Verschorfungen. Zhaoyang Chen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Zhaoyang Chen
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783347094284
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und ich integrierte mich wieder in das Schulleben. Über diese leidliche Erfahrung könnte ich ein eigenes Buch schreiben.

      Das erste Gedicht, das mein Großvater mir beibrachte, war

       „Behacke die Setzlinge unter der Mittagssonne,

       Schweißperlen rieseln auf Gräser und Erde.

       Wehe dem, der vom Essen im Teller nicht weiß,

       jedes Körnchen versinnbildlicht Eifer! „

      Ich bin natürlich sehr dankbar, dass mein Großvater sich so sehr um mich gesorgt hat und ich das Glück hatte, von ihm unterrichtet zu werden. Zu der häuslichen Erziehung gehörte auch das tägliche Vorlesen aus Tageszeitungen. Er hatte zwei Zeitungen abonniert – „Xuzhou Daily“ und „Cankaoxiaoxi“, Zeitungen, die bis heute nur China und der Parteipolitik zuträgliche Meldungen aus den ausländischen Medien zitieren. Ich musste ihm jeden Mittag nach dem Essen daraus vorlesen. So lernte ich viel mehr Schriftzeichen kennen, als wir aus den Schulbüchern lernten. Außerdem studierte ich die Texte Wort für Wort und merkte mir so den Inhalt besser. Beim Vorlesen konnte man nicht, wie mein Großvater oft sagte, eine „Dattel hinunterschlucken, ohne sie zu kauen“, was oft der Fall war, wenn ich alleine las. Die Gewohnheit des laut Lesens behielt ich auch beim Englischlernen bei. Ich las mir die Texte vor, nahm sie mit dem Kassettenrekorder auf und verglich danach das Gehörte mit dem Text. Das war eine effiziente Methode, mit der ich mit halbem Aufwand den doppelten Erfolg erzielte.

      Mein Großvater las außerdem noch die Zeitung „People´s Daily“, die vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei herausgegeben wurde. All die strategischen Pläne des „Großen Führers“ wurden dort publiziert, all seine Gedanken wurden in den Leitartikeln veröffentlicht. Von meinem Großvater übernahm ich das starke Interesse an dieser Zeitung, die ich heute noch lese. Mein Großvater entzifferte beim Lesen nie nur die Buchstaben. Er hatte die Fähigkeit entwickelt, zwischen den Zeilen zu lesen und zu erkennen, was die Regierung wirklich sagen wollte. Auch diese Fähigkeit erlernte ich von ihm. Die kommunistische Regierung sagte normalerweise nur das, was sie sagen musste. Was zu einem bestimmten Zeitpunkt zu einem bestimmten Thema mit einer bestimmten Wortwahl gesagt wurde, verdeutlichte, was in Wirklichkeit passierte und was die Partei eigentlich verbergen wollte. Ich empfehle vielen meiner Freunde, diese Zeitung zu lesen, wenn sie sich über China informieren wollen. Man sollte diese Zeitung gerade mit dem von Mao kritisierten analytischen Denken lesen, dabei lernt man viel über China und seine Politik.

       „Raketenschießen“

      Waren die Zeiten um meine Geburt völlig verrückt? Warum hatte mein Vater 1962 seine Beamtenstelle gekündigt und ein einfacher Mann des Volkes sein wollen? Ich versuche, diese Zeit der persönlichen Fehde zwischen Mao und Liu und der daraus resultierenden Anti-Liu-Deng-Bewegung zu skizzieren.

      1963, im Jahr meiner Geburt, war der Konflikt zwischen den Kommunisten Chinas und der Sowjetunion eskaliert, weil chinesische Kommunisten die sowjetische Partei unter der Führung von Nikita Chruschtschow als Revisionistenbande bezichtigten und deren kritische Haltung gegenüber Josef Stalin als Anti-Marxismus und Anti-Leninismus werteten. Die sowjetischen Arbeitskollegen meines Vaters und Helfer Chinas zogen zurück in ihr Land. Russisch wurde ab sofort in der Schule nicht mehr gelehrt. Sowjetunion wurde ein Schimpfwort und der Name Chruschtschow genauso unpopulär wie die amerikanischen Imperialisten. Der Kampf zwischen Nikita Chruschtschow und Mao Zedong um den Führungsanspruch in der kommunistischen Bewegung endete in diesem Jahr in einer öffentlichen Feindschaft. Mein Vater sagte mir, dass ein Grund für seine Kündigung ein Buch gewesen sei, das die Politik der Sowjetunion kritisierte. Das Buch, geschrieben von zwei japanischen Überseestudenten in Moskau, Shintani Akeo

und Adachi Shigeo
hatte den Titel „Ist die Sowjetunion ein sozialistisches Land?“. Chruschtschow wurde darin beschuldigt, einseitig den wirtschaftlichen Aufbau des Landes zu beschwören, soziale Ungleichheiten zu befördern und eine neue Arbeiteraristokratie zu etablieren. Er rehabilitiere die kapitalistische Produktionsweise, indem er Gratifikationen und Geldprämien eingeführt habe. Auch die Entspannungspolitik zwischen Chruschtschow und den USA wurde als revisionistisch und anti-stalinistisch interpretiert. Dieses Buch war in China das einzige übersetzte Werk in den 1960er-Jahren, das man in der Xinhua-Buchhandlung kaufen konnte.

