Verschorfungen. Zhaoyang Chen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Zhaoyang Chen
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783347094284
Скачать книгу
entmachtet, physisch und psychisch eingeschüchtert und in Arbeitslager eingesperrt. So wurde unter anderen auch Deng Xiaoping, damals Generalsekretär der KPCh und stellvertretender Ministerpräsident, aus Peking verbannt. Er wurde einfacher Arbeiter in einer Traktorenfabrik in Jiangxi. Sein Sohn Deng Pufang wurde so brutal gefoltert, dass er nun querschnittsgelähmt ist. Heute ist er Vorsitzender der chinesischen Union der Invaliden. Ministerpräsident Zhou Enlai, Mao gegenüber stets loyal und für die Wirtschaft zuständig, für die sich der Große Vorsitzende selbst nie so recht interessiert hatte, schummelte weiter wie bisher und versuchte, die Situation in den Griff zu bekommen, indem er auf dem Schwerpunkt der Produktion beharrte. „Betreibe Revolution, entwickle die Produktion, stelle die Versorgung sicher!“, so seine Parole, wodurch weitere kostbare Jahre vergingen und die Kulturrevolution sich zehn Jahre in die Länge zog.

      Die Kulturrevolution in China hatte zweierlei Ziele: zum einen die Zerstörung der traditionellen Denk- und Verhaltensweisen, zum anderen die Konsolidierung der Macht des „Großen Führers“ Mao, was dieser durch Gewaltausübung gegenüber seinen Kritikern und durch die blutige Unterdrückung innerparteilicher Gegner mithilfe der Rotgardisten zu erreichen versuchte. Für mich war die „Kultur“-Revolution nichts anderes als Barbarei, basierend auf absoluter Rechtlosigkeit. Was sie bei mir hinterließ, war ein bleibendes Misstrauen gegenüber meinen Mitmenschen. Für die Rotgardisten war es die Revolution der 28 Yuan: So viel kostete die Verbrennung eines getöteten, erschlagenen oder zum Selbstmord getriebenen Menschen. Bis heute wurden die Mörder und Mörderinnen von damals nicht zur Rechenschaft gezogen. Auf die Frage der italienischen Journalistin Oriana Fallaci nach der Zahl der Getöteten antwortete Deng Xiaoping 1980, dass keine Statistik erhoben werden könne, weil China so groß und die Todesursachen ganz unterschiedlich gewesen wären. „Jedenfalls starben sehr viele Menschen“, sagte er nur. Nach Angaben des historischen Forschungsinstituts des Zentralkomitees der KPCh kamen während der Kulturrevolution 1,72 Millionen Menschen ums Leben. Mir fehlen die Worte dafür, was „ums Leben kommen“ in diesen finsteren Zeiten bedeutete. Die Rebellen verfuhren mit Menschen wie mit Unkraut: Sie hackten sie einfach weg. 4,2 Millionen Menschen wurden in eilig errichteten Untersuchungsgefängnissen eingesperrt und 135 000 als aktive Konterrevolutionäre vom Revolutionskomitee verurteilt und hingerichtet. 237 000 wurden in bewaffneten Straßenschlachten getötet, 7,03 Millionen Menschen wurden verstümmelt, 70 000 Familien unwiderruflich zerstört. Die Mörder und Mörderinnen des blutigen Jahres 1966 waren zu 99 Prozent halbwüchsige Rotgardisten und zwischen 13 und 17 Jahre alt. Sie sind heute 60 bis 65 Jahre alt und bleiben weiterhin von jeglicher Strafe verschont. Die Opfer waren in den meisten Fällen ihre Lehrerinnen und Lehrer gewesen, deren Familien bis heute keine Gerechtigkeit widerfahren ist. Allein in Peking wurden 1966, in diesem einen Jahr, 16 000 Schuldirektoren, Abteilungsleiter, Professoren und Lehrer bestialisch und grausam totgeschlagen. Den Opfern wurden die Haare mitsamt der Kopfhaut ausgerissen, sie wurden mit den Messingschnallen von Militärgürteln blutig geschlagen und mussten ihren eigenen Urin und ihr Blut vom Boden lecken. Sie wurden gezwungen, sich gegenseitig zu ohrfeigen und sogar die Leichen von Kollegen zu peitschen. Unter den Tätern befanden sich nicht nur Männer, sondern genauso viele Frauen und Mädchen. Der „Große Führer“ pries derartige Gräueltaten in zwei Briefen an die Studenten der Universitäten von Peking und Qinghua als revolutionäre Aktion und entfachte damit einen wahren Flächenbrand der Gewalt, von dem das ganze Land erfasst wurde. Er höchstpersönlich ist damit verantwortlich für die Ermordung von 1,725 Millionen Lehrerinnen und Lehrern.

      Auch in Xuzhou wurden Lehrerinnen und Lehrer vor Kritikversammlungen gezerrt. Auch hier schlugen Schüler in den Schulen ihre Lehrer. Und auf den Straßen kam es zunehmend zu blutigen Auseinandersetzungen. Höflichkeit und Respekt vor älteren Menschen existierte nicht mehr. Doch die Revolution trieb ihr Unwesen nicht nur in der Schule, sondern in der ganzen Gesellschaft. Auch unter Arbeitern und Bauern wurden groß angelegte blutige Kampagnen in Gang gesetzt und der promaoistische Gewaltwettbewerb zu einer neuen Eskalationsstufe geführt.

