Verschorfungen. Zhaoyang Chen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Zhaoyang Chen
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783347094284
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Xuzhou – unterhaltsam und melancholisch zugleich, als schrien sie gegen die Ohnmacht über ihr eigenes Schicksal an.

      Nach dem Tod meiner Großmutter im Jahre 1973 wohnte ich mit meinem Großvater in der Einzimmerwohnung am Eingangstor von unserem ehemaligen Wohnhof zusammen. Sein Tagesablauf war streng geregelt, und er hielt sich daran, ohne je eine Ausnahme zu machen. Um vier Uhr in der Früh stand er auf und wusch sich mit einem Eimer Wasser den ganzen Körper. Um halb sechs weckte er mich und schickte mich zu einem Restaurant in der Fenghua-Straße, das seiner Meinung nach die beste Frühstückssuppe, das beste Gebäck und die besten Frittierstangen, eine Xuzhou-Spezialität aus Weizenmehl, hatte. Um sechs Uhr frühstückten wir zusammen. Danach ging ich zur Schule, während mein Großvater Volksrundfunk hörte und die Tageszeitung las. Nachmittags spazierte er durch die Stadt und besuchte seine beiden Schwestern. Um vier Uhr nachmittags ging er in das Xinhua-Badehaus an der BoÁi-Straße. Nach dem Abendessen ging er um neun Uhr schlafen. Mein Großvater war kein extrovertierter Mann, er konnte nicht gut reden und war alles andere als mitteilungsfreudig. Oft musste ich sehr, sehr lange auf eine Antwort von ihm warten. Er war auf der beständigen Suche nach Ruhe und Frieden in dieser Zeit, die so sehr von Unruhe und Chaos geprägt war. Trotzdem schien er in vollkommener Zufriedenheit mit der Welt, den Menschen und seiner Zeit zu leben, und ich frage mich oft, wie all die Schicksalsschläge ihn innerlich geprägt haben. Nach außen hin war ihm nichts oder nur sehr wenig davon anzumerken, was ihn innerlich bewegte. Doch hatte ich nie den Eindruck, dass er absichtlich etwas verbergen wollte. Menschen seiner Generation zeichneten sich durch das Streben nach konfuzianischer Ruhe aus, sie arbeiteten zeitlebens an der Harmonisierung ihres Innenlebens, akzeptierten ihr Schicksal – „Es muss so sein“ – und kamen niemals auf die Idee, Widerstand zu leisten. Als ich 1981 im Begriff war, zum Studieren nach Nanking zu gehen, starb mein Großvater an einem Schlaganfall. Er hat zum Glück noch mitbekommen, dass ich die Aufnahmeprüfung für die Universität bestanden hatte und war sehr stolz auf mich.

       Großmutter Ye Yonglan

      Meine Großmutter väterlicherseits stammte aus einer Schreinerfamilie, die seit Generationen Möbel und Särge herstellte. Und mein Urgroßvater war ein Mann gewesen, der davon überzeugt war, dass die Macht aus Gewehrläufen kam. Neben seiner Familie und seiner Firma führte er mit herrischer Zucht und Strenge die Gilde der Kaufleute in Xuzhou. Fremde, die in Xuzhou Geschäfte machen wollten, mussten zuerst seine Zustimmung einholen. Ich habe ihn nicht mehr kennen gelernt, dennoch war er in meiner Kindheit präsent. Ich hörte Erwachsene oft über ihn sagen, was für ein Glück es doch sei, dass er noch gestorben sei, ehe die Kommunisten an die Macht kamen. Denn sonst hätte er bestimmt viel zu leiden gehabt und wäre sicherlich von den „Roten“ hingerichtet worden. Er war auch dadurch präsent, dass meine Großtante ihn bei jeder Gelegenheit verfluchte, weil er ihr den Ehemann, seinen Sohn, weggenommen hatte, indem er ihn verhungern ließ. Mein Urgroßvater konnte es nicht leiden, dass sein eigener Sohn Opium rauchte und Heroin konsumierte. In seinen Augen war der Sohn ein Verlorener, der nicht imstande war, das Geschäft fortzuführen und seine Familie zu ernähren. Ein Schmarotzer, der höchstens die Geschäfte und die Familie ruinierte. Der erbarmungslose Kampf zwischen den beiden endete damit, dass mein Urgroßvater ihn in eine Zelle im Hof einsperrte, wo er von Milizen bewacht wurde und nur Wasser und Nahrung bekam. Doch der rauschgiftsüchtige Sohn weigerte sich standhaft, etwas zu essen. Als hochgradig Süchtiger hatte er weder Mitleid mit seiner ihm frisch angetrauten Frau, noch Verständnis für seinen Vater. So verhungerte er innerhalb von zwei Wochen und hinterließ eine schwangere Frau, meine Großtante, die sieben Monate nach seinem Tod seinen Sohn gebar. So wurde zumindest die Sippe Ye gerettet, die Ehre der Vorfahren gewahrt und der Familienstammbaum fortgeführt.

      Meine Großmutter, die Bezugsperson und das Zentrum meiner Kindheit, hieß Ye Yonglan. Von Natur aus eine herrische Person mit Ecken und Kanten, konnte sie lesen und schreiben und war in ihrer Wortwahl nie wählerisch, wenn sie ihre Meinung sagte. Sie hatte die verstümmelten Lotusfüße, die bis Anfang des 20. Jahrhunderts charakteristisch waren für Frauen aus gutem Haus. Füße, die viel zu klein für ihre Körpergröße und ihr Gewicht waren. So litt sie beständig unter Knie- und Fußschmerzen. Soweit ich mich erinnern kann, beklopfte ich bereits als Zweijähriger ihre Knie mit den Fäusten, um ihre Schmerzen zu lindern. Das tat ich, bis sie 1973 starb.