      Was in dem Buch an der Sowjetunion unter Chruschtschow kritisierte wurde, entsprach genau den Tatsachen in China. Die Kritik an Chruschtschow war eine boshafte Anspielung auf die Politik von Liu Shaoqi. Damals, kurz nach der Hungerkatastrophe gab es von 1963 bis 1965 eine kurze Zeit der Entspannung. Staatspräsident Liu Shaoqi führte die Privatwirtschaft wieder ein, erlaubte den freien Handel und vergab Geldprämien an Arbeitswillige. In China keimte die Hoffnung, dass der Wechsel der Politik durch Liu Shaoqi Früchte tragen würde und die Wirtschaft Chinas sich erholen könnte. In den 1950er-Jahren hatte es noch eine Art freundschaftlichen Wettbewerb zwischen der Sowjetunion und China gegeben: Während Mao Zedong sich zum Ziel gesetzt hatte, England innerhalb von 15 Jahren wirtschaftlich einzuholen, wollte die Sowjetunion innerhalb von 15 Jahren die USA überflügeln. Aber wie schon erwähnt, war „Der Große Sprung nach Vorn“ in China kläglich gescheitert und hatte 36 Millionen Chinesen das Leben gekostet. Die Sowjetunion unter Chruschtschow zweifelte angesichts dieser ungeheuren Verluste und dem Personenkult nach Stalins Vorbild an Maos Fähigkeit, die kommunistische Bewegung tatsächlich führen zu können. Der „Große Führer“ war daraufhin beleidigt, beschimpfte die Sowjetunion als Revisionistenbande und setzte die UdSSR in seiner Rhetorik den amerikanischen Imperialisten gleich. Die UdSSR galt von nun an als Feind des chinesischen Volkes. Vor diesem Hintergrund wurde das Buch übersetzt und veröffentlicht. In dem Buch witterte mein Vater schon die kommende Revolution, die auch den Staatspräsidenten Liu Shaoqi und seine Führungsriege auf brutale Weise vernichtete. Mao schrieb selber Artikel für die Volkszeitung, in denen er Mao Zedongs Ideen – also seine eigenen – denen von Marx, Engels, Lenin und Stalin gleichsetzte und den chinesischen Revisionismus offen kritisierte. Die entspannende und friedensstiftende Haltung des Staatspräsidenten Liu Shaoqi gegenüber den USA, der UdSSR und Anrainerstaaten wie Indien, dessen Forderung nach einer Verbesserung der Versorgung durch die Zulassung von privater Wirtschaft, der Exportstopp von Hilfsgütern an sozialistische Bruderstaaten, all das war Mao zuwider. Er beschwor daher Feindbilder herauf und suchte den Krieg gegen „Imperialisten“ aller Art, der seiner Meinung nach unausweichlich war, obwohl Lius Entspannungspolitik gegenüber der UdSSR und den USA China eine Atempause verschafft hatte. Liu empfahl der Partei unbedingte Zurückhaltung hinsichtlich der Behauptung, dass ein Krieg unausweichlich wäre. Nach innen betrieb Liu eine pragmatische Wirtschaftspolitik, basierend auf einer individuellen Festsetzung von Produktionsquoten der einzelnen Haushalte und lehnte Volkskommunen und „das große Essen aus einem Topf ohne Rücksicht auf Leistung“ ab. Seit 1962 war es den Bauern erlaubt, Privatparzellen eigenverantwortlich zu bewirtschaften und ihre Produkte auf dem freien Markt zu verkaufen. Das empörte den „Großen Vorsitzenden“, der jegliche Privatwirtschaft und den freien Markt als puren Kapitalismus ablehnte. Mein Vater war erfahren genug, um daraus den Schluss zu ziehen, dass Mao Liu sehr bald absetzen würde.

      Natürlich war das Buch nicht der Hauptgrund für seine Kündigung gewesen, sondern allenfalls der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Mein Vater hatte sich das neue China anders vorgestellt, konnte nicht mehr mithalten mit den ununterbrochenen politischen Kampagnen und der Behandlung der Menschen, die wie Unkraut vernichtet wurden. Eine Enttäuschung folgte auf die nächste. Freunde und Kollegen aus der Sowjetunion von heute auf morgen zu verlieren, schockierte ihn, zumal die Sowjets dem Land durch vorbehaltlosen Technologietransfer und ohne fiskalische Berechnung