In diesem Augenblick betraten seine beiden Freunde den Raum und eilten zu Hilfe. Während Konrad Faolán auf das Bett zurücklegte, kümmerte sich Ering um das Erbrochene und einen Krug frischen Wassers. Als Bruder Wunhold von Faoláns Erwachen hörte, war er hocherfreut. Der Hunger sei ein gutes Zeichen der Genesung. Faolán solle aber ruhig und in kleinen Portionen essen.
Diese Worte erweckten in dem Kranken die Hoffnung, schnell aus dem Hospital entlassen zu werden. Bruder Wunhold behielt ihn jedoch noch beinahe eine weitere Woche im Krankensaal, bevor er den Novizen wieder in den anstrengenden Klosteralltag entließ.
Die Rückkehr in die Mitte der Gemeinschaft stellte für Faolán eine große Herausforderung dar. Nicht etwa, weil er noch nicht ganz genesen und für seine täglichen Pflichten zu schwach gewesen wäre. Vielmehr schämte er sich für seine Tat im Schreibsaal, die ihn in die Büßerzelle gebracht hatte. Obwohl er für sein Vergehen bereits mehr gebüßt hatte, als ein gerechter Richter je vorgesehen hätte, war ihm nicht wohl zumute, als er wieder unter die Augen der übrigen Novizen und Mönche trat. Inzwischen hatten alle von seiner respektlosen und frevelhaften Tat erfahren und sie begrüßten Faolán nur mit tadelnden Blicken.
Die Tatsache, dass Drogo das Opfer seiner Wut geworden war, kümmerte Faolán weniger. Allerdings schämte er sich für die Vergeudung der Tusche, die Zerstörung der Sandtafel und das Besudeln der wertvollen Pergamente, die Bruder Notger so heilig waren. In den Augen des Schriftgelehrten war Faolán jemand, der die tägliche Arbeit und das Lebenswerk des Bibliothekars regelrecht mit Füßen getreten hatte. Kein Wunder, dass der sonst friedfertige Mönch seine Fassung verloren und auf seinen Schüler eingeschlagen hatte.
Faolán machte ihm daraus keinen Vorwurf. Wenn er jemandem Vorwürfe machte, dann nur sich selbst.
Faolán versuchte mehrmals, dem Bibliothekar sein Bedauern auszudrücken, jedoch vergeblich. Bruder Notger begegnete ihm mit Ignoranz, ließ ihn nicht einmal zu Wort kommen. Das schmerzte Faolán umso mehr. Im Gegensatz zu den meisten Angehörigen der Bruderschaft, die ihn einfach nur angafften und hinter seinem Rücken tuschelten, würdigte der Gelehrte ihn nicht einmal eines Blickes.
Das Gerede hinter seinem Rücken konnte Faolán indes gut ertragen. Seine beiden Freunde hatten ihn darauf vorbereitet, dass Drogo während seiner Abwesenheit verschiedene Gerüchte in Umlauf gesetzt hatte. Dass die Wunde von einem Rattenbiss herrührte, war an sich nichts Neues. Dass die Narbe allerdings inzwischen selbst wie der Kopf einer Ratte aussehen und eine Brandmarkung des Leibhaftigen sein solle, war nur eine aus Drogos Geist entsprungene Fantasie.
Obwohl Faolán seine Narbe bereits mehrfach betrachtet hatte, konnte er beim besten Willen keine Ähnlichkeit mit einem Tier feststellen, geschweige mit einer Ratte. Die meisten Novizen schienen jedoch nachhaltig von Drogo beeinflusst worden zu sein, denn sie gafften ihn und die Narbe immer wieder an. Selbst daraus machte sich Faolán nicht viel. Sollte die Narbe doch aussehen wie sie wollte, von ihm aus auch wie der Kopf einer Ratte. Jeder durfte sich sein Urteil darüber bilden, und er ließ das Getuschel und die Blicke unkommentiert. Mit der Zeit wurde die ganze Geschichte für die meisten uninteressant und es wurde wieder ruhig um Faolán.
Bruder Ivo betrachtete Faoláns Entwicklung mit Besorgnis, denn er bemerkte eine Veränderung im Verhalten seines Schützlings. Sein Gehilfe wurde wieder so schweigsam und nachdenklich, wie er einst zu Beginn seiner Zeit im Kloster gewesen war. Damals war der Novize schüchtern und zurückgezogen gewesen, und genau so verhielt er sich in diesen Tagen wieder. Trotz der Rückkehr zu den alltäglichen Pflichten blieb die erhoffte Normalität selbst nach einigen Wochen aus und seine Sorge um Faolán wuchs.
Aus diesem Grunde betrat der Cellerar gedankenverloren die Räumlichkeiten des Abtes, obwohl ihm noch kein Einlass gewährt worden war. Degenar erkannte sogleich den Kummer im Gesicht seines Freundes und versuchte ihn mit freundlichen Worten aufzumuntern: „Mein lieber Ivo. Wenn ich in dein sorgenvolles Gesicht blicke, wundert es mich nicht, dass du mir keine Zeit lässt, dich hereinzubitten.“
„Oh, verzeiht mir, ehrwürdiger Abt“, entschuldigte sich der Cellerar, als bemerke er erst jetzt, was er getan hatte.
