Verschorfungen. Zhaoyang Chen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Zhaoyang Chen
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783347094284
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Nachteile ein. Ab der zweiten Jahreshälfte 1961 hatten Präsident Liu Shaoqi und sein Wirtschaftslenker Chen Yun durchgesetzt, dass Funktionäre und Beamte ab dem 17. Grad monatlich zusätzlich zur regulären Lebensmittelration noch 1 Kilo Fleisch, 1 Kilo Sojabohnen, 500 Gramm Zucker, 20 Eier, 20 Packungen Zigaretten und zwei Flaschen Alkohol bekamen, und das, obwohl die Bauern erbärmlich verhungerten. So kündigte mein Vater nicht nur seinen Posten als Propagandaadministrator, sondern verzichtete damit auch auf ein Monatsgehalt von 194 Yuan und Vergünstigungen wie beispielsweise zusätzlichen Lohn für die Arbeit auf dem Hochland (Qinghai liegt durchschnittlich 2200 Meter über dem Meeresspiegel), Geld für Kinder- und Altenbetreuung und eine kostenlose medizinische Versorgung. Mit seiner Frau hatte er über seine Absichten nie gesprochen, und als er eines Tages zu meiner Mutter sagte, dass sie jetzt die Heimreise antreten würden, war sie davon überzeugt, dass sie nur einen Heimaturlaub machen würden. Die Tatsache, dass er nach der Kündigung kein geregeltes Einkommen mehr hatte und sich und seine Familie durch Gelegenheitsjobs unter den meist analphabetischen Wanderarbeitern ernähren musste, hat ihn nie reumütig werden lassen. So sehr enttäuscht war er von Maos Kommunismus, dass er lieber hungerte, statt seine Seele an das diktatorische Regime zu verkaufen. Nie mehr wollte er an einer Welt mitwirken, in der Menschen aus Hunger andere Menschen töteten und aufaßen.

      Wir reden oft darüber, warum Chinesen so leidensfähig sind und fast jede Quälerei und Despotie ohne Widerstand erdulden. Warum sind mindestens 36 Millionen Menschen lieber verhungert anstatt aufzustehen und die Despoten mit Gewalt zu verjagen? Warum akzeptierten 200 Millionen Menschen brutalste Unterdrückung und unmenschlichste Peinigung fügsam als ihr Schicksal, ohne sich dagegen aufzulehnen? Es ist mir ein Rätsel. Mögen die Psychologen darüber befinden, ob diese Leidensfähigkeit von der grausamen traditionellen Praxis der gewaltsamen Verstümmelung von Mädchenfüßen stammt. Immerhin sind wir alle die Kinder von Frauen und tragen ihre DNA in uns. Und ist diese Leidensfähigkeit nicht wie so viele epigenetische Erkrankungen meist auf die traumatischen Lebenserfahrungen der Mutter zurückzuführen? Seit der Tang-Dynastie, also seit ungefähr 1500 Jahren wurden Frauen in China die Füße verstümmelt, um dem Schönheitsideal von besonders zierlichen Füßen zu entsprechen und die krankhafte sexuelle Vorliebe der Männer dafür zu befriedigen. Unter Tränen banden Mütter ihren eigenen Töchtern ab dem vierten Lebensjahr gewaltsam die Füße ein, sodass sie vor Schmerzen nicht aufhörten, zu weinen, solange sie in der Wachstumsphase waren. Je reicher und gebildeter die Familien waren, desto kleiner sollten die Füße der Töchter sein. Es gab kein schmerzerfüllteres, schrilleres, traurigeres und zugleich verzweifelteres Weinen in der menschlichen Welt als das Weinen der Töchter beim Einbinden der Füße. Mir treibt allein schon der Gedanke daran die Tränen in die Augen, während ich diese Zeilen schreibe. Jahrelang konnten die Mädchen nicht gehen und mussten von den Männern überallhin getragen werden. Die Täterinnen waren fast ausschließlich die eigenen Mütter, die in ihrer Kindheit selbst schon die gleichen Schmerzen erlitten hatten. Was für eine Schizophrenie, was für eine Überwindung es kosten musste, den eigenen Kindern solche Schmerzen zuzufügen mit dem Argument, dass es ein notwendiges Opfer für ihre segensreiche Zukunft sei. So wurden Schmerzen und Verstümmelung folgsam hingenommen, und die Fähigkeit zu leiden von Generation zu Generation vererbt. Gott sei Dank hatte Dr. Sun Yat-sen diese jahrtausendealte Praxis 1910 verboten.

      Mein Vater und ich sind uns darin einig, dass der Charakterzug der Chinesen, Widrigkeiten fügsam hinzunehmen, wissenschaftlich untersucht werden sollte, um herauszufinden, ob wir von Natur aus nur im Leiden Freude empfinden können und ob wir für universale Werte wie Freiheit und Demokratie überhaupt genetisch geschaffen sind.

