Mit gefälschten Ertragszahlen versuchten also die Funktionäre auf allen Ebenen, selbst groß herauszukommen, obwohl jeder vernünftige Mensch wusste, dass die immer mehr in die Höhe schnellenden Quoten niemals erreicht werden konnten, zumal die staatlichen Abgabequoten auf der Grundlage der gefälschten Zahlen festgesetzt wurden. Also gingen die prahlerischen Funktionäre dazu über, die den Bauern zustehende Menge von Erzeugnissen zu unterschlagen und diese an die staatlichen Speicher abzuführen, um ihr eigenes Fehlverhalten zu vertuschen. Begeistert von den großartigen revolutionären Ernten landesweit, forderte Mao daraufhin 1958 die jährliche Verdoppelung der Ernte. Um sich bei Mao einzuschmeicheln und die eigenen Fähigkeiten in ein besseres Licht zu rücken, war in der Volkszeitung tatsächlich zu lesen, dass sich der Pro-Mu-Ertrag auf 120 000 Jin belief, dass die Schweine jetzt größer wären als Elefanten und dass große Erdnussschalen schon bald als Boote dienen könnten, um den Yangtze-Fluss zu überqueren. In ihrer Wahnvorstellung, die englische Wirtschaftsmacht sogar schon in sieben Jahren überflügeln zu können, verlangte die Zentralregierung in Peking immer mehr, sodass für die Menschen am Erzeugungsort nichts mehr übrig blieb. Sie verhungerten – schlicht und ergreifend.
Die Situation verschlimmerte sich noch, als Mao seine Stahl-Kampagne einleitete. Er wollte die Stahlproduktion Englands von 20 Millionen Tonnen überbieten, obwohl China 1957 de facto nur 4,8 Millionen Tonnen Stahl herstellen konnte. So forderte er in der Plenarsitzung von Beidaihe, dass der Stahlausstoß 1958 schon elf Millionen Tonnen betragen solle und in den darauf folgenden drei Jahren die 50-Millionen-Marke überschreiten müsse. Das sei von lebenswichtiger Bedeutung für die Volkswirtschaft und den Wohlstand des Volkes, es sei eine große Schlacht wie im Krieg zu schlagen. Alle Parteisekretäre der Provinzregierungen mussten nun den Arbeitsschwerpunkt von der Landwirtschaft auf die Industrieproduktion verlagern. Die Stahlproduktion sei jetzt die Schwerpunktindustrie, nachdem das Getreideproblem ja nun gelöst sei. Maos Worte klangen wie eine Drohung: „Jedes Unrecht hat einen Täter, jede Schuld einen Schuldner!“ Wenn die Aufgaben nicht erfüllt würden, müssten Disziplinarmaßnahmen verhängt werden. „Eisenharte Disziplin, nicht weicher Tofu.“ Man müsse Marx mit dem ersten Kaiser der Qin-Dynastie (einem besonders erfolgreichen, aber grausamen Kaiser) vereinen und den Sozialismus durch harte Bandagen stützen. Der Wunsch des „Großen Führers“ war wieder einmal Befehl. Sämtliche Provinzregierungen stellten nun Personal für das Stahlkochen ab, und das Getreide auf den Feldern wurde nicht mehr geerntet, weil Mao aufgrund der gefälschten Zahlen der Meinung war, dass es genug Getreide in den Speichern gäbe. Die Menschen mussten jetzt Stahl kochen, weil der Vorsitzende Mao von der Idee besessen war, dass China England nur einholen könnte, wenn der Ausstoß der Stahlproduktion jährlich um 100 Prozent erhöht wurde. Die „Große Stahlkoch-Kampagne“ ruinierte die ohnehin sehr schwache Volkswirtschaft Chinas nun endgültig. Es wurden Arbeitskräfte vergeudet, die man für den Getreideanbau dringend benötigt hätte. Millionen Hektar Wald wurden abgeholzt, um die nach ortsüblichen Verfahren manuell gezimmerten „Stahlöfen“ zu befeuern. Abermillionen Kochtöpfe und Kochgeschirr aus Metall wurden als Rohstoff geopfert, um die aberwitzigen Öfen zu füttern. Und mein Vater musste den Beschluss des Zentralkomitees der KPCh vom 30. August 1958 unter die Menschen bringen, dass nun 10,7 Millionen Tonnen Stahl zu produzieren waren. So schrieb er in der Zeitung über die schicksalhafte Bedeutung des Stahls für China und organisierte Modellaufführungen darüber, wie die Menschen gegenseitig ihre fachlichen Leistungen überprüfen und voneinander lernen konnten. Und er rief die Menschen dazu auf, der von Mao und dem Zentralkomitee gewünschten Richtung zu folgen. Es war nicht einfach, die Menschen dazu zu bewegen, ihre privaten Besitztümer aus Metall herzugeben. Viele verstanden nicht, wozu es gut sein sollte, bereits angefertigte Stahlutensilien wieder einzuschmelzen und Stahlbarren daraus zu machen. Mein Vater fragte seinen Chef, den Parteisekretär der Provinzregierung, ob man nicht auf die Kochtöpfe verzichten könnte, denn der dadurch gewonnene Stahl müsste doch letztendlich wieder für die Herstellung von Kochtöpfen hergenommen werden. Die einzige Antwort, die er bekam: Man müsse die staatlichen Abgabequoten erfüllen. Wurden die Quoten jemals erfüllt? Nein, nirgendwo im ganzen Land schaffte man die Erfüllung der Quoten. Stattdessen hatte man insgesamt 4,2 Millionen Tonnen Geschirr vernichtet und daraus wertlose Eisenschlacke hergestellt! Man glaubte wohl, dass man Stahl auf dieselbe Weise kochen könnte wie das beliebte Schweinefleisch in Sojasoße. Was man heute als komödienhafte Dummheit verlachen mag, wurde damals mit bitterem Ernst betrieben und endete in einer entsetzlichen Tragödie.
