Während meines späteren Studiums der Psychologie las ich C. G. Jung. Auch Jung hatte ähnliche Vorfälle erlebt. Im Zug auf dem Heimweg in die Schweiz geriet das Wasserglas auf dem Tischchen vor ihm plötzlich in Bewegung und hinterließ eine Pfütze darauf. Just in diesem Augenblick dachte er, dass seinem Sohn gerade etwas Schlimmes widerfuhr. Zu Hause angekommen, sollte er erfahren, dass sein Sohn zu jenem Zeitpunkt, als sein Wasserglas grundlos in Bewegung geraten war, in einem See ertrunken war. Jahre später in Nanking sollte ich noch einmal ein ähnliches Erlebnis haben.
Leere Gräber
Meinen Großvater mütterlicherseits habe ich nie kennengelernt, und an meine Großmutter mütterlicherseits habe ich keine Erinnerung mehr. 2017 besuchte ich zusammen mit meinem Vater zum ersten Mal ihre „Grabstätte“. Sie befindet sich mitten in einem Obstgarten in der Gemeinde Shatang, westlich von Xuzhou. Eine Gedenktafel aus Granit erinnert an die Verstorbenen. Doch die Grabstätte ist leer. Mein Großvater wurde 1959 im kommunistischen Gefängnis in der Gansu-Provinz ermordet und anschließend in einem Massengrab verscharrt, wie Millionen andere Menschen, die den zahlreichen Säuberungskampagnen zum Opfer gefallen waren. Meine Großmutter wurde zwar in Shatang ordentlich beerdigt, ihr Grab lag aber nicht an der Stelle, wo sie heute liegt, sondern an einer Stelle, wo sich heute eine kollektive Forschungsanstalt befindet. 1965, während der vierten „Säuberungsbewegung“, hatte es meine Großmutter vorgezogen, ihren Peinigern durch Freitod zu entgehen. Unter deren Anführerin Zhang, der Tochter eines in der Dorfgemeinde der Familie Sha fremden Pächters, hatten hasserfüllte Milizionäre nachts Großmutters Grab geöffnet und den Sarg nach Wertsachen durchsucht und geplündert. Ihren Leichnam ließen sie wochenlang an einem Obstbaum hängen und überließen ihn den Wildhunden. Ich weiß nicht, woher meine Eltern die Kraft schöpfen, um eine solche Brutalität und Respektlosigkeit zu vergessen und sich mit den Verbrechern zu versöhnen. Ich kann ihnen das nicht verzeihen, weil es mich immer noch schmerzt, und das wird bleiben, solange ich lebe. Ich empfinde Hass und Wut, starke Gefühle, die nicht vergehen. Bei beim Besuch des Grabes begegneten wir der Schwester der damaligen Anführerin. Die uralte Frau entschuldigte sich ununterbrochen bei mir, geißelte ihre bereits in jungen Jahren an Krebs gestorbene Schwester als Sünderin und Schande ihrer Familie und bat uns um Vergebung. Mein Vater tröstete sie in seiner typischen Art mit den Worten, dass es da nichts zu verzeihen gäbe, weil Mao aus Menschen Bestien gemacht hätte. Ich trauere heute noch, vor allem nachts, wenn die Sterne hell am Himmel leuchten. Ich suche das Sternchen von meiner Großmutter. Es ist klar, dass wir uns nicht wiedererkennen könnten, selbst wenn wir uns begegnen würden. Denn meine Großmutter wäre eine 115 Jahre alte Frau mit schneeweißen Haaren, und ich bin längst nicht mehr das zweijährige Kind auf ihrem Schoß. Oft träume ich von ihr, wie sie am Fenster sitzend ihre Haare kämmt. Ich kann sie nicht hören, sehe aber immer ihre Tränen, unendlich viele Tränen.