      Meine Großeltern hatten drei Söhne und eine Tochter, die im Säuglingsalter starb. Von den drei Söhnen hatten sie zwölf Enkelkinder. Ich war ihr Liebling unter den Zwölfen, weil ich in ihren Augen ein schlichtes und ehrliches „Dummerchen“ war. Meine Großmutter mochte keine schlauen und raffinierten Kinder, die ihrer Meinung nach nur Unheil brachten. So nannte meine Großmutter mich stets ihr „dummes Glückchen“ und bestrafte jedes Kind, mit dem ich Geschwisterkämpfe austrug. Meine Großmutter war von ihrer Überzeugung nicht abzubringen, dass ihr Liebling von Natur aus nicht imstande sei, Streitereien anzufangen oder jemandem Schaden zuzufügen, weshalb sie immer die anderen doppelt bestrafte, erst für die Bezichtigung und dann für die Streiterei. Sie gab mir Taschengeld, backte mir süße Sachen mit geröstetem Mehl und kochte mir aus Fischresten eine dicke Fischbrühe, weil ich von klein auf kein Fleisch aß.

      Ich war zehn Jahre alt und ging in die dritte Klasse, als eines Morgens meine Klassenlehrerin zu mir kam und mir ins Ohr flüsterte, dass ich von der Schule befreit sei und sofort nach Hause gehen sollte. Meine Großmutter war gestorben, und zum ersten Mal erlebte ich ein Trauerfest. Nach streng zeremoniellen Regeln wurde festgelegt, wer die Tote zuerst beweint und wie lange sie beweint werden durfte. Meine Mutter und die beiden Tanten hatten Anwesenheitspflicht und mussten obligatorisch mitweinen. Jeder Kondolenzbesucher hatte seine eigene Art, den Hinterbliebenen sein Beileid auszusprechen, meine Mutter und die beiden Tanten erwiderten dies aber immer mit dem gleichen Weinen. Mein Vater war zu dieser Zeit im Gefängnis, bekam jedoch Freigang für einen halben Tag. Er war der Letzte, der die Tote beweinte. Danach nagelte er den Sarg zu. Anlässlich dieser Trauerfeier lernte ich viele Menschen kennen, die ich bis dahin noch nie gesehen hatte. Je nachdem, wie sie meine tote Großmutter nannten, ordnete ich ihren jeweiligen Verwandtschaftsgrad ein. Es war wie ein Theaterstück: Jeder Trauernde hatte sein eigenes Libretto, und jeder erzählte mit der Beweinung eine Geschichte, seine Verbundenheit mit der Toten und wie sehr er ihr Ableben bedauerte. Das Orchester spielte jedes Mal eine andere Musik, variationsreich, sehr archaisch und sehr laut. Ich war sehr aufgeregt, wollte alles verstehen und kam in der Hektik gar nicht dazu, meine Großmutter zu betrauern. Ich erinnere mich noch genau, dass mein Großvater mich fragte, ob ich traurig wäre, ich, Großmutters Liebling, der nun die Großmutter verloren hatte und nun niemand mehr mich beschützen konnte. Ich antwortete mit Nein. Das zeigt auch, was für ein ehrliches Dummerchen ich tatsächlich war, wofür meine Großmutter mich so sehr geliebt hatte. Ich wurde erst traurig, als ich zwei Wochen nach der Beerdigung langsam realisierte, dass ich meine Großmutter verloren hatte. Wochenlang weinte ich allein, wenn niemand mich sah. Überall, wohin ich auch sah, sah ich das sanft lächelnde Antlitz meiner Großmutter; überall, wohin ich auch horchte, hörte ich sie mich rufen. Es hatte sein Gutes, dass meine Mutter mir in den letzten Lebensmonaten meiner Großmutter strengstens verboten hatte, diese zu besuchen und zu sehen, denn meine Mutter war der Überzeugung, dass meine Anwesenheit Großmutter sehr traurig gestimmt hätte. Denn Großmutter war stets sehr um mich besorgt gewesen und wollte mich nur ungern ohne ihren Schutz allein in dieser Welt zurücklassen. Dadurch konnte ich meine Großmutter so in Erinnerung behalten, wie sie immer gewesen war. Dann aber verlor ich meine Stimme, konnte auf einmal nicht mehr gehen und hinkte monatelang mit dem linken Bein.

      Ich empfand nach ihrem Tod nie Angst in ihrem Zimmer und schlief weiterhin in ihrem Sterbebett, weil ich wusste, dass sie mich über alles geliebt hatte. Und ich sollte sie noch einmal nach ihrem Tod erleben.

      Es war eines Mittags gegen ein Uhr, ich war allein in dem Zimmer, in dem sie gestorben war, saß auf ihrem Bett und zeichnete auf einem Stück Glanzpapier die Illustration von

der „Geschichte außerhalb des Konfuzianischen Waldes“ nach, die mein Großvater gerade las und die neben dem Kopfkissen lag. Das Glanzpapier war sehr glatt, und ich musste sehr weiche Bleistifte benutzen, um überhaupt etwas zeichnen zu können. In einem völlig unerwarteten