Verschorfungen. Zhaoyang Chen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Zhaoyang Chen
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783347094284
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China errungen hatten. Ab 1950 wurden „Xietong-Buchhandlung und Verlagshaus“ meines Großvaters im Zuge eines gesetzlich verordneten Joint Ventures sukzessive „verstaatlicht“. Tatsächlich aber war das eine Enteignung. Das bedeutete, dass die Buchhandlung nicht mehr meinem Großvater allein gehörte, sondern auch dem Staat. 1957 nach der vollständigen Enteignung und Entrechtung war mein Großvater dazu gezwungen, seinen Lebensunterhalt durch schwere körperliche Arbeit zu verdienen. Die Firma, in der er untergebracht wurde, war eine Arbeitseinheit, die speziell für die Umerziehung durch körperliche Arbeit und Resozialisierung der früheren „Ausbeuter“ und „Gedankenverbrecher“ gegründet worden war. Wie ein Zugtier musste er dort in der Transporteinheit einen zweirädrigen Handkarren aus Holz ziehen, um Sachen zu transportieren. Handkarren dieser Art waren selbst in meiner eigenen Kindheit noch immer das Haupttransportmittel, während von Pferden gezogene Fuhrwerke in der Stadt eher selten zu sehen waren. Noch seltener waren motorisierte Lastwägen. Da es in ganz China in den 1960er-Jahren weniger als 15 000 motorisierte Lastwägen gab, arbeiteten Logistikeinheiten und Fabriken fast ausschließlich mit diesen zweirädrigen Handkarren und später auch mit dreirädrigen Fahrradtransportern. Der Handkarren meines Großvaters war so groß, dass darin zwei Kubikmeter Waren Platz hatten. Je nach Warenart konnte die Ladung bis zu 1000 Kilogramm wiegen. So zog mein Großvater den Karren täglich zehn Stunden, mal allein, mal in einer Gruppe. Dafür bekam er einen Monatslohn von ungefähr 30 Yuan. Von diesem Geld mussten meine Großeltern nun leben und sich damit von so ziemlich allen bisherigen Lebensgewohnheiten verabschieden.

      Von Xuzhou aus transportierte seine Arbeitseinheit Textilien, Eisenwaren, chemische Erzeugnisse und Leichtindustriewaren für den täglichen Gebrauch in die umliegenden Gegenden; zurück in die Stadt brachte sie Früchte, Gemüse und Kohle. Wenn es keine Aufträge gab, dann arbeiteten die Leute für sich selbst und stachen torfähnlichen roten Lehm, der südlich von Xuzhou reichlich vorhanden war. Der Lehm war in Xuzhou als rote Erde bekannt. Eine Holzwagenladung roter Erde, die in Xuzhou sowohl als der Kohle beigemischtes Brennmaterial als auch als Baumaterial verwendet wurde, konnte ihnen einen Ertrag von zwei bis drei Yuan bringen. Einkünfte, die meinem Großvater durch Gewinnausschüttungen aus seinen Beteiligungen an der Buchhandlung, der Textilhandlung und der Möbel- und Sargmanufaktur zustanden, wurden anfangs von den Kommunisten zugesichert und auch bezahlt. Das erzwungene Joint Venture mit dem Staat hatte den ideologischen Hintergrund, Kapitalisten unter die Kontrolle der Arbeiterklasse zu bringen. So nahm es kein Wunder, dass die Ausschüttungen immer geringer und die Steuerabgaben immer größer wurden; der Staatsanteil dagegen wurde immer größer, obwohl der Staat de facto nichts investiert hatte. Mein Großvater wusste um die schleichende Enteignung, verzichtete aber freiwillig auf die Zinsausschüttung seines Kapitals und überließ dem Staat sowohl seine Anteile als auch seine Gewinnausschüttungen. Das war eine weise Entscheidung, wie sich herausstellen sollte. Denn während der „Fünf-Anti-Kampagne“(gegen Bestechung, Diebstahl von Staatseigentum, Steuerhinterziehung, Manipulation von Regierungsverträgen und Betriebsspionage) wurden 1952 viele Kapitalisten und Freunde von deren Familien zur Zwangsarbeit verbannt oder gar umgebracht, wenn sie auf ihrem Recht und der Erfüllung des Joint-Venture-Vertrags bestanden. Mein Großvater wurde hingegen von den Kommunisten als „vorbildlicher, patriotischer Nationalkapitalist“ dargestellt. Weil er niemals nur Geschäftsmann, sondern auch Buchhändler war, hatte er durch die Lektüre ihrer Schriften die Ideologie der neuen Machthaber und die Tragweite des Kommunismus schon weit vor 1949 durchschaut. Das rettete ihm das Leben, und so überstand er die nachfolgenden politischen Unterdrückungskampagnen zumindest körperlich unversehrt.