      Ein angeheirateter Onkel meiner Familie war Mitglied der sogenannten „Stoßpartei“ von Xuzhou. Er war gelernter KFZ-Mechaniker und konnte am Klang des Motorengeräuschs eines Autos dessen Problem erkennen. Er war Facharbeiter der Klasse 8, der höchsten Klasse im damaligen China. Das bedeutete, dass er quasi ein Alleskönner war und den gesamten Produktionsprozess vom Entwurf über die Ausrüstung bis zur Herstellung inklusive aller Techniken im Maschinen- und Fahrzeugbau beherrschte. Die Einheit, in der er arbeitete, wurde von Gu Binghua, dem Anführer der „Stoßpartei“ geleitet. So wurde mein Onkel automatisch Mitglied der Partei. Er war zweimal mitgereist, als Premierminister Zhou Enlai die „Studienkurse“ für die Xuzhou-Parteien nach Peking kommen ließ. Er saß mit am Verhandlungstisch, als unter der Leitung von Zhou Enlai ein Frieden zwischen der Stoßpartei und der Unterstützungspartei ausgehandelt wurde. Deshalb wurde er auch verhaftet, als Gu Binghua auf Deng Xiaopings Befehl als Friedensstörer hingerichtet wurde. Von meinem Onkel erfuhren wir viel über die Kämpfe der Revolutionäre. Der „Große Vorsitzende“ Mao hatte 1962 gesagt, dass die Regierungsmacht Chinas nicht in der Hand des Proletariats liege und ein Drittel der Regierungsbeamten, also über zehn Millionen Menschen Klassenfeinde seien. Der irre Diktator in Zhongnanhai, dem Hauptquartier der Kommunistischen Partei in Peking, hatte wohl einen Alptraum gehabt, sah Geister, die ihm ans Leben wollten, und deswegen mussten zehn Millionen Menschen sterben.

      In Xuzhou gruppierten sich die revolutionären Massen in zwei Parteien: die Stoßpartei und die Unterstützungspartei. Wie der schon Name sagt, war die Stoßpartei diejenige, die alle hinderlichen Regierungsämter einschließlich des Revolutionskomitees beiseite stoßen sollte, damit die Kulturrevolution durchgeführt werden konnte. Im Gegensatz dazu stand die Unterstützungspartei hinter den Revolutionskomitees. Beide Parteien nahmen für sich in Anspruch, Maos wahre Revolutionäre zu sein. Wer also regierte Xuzhou?

      Nachdem die eigentliche Regierung als die „den kapitalistischen Weg Beschreitende“ von den Rebellen abgesetzt worden war, wurde Xuzhou zuerst von der Unterstützerpartei regiert. Diese unterstützte die aus Arbeitern, Bauern und Soldaten zusammengesetzte revolutionäre Kommission, die fortan als Regierung fungierte. Die Stoßpartei wollte das jedoch nicht hinnehmen, weil ihrer Meinung nach alle Mitglieder der Regierung die „den kapitalistischen Weg Beschreitende“ waren, also ausnahmslos ehemalige Machthaber. Nun aber war die revolutionäre Kommission der neue Machthaber und glich somit den „den kapitalistischen Weg Beschreitenden“, musste also logischerweise weggestoßen und ersetzt werden. Da die Machthaber auf beiden Seiten davon überzeugt waren, dass sie die Linken verkörperten und Maos Politik folgten, wollten sie ihre Macht jedoch nicht abtreten. So ging die Macht über die Stadt von einer Partei auf die andere über und wieder zurück. Und jeder Machtwechsel bedeutete eine erneute blutige Schlacht. Wie verbittert die Parteien sich bekämpften, davon kann ich selbst ein trauriges Lied singen.

      Als ich sechs Jahre alt war, nahm mich mein Großvater eines Tages mit zum Frisör an der Huaihai-Straße auf der Höhe der Pengcheng-Straße. Dort ließen wir uns die Haare schneiden und gingen zu Fuß wieder nach Hause, als aus der Ferne aus zwei entgegengesetzten Richtungen Geschrei zu hören war sowie das rhythmische Skandieren von politischen Parolen, verstärkt durch Megaphone. Das Geschrei kam immer näher, und wir sahen schon die langsam aus beiden Richtungen aufeinander zu marschierende Menschenmenge, die lauthals „Nieder, Nieder!“ schrie. Es entstand ein Tumult, und die Fußgänger hatten so große Angst, dass sie nicht mehr weitergehen wollten. Großvater zerrte mich in das Kommissionsgeschäft Yihua, wo die Mitarbeiter sogleich von innen die Tür verriegelten. Da der Laden einige Stufen höher lag als die Straße, konnten wir das Geschehen von dort aus beobachten. Draußen vor der Tür wurden die gegenseitigen Beschimpfungen im Namen des Vorsitzenden Mao und der großen proletarischen Revolution immer lauter und heftiger, und als eine Rotgardistin aus der Gruppe der Unterstützungspartei einen Schlag auf den Kopf bekam und blutete, eskalierte die Situation. Männer und Frauen drängten sich wie in einem Bienenschwarm zusammen, schlugen mit Handtafeln, Mao-Figuren, Gürteln, Eisenstangen und Holzlatten aufeinander ein und skandierten dabei lauthals die sogenannten „höchsten Anweisungen“ aus der Mao-Bibel. Die Schlägerei auf der Straße wurde zunehmend wilder und blutiger, da sahen wir, wie sich ein Junge aus lauter Angst vor dem unbeherrschten Mob auf einen Baum flüchtete; das aber hatten einige gesehen und rüttelten nun so lange an dem Baum, bis der arme Junge herunterfiel. Noch während