Verschorfungen. Zhaoyang Chen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Zhaoyang Chen
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783347094284
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überall im Land Fabriken für Maschinenbau, Metallurgie und chemische Düngemittel errichtet. Nicht nur in der Industrie, sondern auch in den landwirtschaftlichen Kolchosen waren die sowjetischen Helfer allgegenwärtig gewesen. Als Administrator für Propaganda und Nachrichten hatte mein Vater naturgemäß viel mit den Sowjets zu tun gehabt. Dank seiner in der Schule und an der Universität erworbenen russischen Sprachkenntnisse war er Ansprechpartner und zugleich Freund der Russen in der Provinzhauptstadt Xining gewesen. Auch als Leiter des Rundfunkorchesters hatte er viele Freunde unter den sowjetischen Experten, für die er musikalische Abende und auch Tanzpartys organisierte. Er wiederum lernte durch die sowjetischen Kollegen und Pädagogen die Werke von Majakowski und Gorki und die Musik von Schostako-witsch und Prokofjew kennen. Für ihn war die sozialistische Freundschaft mit den Sowjets eine echte Bereicherung gewesen. Umso mehr fühlte er sich von dem plötzlichen Bruch mit Moskau getroffen, der ihm gänzlich unverständlich war.

      Was eigentlich hatte zu dem Bruch mit Sowjetunion geführt? Nach Stalins Tod im Jahr 1953 waren alle froh darüber, dass Chruschtschow dessen Kurs korrigierte und dem unsäglichen Personenkult um den Diktator ein Ende setzte. Die Entstalinisierung führte zu einer spürbaren Entspannung im Alltag der Menschen. Und als mein Vater 1956 als frisch gebackener Volkswirt in Xining, der Hauptstadt der tibetischen Provinz Qinghai, ankam, wehte die berühmte Rede von Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU wie eine milde Frühlingsbrise nach China herüber. Nur Mao war mit der Entstalinisierung nicht einverstanden. Er sah dadurch seine eigene Position gefährdet. Nach seiner Verkündigung des „Großen Sprungs nach vorn“, der zu einer katastrophalen Verschlechterung der Lebensbedingungen geführt hatte, war die allgemeine Stimmung im Land ohnehin eher ungünstig für ihn, so wie die Stimmung in der Sowjetunion in den letzten Jahren ungünstig für Stalin gewesen war. Also zettelte Mao eine Anti-Chruschtschow-Kampagne an und ersann 1963 auch noch die „Bewegung der vier Säuberungen“. Diese Säuberung war zwar vordergründig eine Gehirnwäsche durch sozialistische Erziehung, zielte tatsächlich aber auf eine Machtkonsolidierung durch Säuberungen in der eigenen Führungsriege ab. Der Vorsitzende Mao war davon überzeugt, dass Feinde in seiner Partei angesichts des Scheiterns des „Großen Sprungs nach vorn“ mit sowjetischen Genossen sympathisierten. Er wusste auch, dass zahlreiche Funktionäre im Mittelbau der Partei dem Weg Chruschtschows folgen wollten. Also beschwor Mao Gewalt und Hass herauf, indem der die Menschen gegeneinander aufhetzte und das Proletariat dazu aufforderte, ehemalige Dienstherren und -herrinnen sowie die inzwischen enteigneten Großgrundbesitzer und die Bürokraten als „revisionistische Mächte“ zu vernichten. Mein Vater war zutiefst verwirrt. Auch wusste er nicht, woher er den Mut nehmen sollte, um zu lügen und zu betrügen. Denn er hatte nun einmal die Aufgabe, Propaganda für die Partei zu betreiben. Sein Gewissen sagte ihm jedoch, dass Mao im Unrecht war. Zugleich wusste er, dass er gegen dieses Unrecht nichts unternehmen konnte. Daher machte er krank und verkroch sich lieber zuhause, statt die Menschen darüber zu belehren, dass der maoistische Klassenkampf „täglich, monatlich und jährlich wiederholt werden“ müsse. Er hatte das Telegramm aus Peking noch genau in Erinnerung, in dem stand, dass Mao sich wünschte, fünf Prozent Revisionisten in allen Regierungsämtern auszumachen. Die Quote stand wieder einmal fest. Mein Vater wusste, dass fünf Prozent der Kollegen ihr Leben verlieren würden. Das ließ seine Wut und Enttäuschung derart überschäumen, dass er stundenlang schrie, wenn er alleine war. Ihm war endgültig klargeworden, dass der Sozialismus gescheitert war. Mein Vater hatte an der heutigen Landwirtschaftlichen Universität von Nanking Volkswirtschaftslehre nach sowjetischem Muster studiert. Das Studium hatte jedoch nichts mit seiner späteren Arbeit zu tun. Ganz abgesehen davon hätte er viel lieber Musik studiert, weil er bereits in der ersten Mittelschule von Xuzhou musikalisch sehr aktiv gewesen war. Er hatte dort alle musikalischen Aktivitäten der Schule organisiert, das Orchester geleitet und Konzerte dirigiert. Er spielte fantastisch Erhu, ein zweisaitiges, mit dem Bogen gestrichenes Instrument, er hatte eine sehr schöne Singstimme und konnte westliche und chinesische Notensysteme gegenseitig übertragen. Sein musikalisches Talent und sein exzellentes Gehör baute er ohne speziellen Musikunterricht und nur mithilfe von theoretischem Wissen aus Büchern aus, das er sich selbst angeeignet hatte. Auch an der Universität in Nanking war er seinen musischen Interessen nachgegangen, komponierte Lieder, verfasste Dramen und choreographierte Tänze. Er tat all das, wozu ein Volkswirt normalerweise nicht imstande war. Nach seinem Abschluss im Jahr 1956 wurden alle Absolventen der Hochschule nach der landesweiten Planung zum Aufbau des Sozialismus in die Grenzprovinzen Qinghai, Ningxia, Gansu, Yunnan, Tibet und in die Mongolei geschickt. So kam mein Vater nach Xining, in die Hauptstadt der tibetischen Provinz Qinghai, wo er einen Arbeitsplatz im örtlichen Statistikamt bekam. Sehr bald schon wurde er aufgrund seiner Kenntnisse in Fotografie, Komposition, Malerei und Dichtung dazu delegiert, die Propaganda für das Qinghai-Provinzkomitee der KPCh zu organisieren und auszuführen.

