Meine Mutter hatte sechs Geschwister, drei Brüder und drei Schwestern. Alle drei Brüder hatten noch vor der Gründung der Volksrepublik an der katholischen Mittelschule in Xuzhou studiert. Auch sie wurden im Zuge der sozialistischen Erziehungsbewegung, der sogenannten Vierten Säuberungskampagne (1963 – 1966) zur Klärung politischer, ökonomischer, organisatorischer und ideologischer Fragen, körperlich und seelisch brutal verfolgt. Nachdem mein Großvater 1959 im Gefängnis gestorben war und fünf ihrer Kinder in die nordwestliche Uiguren-Provinz Xinjiang verbannt wurden, musste sich meine Großmutter an ihrer Statt den sich täglich wiederholenden Beschimpfungs- und Kritikversammlungen stellen. Sie musste sich auf ein Podest stellen und dort mit einem Schild um den Hals, auf dem ihr Name rot durchgekreuzt war, Schmähungen und Beschimpfungen erdulden. Eines Tages bekam sie einen Brief von einem ihrer Söhne aus der Verbannung, in dem er die harten Arbeitsbedingungen schilderte und seinen Unmut darüber kundtat. Mein Onkel war ein hochbegabter Schüler gewesen und immer der Klassenbeste, durfte aber aufgrund seiner Klassenzugehörigkeit nicht an der Universität studieren. Er schrieb seiner Mutter von der Trennung der Geschwister in Xinjiang und von der brutalen Behandlung in der Verbannung. Der Brief wurde vom örtlichen Parteichef heimlich geöffnet und gelesen und als Beweis dafür konfisziert, dass die Klassenfeinde ihre finsteren Rachepläne nicht aufgeben wollten. Meiner Großmutter drohten sie mit Gefängnis und Arbeitslager, bis sie alle Hoffnung verlor und sich im Wohnzimmer erhängte. Das geschah 1965, zwei Jahre nach meiner Geburt.
Je älter ich werde, desto beunruhigter bin ich von der Tatsache, dass meine Großeltern nicht ordentlich bestattet wurden und sie deswegen möglicherweise den Weg zu ihrer heutigen Ruhestätte nicht finden. Ganz atheistisch, wie von den Kommunisten propagiert, sind wir alle nicht geworden. Im Gegenteil. Ich bin ich der Meinung, dass die Toten auf eine uns bis heute unentschlüsselte Weise weiterexistieren. Ich habe mehrmals an die Regierung der Gansu-Provinz geschrieben und um Auskunft über meinen verschollenen Großvater gebeten. Außer Trauerbekundungsfloskeln bekamen wir jedoch nie etwas Konkretes zu hören, außer der bitteren Tatsache, dass mein Großvater, wie von der Regierung von Gansu bestätigt wurde, bereits freigelassen worden war, als er starb. Die Gefängnisleitung hatte ihm nach seiner Entlassung jedoch keine Fahrkarten für den Heimweg gekauft, und weil er selbst kein Geld für die Heimreise hatte, musste er weiterhin im Gefängnis bleiben. Da er jedoch kein ordentlicher Gefangener mehr war, bekam er dort auch nichts mehr zu essen – was sein Todesurteil war. Denn niemand überlebte diese „Befreiung“. Mein armer Großvater starb, ohne dass jemand von ihm Notiz genommen hatte.
Als die Nachricht von Großvaters Entlassung aus Gansu kam, lebte meine Großmutter von der Hoffnung, eines Tages ihren Mann und ihre Kinder wiederzusehen. Jahre vergingen, und die Hoffnung auf ein Wiedersehen wurde immer geringer, obwohl sie bis zuletzt nicht an den möglichen Tod ihres Mannes glaubte. Am Vorabend ihres eigenen Todes erzählte sie meiner Mutter, dass sie vom Vater geträumt habe, der sie mit der Bitte betraut habe, die Leiden zu beenden. Sie hatte noch vor ihrem Tod ein Paar Schuhe für meinen neugeborenen Bruder angefertigt und meinen Vater gebeten, ein Foto von ihr machen. Dann war sie in ihre Wohnung zurückgekehrt. Als sie am nächsten Tag gefunden wurde, war sie bereits seit mehreren Stunden tot. Meine Großmutter ist mir bis zum heutigen Tag in der Form von Schmerzen und Unruhe erhalten geblieben.
In der chinesischen Mythologie ist die körperliche Unversehrtheit heilig. Das gilt sowohl für die Lebenden wie für die Toten. Dass Maos Schergen den toten Körper meiner edlen und schönen Großmutter den wilden Tieren überlassen haben, dieser Gedanke quält mich seit eh und je und stellt für mich eine Hürde dar, die ich zeitlebens nicht überwinden kann. Sobald ich die Augen schließe, höre ich meine Vorfahren klagen, dass sie ihre Körper zurückhaben wollen.
Abakus und Rechenreime
Wie im alten China üblich, gingen Kinder ab dem vierten Lebensjahr in eine meist private Schule. Kinder intellektueller Familien wurden auch zu Hause von ihren Vätern, Onkeln oder Großvätern unterrichtet. Der chinesische Begriff hierfür heißt „Kai Meng“ und bedeutet Einführung in die Schriftwelt und Aufklärung über die Moral. Diese Aufklärung hatte mit der Befreiung aus der „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ jedoch nichts zu tun, ganz im Gegenteil. Und doch waren mein Mut und meine Bereitschaft überaus groß, mich meines Verstandes zu bedienen. Nur Mut allein half damals leider wenig. Die Benutzung des Verstandes musste angeleitet werden.