Der Vater meiner Mutter hieß Sha Guangxuan, und dessen Wohnort heißt bis heute Shatang – Landgut der Familie Sha. Er war der älteste Sohn, der Stammhalter des Clans. Er hatte drei jüngere Brüder und eine jüngere Schwester. Ein Bruder arbeitete vor der Gründung der Volksrepublik als Polizeichef in Xuzhou. Der andere Bruder war Diplomat im kommunistischen Außenministerium, arbeitete einst als Gesandter in Indien, Pakistan und Korea und später als Professor für Anglistik an der Xinjiang-Universität in Ürümqi (Urumtschi), der Hauptstadt des um seine Autonomie kämpfenden uigurischen Gebietes Xinjiang. Von den fünf Kindern hatte nur mein Lieblingsgroßonkel nicht studieren dürfen, weil er von seinem Vater für die Landwirtschaft bestimmt worden war. Und wer auf dem Land arbeitete, brauchte keine höhere Bildung. Mein Großvater war Bürgermeister gewesen, selbstverständlich Parteimitglied der republikanischen Kuomintang, und arbeitete als Verwalter von Höfen und Ländereien und als Schuldirektor in Shatang. Meine Mutter und ihre Geschwister haben alle von ihrem Vater ihre Bildung erhalten und ganz der Tradition entsprechend die drei Grundregeln (der Monarch herrscht über seine Untertanen, der Vater über seine Kinder und der Mann über seine Frau) und die fünf Tugenden (Menschlichkeit, Pflichtgefühl, Anstand, Wissen und Treue) gelernt. Shatang war das Landgut seiner Familie. Die Familie hatte mehrere hundert Mitglieder, deren gemeinsamer Familienname Sha war. Es gab auch sogenannte fremdnamige Landarbeiter, die von der Familie Sha abhängig waren und ihre Arbeitskraft an diese verkauften. Die heute über Neunzigjährigen, die meine Großeltern noch erlebt haben, bezeugen mir gegenüber immer das Gleiche: dass mein Großvater ein gelehrter, gütiger, aber entschlossener Charakter gewesen sei, in dessen Wirkungskreis immer Gerechtigkeit geherrscht habe.
Shatang lag am Ufer des alten Fei-Huang He, dem Gelben Fluss in seinem ursprünglichen Bett. Überschwemmungen waren dort keine Seltenheit. Und so überließ mein Großvater notleidenden oder verarmten Pachtbauern mitunter die gesamte Ernte, wenn eine Hungersnot drohte. Alle Kinder, ob Nachkommen der Familie Sha oder nicht, erhielten von ihm eine kostenlose Schulbildung. Zugezogenen Bauern half er mit Krediten. Dass die Fremdnamigen meine Großeltern nach der sogenannten Befreiung im Jahr 1949 als Klassenfeinde ansahen und sie körperlich wie seelisch quälten und schließlich töteten, war nicht auf ein Fehlverhalten meines Großvaters zurückzuführen, sondern allein auf die Aufstachlung durch den „Großen Führer“. Mein Großvater hatte seine Schüler die „Drei Prinzipien des Volkes“ von Dr. Sun Yat-sen gelehrt und sie dazu motiviert, sich der Revolution anzuschließen. Viele von ihnen gingen nach Guangdong, wurden Studenten der berühmten Huangpu-Militärakademie und kämpften für das neue China. Einige von ihnen waren auch mit General Chiang Kai-shek nach Taiwan übergesiedelt, nachdem die Kommunisten den Bürgerkrieg für sich entschieden hatten. „Der Große Führer“ Mao wollte, wie er persönlich kundtat, zwei bis drei Millionen Großgrundbesitzer umbringen und deren Reichtum an 400 Millionen landlose Bauern verteilen. Deshalb wurde mein Großvater sofort nach der Gründung der Volksrepublik verhaftet und in ein Gefängnis in die nordwestliche Provinz Gansu in der Wüste Gobi verschleppt. Dort wurde er im Zuge der Kampagne zur Unterdrückung von Rechtsabweichlertum und Konterrevolution 1959 ermordet und in einem Massengrab verscharrt. Vier Jahre nach seinem Tod geboren, hatte ich ihn nie kennengelernt. In der Familie wurde über ihn geschwiegen. Erst in den 90er-Jahren hatte ich Gelegenheit, seinen Bruder, meinen Großonkel, nach ihm zu befragen.
Meine Großmutter mütterlicherseits hieß Liu Gonglan. Sie war die erste Tochter aus einer noch größeren und reicheren Familie im Westen von Xuzhou. Das Dorf, in dem sich das Landgut der Familie Liu befand, war nach dem Familiennamen ihrer Vorfahren benannt.