Verschorfungen. Zhaoyang Chen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Zhaoyang Chen
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783347094284
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Ehen wurden als Unheil bringend abgelehnt. Mein Urgroßvater besaß neben dem Ackerland noch eine Getreidemühle, eine Brennerei, eine Manufaktur für Handkarren und Tragejochs. All seinen sieben Kindern hatte er eine moderne Schulbildung ermöglicht. Wie es für die damalige Zeit typisch war, waren auch seine fünf Söhne ideologisch unterschiedlicher Ansicht und damit politische Gegner. Während die älteren für die republikanische Kuomintang kämpften, waren die jüngeren Kommunisten. Mein Urgroßvater konnte nicht akzeptieren, dass er und seine Familie nach der Enteignung von 231 Hektar Land in einer kommunistischen Gesellschaft, in der jeder Bürger gleiches Recht genießen sollte, zu Ausgestoßenen gemacht und sozialer Ächtung ausgesetzt wurden. Niemand in der Familie war gebieterisch oder unhöflich gegenüber den Untergebenen gewesen; niemand hatte sich Arbeit vom Leibe gehalten oder war dem Müßiggang verfallen. Jeder hatte genauso fleißig wie die Knechte und Mitarbeiter gearbeitet. Der erreichte Wohlstand war in den Augen meines Urgroßvaters kein Geschenk des Himmels, sondern das Ergebnis von jahrhundertelangem Fleiß und von Genügsamkeit. Seit Jahrhunderten schon teilten die Familien den Wohlstand mit den Menschen um sich herum; alle wurden berücksichtigt nach der Devise, dass alle im selben Boot den Fluss überquerten. Extravaganz und Eigensucht waren ihnen fremd. Mein Urgroßvater war als Familienoberhaupt weder überheblich noch unbesonnen gewesen. Noch am Vorabend seines Selbstmords hatte er gearbeitet wie ein Knecht. Er konnte die Sitte und Moral der neuen Zeit einfach nicht nachvollziehen und war schließlich verzweifelt genug, um sich umzubringen. In seinem Abschiedsbrief war zu lesen, dass er von Scham und Gewissensqual übermannt sei, und dass er bittere Reue gegenüber den Vorfahren verspüre, die von Generation zu Generation fleißig gearbeitet, beharrlich gespart und langsam zu Reichtum gekommen waren. Es beschäme ihn zutiefst, dass nun alles verloren gehe. Seine Schuhe und seine Kleider hatte er ausgezogen und fein säuberlich gefaltet abgelegt, bevor er sich zu früher Morgenstunde, nur mit weißer Unterwäsche bekleidet, vor einen fahrenden Zug warf – in der Hoffnung, sich durch seinen Selbstmord von aller Schuld reinwaschen zu können. Aber die Kommunisten wären ja keine Kommunisten gewesen, wenn sie die Familie danach in Ruhe gelassen hätten. Diese wurde nach seinem Tod umso heftiger verfolgt, weil der Selbstmord als schuldhafter Bruch mit der Volksgemeinschaft gewertet wurde. Einer seiner Söhne wurde mit Alkohol übergossen und angezündet, ein zweiter wurde zum Invaliden geprügelt. Die Kinder mussten betteln gehen und die ehemaligen Mägde und Knechte um Almosen bitten, weil auch die ursprünglich zugesprochenen Restparzellen an Land nach dem Selbstmord des Familienoberhauptes enteignet worden waren. Typisch für die damalige Zeit war auch das Verhalten des vierten Sohnes, der sich als tüchtiger Kommunist sogar eine Volksverdienstmedaille erster Klasse im Koreakrieg erkämpft hatte und in Xuzhou als Amtsdirektor arbeitete. Er hatte sich in aller Öffentlichkeit von seiner Familie distanziert und erklärt, das Band zu seinen Großgrundbesitzereltern durchtrennt zu haben. Seine Mutter – meine Urgroßmutter – hatte sich ihre Augen im wahren Wortsinn blind geweint. Doch die Kommunisten machten auch vor der blinden alten Dame keinen Halt. Auch sie wurde vor die alltägliche Beschimpfungsversammlung gezerrt. Auch sie musste Diffamierung, Lügengeschichten und Hassausbrüche erdulden. Die Verwandten, die Pächter und die ehemaligen Knechte aber hatten Mitleid mit ihrer Familie. Sie steckten ihr so viele Lebensmittel zu, dass sie die härtesten Klassenkampftorturen überlebten. Die frühere Kammerfrau meiner Urgroßmutter, die mit dem Sohn des örtlichen Parteisekretärs im Großen-Liu-Landgut
verheiratet war, drohte mit Selbstmord, sollte meine Urgroßmutter noch einmal öffentlich diffamiert werden. So wurde die alte Dame schließlich in Ruhe gelassen. Ich habe mich noch von meiner Urgroßmutter verabschieden können, als ich 1981 zum Studium nach Nanking ging. Sie war damals schon über 100 Jahre alt. Dank der Pflege meiner Großtante war sie immer bei bester Gesundheit. Sie strahlte Wärme und eine Güte aus, die aus tiefstem Herzen kam. Weil ihre Tochter, meine Großmutter, sich das Leben genommen hatte, empfand meine Urgroßmutter besonders viel Mitleid mit uns.

