Seit dem Erhalt des Marktprivilegs war auch der Handel für die Benediktiner einfacher geworden. Der Weg nach Neustatt war erheblich kürzer als der zu den bisherigen Märkten. Deshalb wurden häufiger Fahrten dorthin unternommen.
Auf dem Klosterhof ging es vor einer Fahrt zum Markt sehr geschäftig zu. Schon vor Sonnenaufgang begann Faolán eifrig, die Kisten, Säcke und Körbe auf den Wagen zu laden. Er stapelte sie behutsam und sicherte sie sorgfältig mit Seilen und Riemen. Viele Waren aus klostereigener Herstellung wurden auf dem Markt zu Neustatt angeboten. Das meiste davon war in den langen Wintermonaten gefertigt worden oder in den Lagern gereift, wie Ziegenkäse oder Äpfel und Nüsse. In der Regel wurden diese Güter auf dem Markt gegen andere eingetauscht, die das Kloster nicht herstellen konnte. Das betraf vor allem die Tusche für das Skriptorium, aber auch die wertvollen Farben für die kunstvollen Illustrationen der Bücher.
Bruder Ivo bewies Geschick im Handel, so dass der Abt mit seinen Geschäften stets zufrieden war und es im Kloster niemals an den notwendigen Materialien mangelte. Heute sollte nun auch Faolán erlernen, wie man dies bewerkstelligte, und es versprach, ein aufregender Tag zu werden.
Bald war alles für die Abfahrt vorbereitet. Mit Bruder Ivo wartete Faolán nun auf den Abt und seinen Segen: „Dominus custodiet te Dominus protectio tua super manum dexteram tuam per diem sol non percutiet te neque luna per noctem. DerHerr behüte euch vor allem Übel, er behüte eure Seelen. Möge er euren Weg erleuchten und euch bei all euren Taten beschützen. Amen.“
Nachdem der Abt die Hände wieder gesenkt hatte, sprach er zu den beiden Wartenden: „Passt auf euch auf. In Neustatt werdet ihr mit vielen Versuchungen konfrontiert werden. Bleibt standhaft! Ivo, achte auf deinen Gehilfen, dass er nicht abseits geht. Haltet stets beide Augen offen.“
„Sei unbesorgt“, beruhigte Ivo seinen Freund. Er verstand die Befürchtungen des Abtes. Er hatte nicht umsonst all seine Überzeugungskraft aufbringen müssen, um dessen Zustimmung zu diesem Vorhaben zu erhalten. Erst der Hinweis, dass er als Cellerar langsam zu alt sei, um die Marktgänge allein zu bewältigen und er einen Gehilfen in Neustatt benötige, hatte den Abt überzeugt.
Faolán wusste nichts von diesen Diskussionen und Sorgen. Entsprechend merkwürdig klangen auch die Abschiedsworte in seinen Ohren. Mit gemischten Gefühlen saß er auf dem Wagen und konnte die Abfahrt kaum erwarten.
Als sie schließlich das Klostertor hinter sich gelassen hatten und den Weg nach Neustatt einschlugen, betrachtete Faolán die Welt außerhalb der Abtei mit neuen Augen. Der Wald sah vom hohen Wagen gänzlich anders aus als sonst. Er konnte tiefer in die Baumreihen blicken und weiter vorausschauen. Sogar die Luft roch anders und es schien, als atme er das reine Leben ein.
Auf diese Weise beeindruckt und abgelenkt, hatte Faolán Mühe, sich auf die Worte des Kellermeisters zu konzentrieren. Der Mönch gab seinem Gehilfen zunächst eine theoretische Einführung in das Markttreiben und versuchte dann seinem Schützling darzulegen, auf was er zu achten hatte und was von ihm erwartete wurde. Für all diese Belehrungen hatte Faolán anfänglich nur ein halbes Ohr, denn es dauerte lange, ehe er sich an all dem Neuen sattgesehen hatte. Erst nach einiger Zeit lauschte er aufmerksam den Ausführungen des Mönches.