Degenar empfing ihn jedoch mit offenen Armen und einem wohlwollenden Lächeln. „Ivo, mein Freund, du bist mir stets willkommen! Tritt ein, setze dich zu mir und berichte von dem, was dir so schwer auf dem Herzen lastet. Doch um eines möchte ich dich zuvor noch bitten: Sprich mich nicht mit ‚ehrwürdiger Abt an, wenn wir allein sind!“
Die Bemerkung rief ein Lächeln auf Ivos Gesicht hervor, und seine Sorgen schienen für einen kurzen Augenblick verflogen zu sein. Der Cellerar setzte sich und kam ohne Umschweife zu seinem Anliegen. „Ich mache mir Sorgen um Faolán. Er hat sich in den letzten Wochen sehr verändert.“
„Das ist mir nicht entgangen.“ Auch Degenar wirkte mit einem Mal besorgt.
„Dann hast du sicherlich auch bemerkt, dass dies nicht gerade eine Veränderung zum Guten war. Ich habe den Eindruck, als sei all das in den letzten Jahren gewachsene Selbstbewusstsein mit dieser Narbe abhanden gekommen.“
Degenar nickte. „Auch das habe ich bemerkt, wobei ich mich deinem Urteil nicht so schnell anschließen möchte. Ich habe mir auch schon Gedanken darüber gemacht. Vielleicht ist Faolán auf der Suche nach einem Sinn dieser Ereignisse und braucht deshalb einfach mehr Zeit für sich. Du weißt, dass man für solch eine Suche etwas Zurückgezogenheit benötigt.“
„Mehr Zeit und etwas Zurückgezogenheit ist in seinem Fall allerdings eine Untertreibung der Tatsachen. Der Junge grenzt sich regelrecht ab. Ich komme mir vor, als spräche ich gegen eine Wand, wenn er bei mir ist. Nicht, dass er mich nicht versteht. Seine Aufgaben erledigt er nach wie vor zu meiner vollsten Zufriedenheit. Nein, es ist etwas anderes. Ich dringe einfach nicht mehr zu ihm durch. Nur noch seine Freunde scheinen Zugang zu ihm zu haben.“
Der Abt versuchte es auf andere Weise zu erklären:
„Jeder Mensch hat Abschnitte in seinem Leben, in denen er sich gegen äußere Einflüsse abgrenzt. Nur auf diese Weise kann er zu sich selbst finden. Verhält es sich nicht genau so beim Beten? Eine Andacht dient nicht nur meiner Suche nach Gott und meinem Seelenheil, sondern vor allem der Suche nach dem Göttlichen in mir selbst. Jedes Gebet ist eine Suche nach meinem innersten, eigenen Selbst. Ist dir das noch nie klar geworden?“
„Doch, natürlich. Die Art und Weise, wie Faolán sich zur Zeit verhält, ist aber nicht normal. Das hat meiner Meinung nach nichts mit Selbstfindung zu tun. Ich mache mir ernsthafte Sorgen, er könnte sich selbst verlieren.“
Degenar führte sich vor Augen, welch froher und aufgeweckter Junge Faolán all die Jahre gewesen war, und er musste eingestehen, dass die momentane Entwicklung bedenklich war. Vor allem, wenn man im Blick hatte, dass Faolán eines Tages seiner Bestimmung entgegentreten und sein Erbe in Anspruch nehmen sollte.
„Vielleicht hast du Recht, Ivo. Doch um ehrlich zu sein, sehe ich keine Möglichkeit, die Situation schnell zu ändern.“
„Nun, vielleicht kann ich dir dabei behilflich sein. Ich habe schon eine Idee.“
Degenar wurde neugierig und Ivo erläuterte ihm seine Gedanken über ein bereits durchgeplantes Vorhaben. Beide Mönche saßen noch lange und debattierten darüber, ob Ivos Plan sinnvoll und in die Tat umzusetzen sei. Der Abt dachte lange darüber nach und erst nach der Matutin teilte er seinem Freund seine Zustimmung mit. Ivo versprach, gleich am nächsten Morgen mit den Vorbereitungen zu beginnen. Vielleicht würden sie Faolán auf diese Weise helfen können. Der Abt hoffte darauf inzwischen ebenso inständig wie der Cellerar, denn auch er war jetzt davon überzeugt, dass Faolán Gefahr lief, sich zu verlieren, statt sich selbst zu finden.
Anno 962 – Neustatt
Als der Kellermeister seinem Gehilfen am nächsten Tag offenbarte, dass er in Zukunft an den Markttagen mit nach Neustatt fahren solle, war Faolán überrascht. Er äußerte sich zunächst nicht dazu und Bruder Ivo fragte