Nun zeigte sich die wahre Wirkung des „Raketenschießens“: Am 13. Mai 1960 musste mein Vater die der Sicherheitsbehörde vorliegende Meldung des Parteikomitees der Qinghai-Provinz präsentieren, dass im Kreis Huangzhong, unweit der Provinzhauptstadt Xining, mehr als 300 Fälle von Kannibalismus aufgetreten waren. Aus Hunger aßen Menschen Menschen, Onkel aßen Neffen und Nichten, Tibeter aßen Han-Chinesen und umgekehrt.
Ein mutiger Schritt
Eine ganze Generation junger Intellektueller wurde seelisch krank. So auch mein Vater, der, geplagt von Gewissensbissen und außerstande, weiterhin zu lügen, seine Propagandaarbeit nicht mehr fortsetzen konnte. Die Lethargie erfasste die ganze Nation und erzeugte bei ihm gleichzeitig einen inneren Widerstand. Sechs Jahre lang war er verantwortlich gewesen für die Inszenierung des schönen Scheins von einem sozialistischen Tibet. Mit seinem Dolmetscher und Leibwächter war er auf dem Rücken seines Pferdes kreuz und quer durchs Land gereist, hatte den Leuten die politischen Richtlinien erläutert und versucht, das Bewusstseinsniveau tibetischer Kader für Maos Politik zu heben. Zweimal hatte ihn dabei der Tod gestreift. Als er einmal im Kloster Kumbum Champa Ling übernachtete, überfielen bewaffnete Tibeter das Kloster, töteten ohne Unterschied alle Han-Chinesen, plünderten die Lebensmittelspeicher und verschleppten alle Pferde. Mein Vater wurde von einem alten Mönch in dessen Schlafgemach versteckt und entging so haarscharf dem Tod. Seine Mitreisenden hatten dieses Glück nicht gehabt und wurden alle massakriert. Noch einmal wurde mein Vater angeschossen, als er mit seiner Reitertruppe in dem weiten Wüstenland von Golmud unterwegs war. Er verlor sein geliebtes Pferd, jenen getreuen Gefährten und Freund, der ihn seit Jahren täglich begleitet hatte.
Das Phänomen Mao manifestierte sich unterdessen als Stehaufmännchen. Immer wieder schaffte es der Führer, seine innerparteilichen Widersacher zurückzuschlagen, obwohl die allgemeine Stimmung eindeutig gegen ihn war. Viele Freunde und Kollegen meines Vaters wurden als Rechtsabweichler verurteilt, in Arbeitslagern interniert und dem Hungertod überlassen, weil sie es gewagt hatten, Mao und dessen Politik offen zu kritisieren. Der beste Freund meines Vaters, der Violinist Su, starb in einem Arbeitslager an einer Vergiftung, weil er aus lauter Hunger heimlich das chemisch behandelte Saatgut gegessen hatte. Auch der Gouverneur Zhang, der oberste Chef meines Vaters, wurde entmachtet und eingesperrt, weil er offen die Idee der Volkskommune in tibetischen Gebieten als unzeitgemäß und schlecht durchführbar kritisiert hatte. Die Arbeit der Propaganda war immer widersinniger geworden. Mein Vater musste eine Schauspieltruppe und eine Wagenladung voller tibetischer Kostüme mitschleppen, wenn er aufs Land ging und den Anschein fabrizierte, dass es den Menschen in den Volkskommunen gutgehe. Überall wo er hinkam, gab es ein Fest. Denn er ließ die Schauspieler die traditionellen Gewänder der Tibeter anziehen, ließ sie singen und um ein Lagerfeuer tanzen. Die örtlichen Behörden mussten für die entsprechenden Fotos ein Festmahl herrichten, obwohl die Menschen in den Kommunen verhungerten. Tagtäglich erlebte er, wie Tibeter Han-Chinesen aus Hass und Wut umbrachten und ausraubten. Was er aber berichten musste, war, dass es den Menschen auf dem Land gutging und die Tibeter die Han-Chinesen brüderlich liebten. Er spürte seinen wachsenden inneren Widerstand, und dieser Widerstand machte ihm Angst. Er wusste, dass er früher oder später als Konterrevolutionär verurteilt und vernichtet werden würde, wenn er die Parteilinie nicht auf Ehre und Gewissen verteidigen konnte. Bevor es zu spät war, bevor auch er öffentlich als Rechtsabweichler abgestempelt würde, wollte er lieber selbst kündigen. Er wollte nicht mehr dazugehören, tat es aus Enttäuschung und Angst um seine eigene Zukunft und wegen der Vorahnung einer noch viel blutigeren Kulturrevolution.