Schließlich erreichten sie den Waldrand und fuhren hinaus auf freies, leicht hügeliges Land. Der weite Blick über Wiesen und Felder zog Faolán erneut in seinen Bann, und auch der Kellermeister schwieg jetzt. Es dauerte nicht mehr lange, und es tauchten unzählige Dächer zwischen den sanften Hügeln auf: Neustatt. Schon von hier konnte Faolán eine rote Flagge ausmachen, die für alle gut erkennbar das heutige Markttreiben kundtat, wie Ivo erklärte.
Faolán hatte noch nie eine größere Ansammlung an Gebäuden gesehen als die des Benediktinerklosters. Die Abtei war eine klar strukturierte Anlage. Keine ihrer Bauten war ohne sorgfältige Planung erstellt worden und sie standen meist im rechten Winkel zueinander.
Eine solche Planung konnte Faolán für Neustatt auf den ersten Blick nicht erkennen. Die Dächer zeigten in alle Richtungen und waren von so unterschiedlicher Gestalt, dass sie miteinander zu konkurrieren schienen. Je näher sie der Stadt kamen, umso mehr erkannte Faolán einen weiteren Unterschied zur Abtei: Umtriebigkeit! So viele Mönche auch im Kloster leben mochten, es ging dort stets beschaulich und ruhig zu. In Neustatt war dies nicht der Fall. Bereits ein gutes Stück vor den Toren der Siedlung herrschte lautstarke Geschäftigkeit, dass es Faolán etwas unbehaglich wurde. Dennoch beobachtete er das Treiben fasziniert.
Unmittelbar vor der Stadt passierten sie die Baustelle einer neuen Umwehrungsanlage. Der alte Schutzwall aus hohen Palisaden sollte ersetzt werden, gewährte aber noch so lange Schutz, bis die steinerne Stadtmauer geschlossen sein würde. Diese mächtige Wehranlage wurde mit einem großzügigen Abstand zum Palisadenwall errichtet, damit die Stadt ausreichend Platz für weiteres Wachstum hatte. Faolán konnte sich nicht vorstellen, dass diese große Freifläche zwischen den beiden Wällen eines Tages mit Häusern, Straßen und Plätzen gefüllt sein würde.
Große, hölzerne Gerüste ragten etliche Ellen in die Höhe und erstreckten sich entlang beider Seiten des Walls. In unmittelbarer Nähe der Baustelle befanden sich die vielen Bauhütten und Verschläge der Handwerker, die sich wie ein kleines Dorf gruppierten. Steinmetze, Maurer und Zimmerleute waren schon weit vorangekommen und der ringförmige Wall umschloss bereits etwa die Hälfte der aufblühenden Siedlung. Die langwierige Arbeit hatte bereits mehrere Jahre in Anspruch genommen, und sicherlich würden noch einige Jahre vergehen, bevor das neue Bollwerk vollendet wäre.
Der Klosterwagen fuhr durch eine breite Öffnung in der Wehranlage, die später einmal das gewaltige Haupttor aufnehmen sollte, und befand sich nun im Bereich zwischen zukünftiger Stadtmauer und altem Palisadenwall. Hier waren während der Bauarbeiten Verhältnisse entstanden, die man weder als städtisch noch als ländlich bezeichnen konnte. Entlang der Straße, die geradewegs in das Zentrum führte, waren einfache Unterkünfte aller Arten errichtet worden. Einige bestanden nur aus Pfählen, Stangen und Seilen, über die man große Tücher geworfen hatte. Es gab aber auch Holzverschläge mit einem Vorbau aus Leinen, in deren Schatten sich düstere Gestalten herumtrieben. Die Vielfältigkeit der Behausungen reichte bis hin zu aufwendigen Holzgebäuden, die sich in der Nähe des Palisadentores befanden und schon beinahe wie zur Siedlung gehörende Häuser wirkten. Zwischen und hinter all diesen Baracken, Hütten und Verschlägen wurden zahlreiche Feuerstellen unterhalten.