Verschorfungen. Zhaoyang Chen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Zhaoyang Chen
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783347094284
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Winterzeit, wenn die Sonne schräg in sein Zimmer schien, übten die vergilbten Farbtöne der Bilder eine magische Wirkung auf mich aus. Auch Decke und Querbalken waren mit Heiligenbildern beklebt. Die Bilder an der Decke erzählten Geschichten von geflügelten Engeln im Himmelreich. Die auf den Balken stellten einen fremd aussehenden, bärtigen Mann in langem blauem Gewand dar, der eine Dornenkrone auf dem Kopf trug, unter der furchterregende Blutstropfen hervorquollen. Als ich Opa Leng danach fragte, bekam ich immer dieselbe Antwort: dass Jesus Christus für uns gestorben sei. Doch ich wusste weder, wer Jesus Christus war, noch begriff ich, was „für uns gestorben“ bedeutete. Opa Leng gab sich aber gar keine Mühe, mir das näher zu erklären. Familie Leng hatte neun Kinder, von denen nur noch der jüngste Sohn bei den Eltern wohnte. Da die anderen Kinder alle in die Grenzprovinzen verschickt worden waren, konnte ich davon ausgehen, dass die Klassenzugehörigkeit der Familie bestimmt nicht rot war. Unter Folter und Zwang musste der Sohn seine Eltern verraten haben, denn eines Tages stürmten viele Halbwüchsige den Wohnhof, prügelten auf das alte Ehepaar ein, rissen alle Bilder von Jesus Christus von der Wand und verbrannten sie. Die Rotgardisten schrien den Alten an, es sei illoyal gegenüber dem Vorsitzenden Mao, statt eines Porträts von ihm Bilder von Jesus Christus im Wohnzimmer hängen zu haben. Und dann musste Opa Leng sich über das Feuer beugen und die Bilder von Christus mit seinen eigenen Füßen zertrampeln. Nach diesem Angriff starb er. Zu seiner Beerdigung wollte Oma Leng niemanden aus der Nachbarschaft einladen, weil sie uns in jenen barbarischen Jahren des Klassenkampfs vor Sippenhaft bewahren wollte. Beim Abtransport des Leichnams sang Oma Leng Lieder, die ich erst viel später, zu meiner Studentenzeit nach der Kulturrevolution, als Kirchenlieder erkannte. Zur Zeit der Kulturrevolution, zu der das ganze Land mit 700 Millionen Menschen nur das Lied von der „Roten Sonne Mao Zedong“ sang, war es ein konterrevolutionärer Akt, christliche Lieder zu singen.

      Ich weiß bis heute nicht, wie mein Großvater die Zeit der Entrechtung und Enteignung seelisch verkraftet hat. In all den Jahren, in denen ich mit ihm zusammenwohnte, hat er nie darüber geredet. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass er jemals Streit mit all diesen fremden Leuten gehabt hätte, die nun von Staats wegen unsere Häuser bewohnten. Meine Großmutter war diejenige, die mit dem Zeitgeist nicht mitkam und ständig mit ihren Gefühlen haderte. Zum Glück hatten die neuen Bewohner gesunden Menschenverstand und waren einsichtig genug, sie als ehemalige Herrin zu respektieren und Rücksicht auf ihre schlechte Laune zu nehmen, die dem Verdruss, dem Ärger der der Ablehnung entsprang. Großmutters Leben war von Groll und Unmut erfüllt. Die Freude, möglichst viele Enkelkinder um sich zu haben, war ihr genommen worden. Denn in der kleinen Ein-Zimmer-Wohnung war für Kinder nicht genug Platz. Mein Großvater blieb schweigsam und suchte keinerlei Kontakt zu den neuen Bewohnern des Wohnhofs.

      Meine Eltern hatten eine Eineinhalb-Zimmer-Wohnung in der Nähe der BoÁi-Straße zugeteilt bekommen. So pendelte ich in meiner frühen Kindheit zwischen den beiden Wohnorten täglich hin und her. Zum Mittagsessen ging ich zu den Großeltern. Zum Schlafen ging ich abends zu meinen Eltern in die Tangci-Gasse. Meine Großmutter kochte für mich

ein Xuzhou-Gericht aus Bohnen, Erdnüssen, Wurzelgemüse und Fleischwürfeln, angereichert mit ein paar Chilischoten. Ein Gericht, das ich seit ihrem Tod nie wieder gegessen habe, das jedoch auf ewig mit ihr verbunden bleibt.

      In unserer Wohnung gab es kein fließendes Wasser. Jeder Haushalt besaß ein 80 bis 100 Liter fassendes Tonfass als Wasserbehälter, das meistens lasiert und mit einem Deckel versehen war. Eine Wasserstation gab es in der Nähe einer Stelle, an der sich früher eine Zugbrücke befunden hatte, die tagsüber die Stadt mit den ländlichen Vororten verband und nachts hochgezogen wurde. Soweit ich mich erinnern kann, war das Wasserholen die erste körperliche Arbeit, die ich als Kind zu verrichten hatte. Kaum sieben Jahre alt, half ich, Wasser in einem 20-Liter-Eimer an einer Tragestange zu holen. Die Straße war mit Granitplatten gepflastert, die durch jahrhundertelanges Befahren und Begehen poliert und deshalb sehr glatt und rutschig geworden war. Ich kannte als Kind jede Steinplatte und jede Spurrille dieser Straße, weil ich beim Wasserholen stets darauf achten musste, wohin ich trat, um das Wasser nicht zu verschütten. Am Anfang holte ich es zusammen mit meiner zwei Jahre älteren Schwester, später dann mit meinem zwei Jahre jüngeren Bruder. Zu zweit füllten wir den Wasserbehälter randvoll, bevor wir in die Schule gingen. Als ich größer wurde, holte ich das Wasser mit einem Tragejoch in zwei 20-Liter-Eimern alleine, bis ich 14 Jahre alt wurde und wir in eine Wohnung in dem neuen Wohnviertel Heping Xincun zogen, wo wir nun endlich fließendes Wasser hatten.