      Meine Mutter hatte sechs Geschwister, drei Brüder und drei Schwestern. Alle drei Brüder hatten noch vor der Gründung der Volksrepublik an der katholischen Mittelschule in Xuzhou studiert. Auch sie wurden im Zuge der sozialistischen Erziehungsbewegung, der sogenannten Vierten Säuberungskampagne (1963 – 1966) zur Klärung politischer, ökonomischer, organisatorischer und ideologischer Fragen, körperlich und seelisch brutal verfolgt. Nachdem mein Großvater 1959 im Gefängnis gestorben war und fünf ihrer Kinder in die nordwestliche Uiguren-Provinz Xinjiang verbannt wurden, musste sich meine Großmutter an ihrer Statt den sich täglich wiederholenden Beschimpfungs- und Kritikversammlungen stellen. Sie musste sich auf ein Podest stellen und dort mit einem Schild um den Hals, auf dem ihr Name rot durchgekreuzt war, Schmähungen und Beschimpfungen erdulden. Eines Tages bekam sie einen Brief von einem ihrer Söhne aus der Verbannung, in dem er die harten Arbeitsbedingungen schilderte und seinen Unmut darüber kundtat. Mein Onkel war ein hochbegabter Schüler gewesen und immer der Klassenbeste, durfte aber aufgrund seiner Klassenzugehörigkeit nicht an der Universität studieren. Er schrieb seiner Mutter von der Trennung der Geschwister in Xinjiang und von der brutalen Behandlung in der Verbannung. Der Brief wurde vom örtlichen Parteichef heimlich geöffnet und gelesen und als Beweis dafür konfisziert, dass die Klassenfeinde ihre finsteren Rachepläne nicht aufgeben wollten. Meiner Großmutter drohten sie mit Gefängnis und Arbeitslager, bis sie alle Hoffnung verlor und sich im Wohnzimmer erhängte. Das geschah 1965, zwei Jahre nach meiner Geburt.

      Je älter ich werde, desto beunruhigter bin ich von der Tatsache, dass meine Großeltern nicht ordentlich bestattet wurden und sie deswegen möglicherweise den Weg zu ihrer heutigen Ruhestätte nicht finden. Ganz atheistisch, wie von den Kommunisten propagiert, sind wir alle nicht geworden. Im Gegenteil. Ich bin ich der Meinung, dass die Toten auf eine uns bis heute unentschlüsselte Weise weiterexistieren. Ich habe mehrmals an die Regierung der Gansu-Provinz geschrieben und um Auskunft über meinen verschollenen Großvater gebeten. Außer Trauerbekundungsfloskeln bekamen wir jedoch nie etwas Konkretes zu hören, außer der bitteren Tatsache, dass mein Großvater, wie von der Regierung von Gansu bestätigt wurde, bereits freigelassen worden war, als er starb. Die Gefängnisleitung hatte ihm nach seiner Entlassung jedoch keine Fahrkarten für den Heimweg gekauft, und weil er selbst kein Geld für die Heimreise hatte, musste er weiterhin im Gefängnis bleiben. Da er jedoch kein ordentlicher Gefangener mehr war, bekam er dort auch nichts mehr zu essen – was sein Todesurteil war. Denn niemand überlebte diese „Befreiung“. Mein armer Großvater starb, ohne dass jemand von ihm Notiz genommen hatte.

      Als die Nachricht von Großvaters Entlassung aus Gansu kam, lebte meine Großmutter von der Hoffnung, eines Tages ihren Mann und ihre Kinder wiederzusehen. Jahre vergingen, und die Hoffnung auf ein Wiedersehen wurde immer geringer, obwohl sie bis zuletzt nicht an den möglichen Tod ihres Mannes glaubte. Am Vorabend ihres eigenen Todes erzählte sie meiner Mutter, dass sie vom Vater geträumt habe, der sie mit der Bitte betraut habe, die Leiden zu beenden. Sie hatte noch vor ihrem Tod ein Paar Schuhe für meinen neugeborenen Bruder angefertigt und meinen Vater gebeten, ein Foto von ihr machen. Dann war sie in ihre Wohnung zurückgekehrt. Als sie am nächsten Tag gefunden wurde, war sie bereits seit mehreren Stunden tot. Meine Großmutter ist mir bis zum heutigen Tag in der Form von Schmerzen und Unruhe erhalten geblieben.

      In der chinesischen Mythologie ist die körperliche Unversehrtheit heilig. Das gilt sowohl für die Lebenden wie für die Toten. Dass Maos Schergen den toten Körper meiner edlen und schönen Großmutter den wilden Tieren überlassen haben, dieser Gedanke quält mich seit eh und je und stellt für mich eine Hürde dar, die ich zeitlebens nicht überwinden kann. Sobald ich die Augen schließe, höre ich meine Vorfahren klagen, dass sie ihre Körper zurückhaben wollen.

       Abakus und Rechenreime

      Wie im alten China üblich, gingen Kinder ab dem vierten Lebensjahr in eine meist private Schule. Kinder intellektueller Familien wurden auch zu Hause von ihren Vätern, Onkeln oder Großvätern unterrichtet. Der chinesische Begriff hierfür heißt „Kai Meng“ und bedeutet Einführung in die Schriftwelt und Aufklärung über die Moral. Diese Aufklärung hatte mit der Befreiung aus der „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ jedoch nichts zu tun, ganz im Gegenteil. Und doch waren mein Mut und meine Bereitschaft überaus groß, mich meines Verstandes zu bedienen. Nur Mut allein half damals leider wenig. Die Benutzung des Verstandes musste angeleitet werden.