       Der Wohnhof in Xuzhou

      Meine Familie väterlicherseits stammt, wie schon eingangs erwähnt, aus der antiken Stadt Xuzhou, genauer gesagt aus dem Viertel Hubu Shan. „Shan“ bedeutet Berg, eine stark übertriebene Bezeichnung, zumal der Höhenunterschied zum Meeresspiegel weniger als 50 Meter beträgt. Hubu Shan war das wohlhabendste Wohnviertel der Stadt. Auch der Palast des Kaisers Qian Long und das kaiserliche Steuer- und Einwohnerministerium befanden sich dort. Mein Urgroßvater war der dritte Sohn seiner Eltern, und da die Tradition vorsah, dass nur der Stammhalter, der erstgeborene Sohn Haus und Hof erbte, wurde das restliche Vermögen unter den übrigen Söhnen aufgeteilt. 1948 siedelte mein Urgroßvater nach der innerfamiliären Haushalts- und Vermögensaufteilung um und ließ sich im Westen der Stadt nieder. Sein Wohnhof befand sich in der BoÁi-Straße im Xiguan, also dem Westend von Xuzhou. Heute steht dort ein Gebäudekomplex namens „Europa-Kaufhaus“. Es handelte sich um eine höher gelegene, sehr belebte Geschäftsstraße, die zehn Meter breit und etwa 800 Meter lang war und von Ost nach West verlief. Die BoÁi-Straße war die Verkehrsader im Westen der Stadt, von der aus die Händler aus den Vororten in die Stadt gelangten. Gesäumt war die Straße von Geschäften, die bereits in der Song-Dynastie existiert hatten. An dieser altehrwürdigen Straße lagen auch der Wohnhof und das Geschäft meines Großvaters. Der Wohnhof, bestehend aus einem rechteckigen Innenhof, auch „chinesisches Rechteck“ genannt, wurde von vier Häusern umschlossen, deren Fenster und Türen auf den Hof gingen. Der Innenhof war 200 Quadratmeter groß, Platz genug zum Spielen, für Familienfeste und für Treffen mit Freunden und Bekannten. In dem Hof wuchsen zwei Granatapfelbäume. Der eine blühte weiß, der andere rot. Mein Großvater hatte diesen Wohnhof von Herrn Leng, einem Süßwarenhändler gekauft. Bezahlt hatte er aber nicht mit Geld, sondern mit Getreide, denn in den 1920er- und 1930er-Jahren war Geld kein sicheres Zahlungsmittel. Nach Großvaters Planung sollte jeder seiner drei Söhne mit seiner Familie eines der Gebäude bewohnen. So wollte er die große Familie zusammenhalten. Meine Großeltern bewohnten das zentrale Gebäude, welches aus zwei Stockwerken und sechs Zimmern bestand. Es lag höher als die anderen Häuser und war über eine fünfstufige Granittreppe zu erreichen. Hinter diesem Gebäude befand sich ein Garten, in dem viele Rosen gediehen. Da mein Vater der zweitälteste Sohn der Familie war, sollten wir das Ostgebäude rechter Hand von Großvater bewohnen, während im West- und Nordgebäude die beiden Onkel mit ihren Familien wohnten. Die klare Anordnung der Gebäude entsprach der konfuzianischen Familienordnung und deren sozialen Loyalitätsprinzipien. Für meine Großeltern war das Leben so lange schön, wie sie ihre Kinder und Enkelkinder um sich haben konnten. Unser Wohnhof war fast der einzige Hof, der zur Straßenseite hin durch eine Mauer geschützt war. In den Hof gelangte man durch ein überdachtes, drei Meter hohes Tor und über eine sehr hohe Türschwelle. Das schwarz lackierte, massive doppelflügelige Holztor, das einzige nach außen hin sichtbare Zeichen von Wohlstand, war mit dicken Papierschichten zugekleistert und übersät von wütend hinkalligraphierten kulturrevolutionären Parolen und Mao-Zitaten. Peu à peu verloren meine Großeltern den Wohnhof durch Enteignung und mussten sich am Ende mit einem 15 Quadratmeter großen Durchgangszimmer neben dem Eingangstor begnügen, während der linke Trakt von einer Arbeiterfamilie mit vier Kindern bezogen wurde. Der Vater arbeitete als Brauer in einer Destillerie, die Mutter in einer Kartonagenfabrik. Im rechten Trakt wohnte Familie Li. Vater Li war Leiter der städtischen Gärtnerei und Denkmalpflege. Mutter Li war Verkäuferin in dem Lebensmittelgeschäft, das nach der Enteignung der Buchhandlung meines Großvaters dort untergebracht worden war. Auch Großmutter Li wohnte dort. Die beiden Kinder der Lis waren älter als ich und wurden von ihrer Großmutter gehütet, aber wegen des Altersunterschieds spielten sie kaum mit mir. Obwohl Reichtum in der kommunistischen Gesellschaft verpönt war, gab es zur damaligen Zeit doch noch Unterschiede im Haushaltsaufkommen: Familien mit vielen Kindern lebten schlechter und waren ärmer dran als Familien mit wenigen Kindern. Da Familie Li nur zwei Kinder hatte, konnte sie sich schon früher als die übrigen Nachbarn ein Fahrrad und ein Radio leisten. Im nördlichen Gebäude wohnte ein altes christliches Ehepaar, das aus dem Umland stammte. Opa Leng war ein sehr gläubiger Mann und betete dreimal täglich, um Gott für seine Mahlzeiten zu danken. Obwohl die Ausübung von Religion strengstens verboten war, betete Familie Leng in unserem geschlossenen Wohnhof ungehindert zu Gott. Und niemand denunzierte sie, was wohl auf die Friedfertigkeit und Freundlichkeit des hochbetagten Ehepaars zurückzuführen war. Nachbarschaftliche Harmonie und gegenseitige Rücksichtnahme waren auch in der finstersten Zeit in China erhalten geblieben. Opa Leng sprach einen Dialekt, den ich nicht verstand und hatte einen schlohweißen Bart, der ihn wie einen Unsterblichen der „Acht Heiligen“ aus der chinesischen Mythologie aussehen ließ. Ich hatte nicht oft Gelegenheit, von ihm liebkost zu werden, weil er seine Tür meistens verschlossen hielt. Die