      In den 1960er-Jahren gab es in China ungefähr 600 Millionen Menschen. 80 Prozent davon lebten auf dem Land. Die Regierung in Peking opferte damals die Landbevölkerung, um die 20 Prozent, die in den Städten lebten, vor Hunger und Not zu bewahren. Das strenge Haushaltsregistrierungssystem Hukou machte die Bauern zu Menschen zweiter Klasse. Sie durften ihre Dörfer nicht verlassen und konnten daher nicht einmal betteln gehen. Soweit ich mich erinnern kann, habe ich nie hungern müssen. Es gab für alles Bezugsscheine. Die Bezugsmenge änderte sich zwar von Jahr zu Jahr, aber es war zumindest genug. Meine Eltern konnten am Monatsende immer bei der Regierung in Ungnade gefallene Freunde, die nicht genug zu essen hatten, mit Bezugsscheinen und ein wenig Geld unterstützen. Gemüse konnte man frei und ohne Bezugsscheine kaufen. Mit einem oder zwei Fen konnte ich mittags nach der Schule immer einen Korb voll Tomaten, Gurken oder anderes melonenähnliches Gemüse kaufen. Es war sehr billig, frisch und schmeckte gut. Fleisch, Fisch und Eier waren allerdings eine Mangelware, die streng nach Bezugsscheinen verteilt wurde. Für meinen Hund und meine Katze, die gerne Fleisch und Fisch fraßen, sammelte ich nach der Schule in der Großmarkthalle Fleisch- und Fischreste. Für die armen Bauernkinder der benachbarten Provinz Henan wäre das eine Festmahlzeit gewesen.

      In meiner Kindheit trieb der auf dem Land herrschende Hunger trotz des Verbots viele Bettelnde aus den Provinzen Henan und Anhui zu uns. Einmal saß ich nach der Schule allein vor dem Eingangstor unseren Wohnhofs und las. Meine Großmutter hatte mir ein Stück Mantou – ein dampfnudelartiges Brot aus Weizenmehl – in die Hand gedrückt, damit ich meinen Hunger ein wenig stillen konnte, bevor wir richtig zu Mittag aßen. Plötzlich tauchte eine Frau mittleren Alters auf, riss mir das Mantou aus der Hand und spuckte mehrmals hintereinander darauf. Ich war von dem Angriff völlig überrascht und ekelte mich derart vor der Spucke, dass ich auf die Rückgabe des Mantous verzichtete. Die Frau verbeugte sich mehrmals tief vor mir und sagte: „Danke, kleiner Herr, danke, kleiner Herr!“ und verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war. Als ich wieder zu mir kam, stand meine Großmutter vor mir und wunderte sich, wie schnell ich das Mantou verputzt hatte.

       Zeit der Barbarei

      Als die große proletarische Kulturrevolution ausbrach, war ich drei Jahre alt, als sie 1976 endete, war ich dreizehn und ging in die zweite Klasse der Mittelschule. Die von Maos Chefschreiber Zhang Chunqiao erfundene „fortschreitende Revolution unter proletarischer Diktatur“ zielte in erster Linie darauf ab, die Vormachtstellung des Großen Führers zu verteidigen. Die Hungerkatastrophe mit 36 Millionen Toten und die jämmerlich gescheiterte „Stahlkochbewegung“ hatten dazu geführt, dass die Bevölkerung einen Groll gegen die Funktionäre hegte, die durch ihre Lügen, namentlich das „Raketenschießen“, den Hunger und das Massensterben verursacht hatten. Das Volk wandte sich jedoch nicht gegen den Vorsitzenden Mao, ganz im Gegenteil. Es nahm ihn gegen alle Anfeindungen in Schutz und verteidigte seine Ideen von der Kulturrevolution und dem Volksrebellentum. Das Volk glaubte, dass die Funktionäre der mittleren und unteren Führungsebene den Vorsitzenden Mao belogen hätten, um ihre selbstsüchtigen Ziele zu verfolgen. Wenn man bedenkt, dass die Funktionäre zusätzliche Lebensmittel bekamen, während gleichzeitig 36 Millionen Menschen verhungerten, war der Unmut des Volkes gegenüber den Bürokraten durchaus verständlich. Diese ihrerseits entgegneten, dass sie doch nur gelogen hätten, weil dies von den oberen Führungsriegen erwartet worden sei. Auch die Funktionäre waren unzufrieden, beklagten sich über das erlittene Unrecht und hatten eigentlich den „Großen Führer“ Mao zur Zielscheibe ihres Hasses auserkoren. Im Januar 1962 musste Mao sogar vor 7000 Funktionären in Peking Selbstkritik üben und die Verantwortung für den landesweiten Kannibalismus und die Hungersnot übernehmen. Aber Mao wäre nicht Mao gewesen, wenn er sich der Kritik gebeugt hätte. Als durchtriebener Machtpolitiker nutzte er die allgemeine Un-Zufriedenheit vielmehr dazu, um die „Große