      Als junger Mann fühlte er sich dadurch sehr geadelt. Geleitet vom Ideal des „Großen Sprungs nach vorn“ machte er sich voller Begeisterung für Mao und die Partei ans Werk. Er komponierte das berühmte Motivationslied „Ein Tag gleicht zwanzig Jahren“, gründete ein Rundfunkorchester und einen Chor und organisierte die alljährliche Ausstellung der sozialistischen Errungenschaften von den drei westchinesischen Provinzen. Der Wunsch des großen Führers war allen Parteifunktionären Befehl. Und als Mao den Ertrag von 10 000 Jin pro Mu (1 Jin entspricht 500 Gramm, 1 Mu 666 Quadratmetern) zum Ziel der Getreideproduktion proklamierte, fälschten die Funktionäre der unteren Ebenen pflichtschuldig die Pro-Mu-Erträge in ihren Berichten, die nach Peking geschickt wurden, um dem Wunsch des Führers zu entsprechen und Lob und politische Anerkennung zu erlangen. Wer den festgelegten Pro-Mu-Ertrag nicht schaffte, wurde abschätzig als Verlierer behandelt und degradiert. Der Wunsch des Führers berechtigte die Funktionäre irrsinnigerweise zum Lügen und zur Prahlerei, was im Volksmund lustigerweise „Raketenschießen“ genannt wurde. Wer die Zahlen wie Raketen in die Höhe schnellen ließ, der wurde hoch geachtet und von der Zentralregierung für seinen Fleiß gelobt. Lügen hatten auf einmal einen vermeintlich edlen Grund. Es war keine Seltenheit, dass der Pro-Mu-Ertrag mit mehreren zehntausend Jin angegeben wurde. Solche Meldungen wurden nie angezweifelt, sondern vielmehr als Beweis der sozialistisch-wissenschaftlichen Errungenschaft freudig angenommen und verbreitet. Am 29. August 1957 wurde die Provinz Qinghai vom Zentralkomitee der KPCh und ihrem Vorsitzenden Mao zur Modellprovinz und zum Vorbild für andere Provinzen auserkoren. Die Propagandaarbeit der Provinz Qinghai und die Beiträge meines Vaters wurden vom Staatsrat und dem damaligen Ministerpräsidenten Zhou Enlai persönlich gelobt. Zhou sagte sinngemäß: Es reicht nicht, dass wir den Sozialismus aufbauen wollen; er muss nach dem Prinzip – möglichst viel und schnell, gleichzeitig möglichst gut und sparsam – aufgebaut werden. „VIEL, SCHNELL, GUT, SPARSAM“, der Aufbau des Sozialismus wurde so zum Hauptthema der Propaganda. Es war keine leichte Aufgabe für meinen Vater, die vier Prinzipien zu erläutern. Wenn eine Arbeit gut gemacht werden sollte, durfte sie in der Regel nicht schnell erledigt werden. Weil schnell im Allgemeinen selten gut ist. Das gleiche galt auch für die Begriffe „viel“ und „sparsam“. Mein Vater umschrieb die vier Prinzipien so: Wir wollen möglichst viele sozialistische Ideale haben, die sozialistischen Ziele schnell umsetzen. Gleichzeitig sollen wir immer auf gute Qualität der Arbeit achten und sparsam mit den Ressourcen umgehen. Seine Umschreibung wurde von den Zeitungen übernommen und landesweit verbreitet. Die Umwandlung der sozialistischen Ideen in Produkte und Produktivität konnte allerdings nur durch eine gezielte Motivation der Menschen erreicht werden, das war den Funktionären klar. Daher wurden anfangs auch noch Leute und Arbeitseinheiten als Volkshelden gefeiert, die den Pro-Mu-Ertrag ganz offensichtlich gefälscht hatten. Mao rief die Menschen außerdem dazu auf, dem Geisterglauben abzuschwören und mutiges Denken, Reden und Kämpfen zu fördern. Mutiges Denken aber bedeutete nur mutiges Prahlen. Im August 1958 verkündete Liu Shaoqi, die Erde möge eine dem Mut der Menschen entsprechende Ernte hervorbringen:

Mein Vater machte Fotos, schrieb Leitartikel darüber und gab mit seinem Orchester Lobeshymnen zum Besten.

      Es muss eine total verrückte Zeit gewesen sein. Die Menschen hatten offensichtlich ihren Verstand verloren. Wissenschaft wurde als Aberglauben und rückständige Denkweise abgestempelt und aus den Köpfen verjagt. Die Prahlerei aber blieb nicht ohne Folgen. Sie