      Zusammen mit meinem Großvater arbeiteten zwei weitere Männer, die meine Kindheitserinnerung prägten. Grandpa Hu und Dr. Luo. Grandpa Hu war ein evangelischer Priester. Als Missionar der Evangelischen Kirche war er in den 1930er- und 1940er-Jahren kreuz und quer durch China gereist. Nun leitete er verschiedene evangelische Gemeinden um Xuzhou und war gleichzeitig in zahlreichen christlichen Gesellschaften aktiv. Da während der Kulturrevolution die Religionsausübung streng verboten war, wurde er wie mein Großvater gezwungen, seinen Lebensunterhalt durch harte körperliche Arbeit zu verdienen. Zum Arbeiten trug Grandpa Hu groteskerweise meistens einen langen schwarzen talarähnlichen Rock mit einem weißen Beffchen. Auch wenn er die Mao-Jacke anhatte, was sehr selten geschah, trug er die schmale weiße Halsbinde. Mein Großvater erklärte mir, dies sei ein Teil des Priestergewands für den Gottesdienst in der evangelischen Kirche. Grandpa Hu war ein demütiger, aber extrovertierter Mann. Er sprach Englisch, spielte Geige und Klavier und zitierte gerne aus der Bibel, wann immer er sich mit mir und meinen Geschwistern unterhielt. Er war es, der mich lehrte: „Wenn dich einer auf die linke Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.“ Obwohl ich seine Worte nicht gleich verstand, spürte ich instinktiv, dass dieses Bibelzitat (Matthäus 5,39) seine Geisteshaltung reflektierte. Die Tatsache, dass er trotz allen Leids und Verfolgung weder floh, noch zum Gegenangriff überging, sondern sich in seinem Glauben nicht beirren ließ, zeigte mir die Kraft dieses Glaubens. Ich erzählte ihm, wie in der Schule die rechtsabweichlerischen Lehrer geschlagen und gequält wurden. Grandpa Hu schüttelte nur den Kopf und sagte: „Die wissen nicht, was sie tun!“ Grandpa Hu hatte zwei Söhne – Johann und Jacob, beide waren getaufte Christen, die in der Kulturrevolution auf unnatürliche Weise ums Leben kommen sollten. Er erzählte mir oft in seiner ruhigen und gelassenen Art die Geschichte von Jesus und betonte dabei, dass erst Respekt aus Menschen Menschen mache. Er wahrte den Respekt vor sich selbst und vor seinen Peinigern in einer Zeit, in der Menschen vom „Führer“ zu Bestien gemacht wurden. Es ging ihm, so glaube ich heute, weniger um die Erfüllung eines moralischen Gebots, sondern eher um eine nüchterne Zurkenntnisnahme der brutalen Realität. Er resignierte nicht, er war nicht einmal verbittert. Beinahe fünfzig Jahre sind inzwischen vergangen, und wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, denke ich zwangsläufig an das Bibelzitat von Grandpa Hu. Ich glaube zu verstehen, was Grandpa Hu mir sagen wollte: Wenn wir uns von Hass leiten lassen, so lösen wir damit eine endlose Spirale von Gewalt und Gegengewalt aus. Obwohl ich das verstanden habe, bin ich nicht in der Lage, seine Weltanschauung zu teilen. Das Unrecht kann nicht nur vergeben, sondern muss auch aufgearbeitet werden. Der größte Massenmörder der chinesischen Geschichte liegt heute immer noch als „Held“ in seinem Kristallsarg in dem extra für ihn errichteten Mausoleum auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking und wird verehrt wie ein sakrosankter Heiliger. Ich würde ihm niemals meine rechte Wange hinhalten, wenn er mich auf die linke schlagen würde. Es muss vielmehr verhindert werden, dass die Geschichte sich wiederholt.

      Der andere Mann, der mit meinem Großvater zusammenarbeitete, war Dr. Luo Shaoyi. Deutlich jünger als mein Großvater und von großer, athletischer Statur, war er Doktor der Physik an der Qinghua-Universität, und mein Großvater sprach immer in einem sehr respektvollen Ton von ihm. Wegen seiner Kritik an dem vom „Großen Vorsitzenden“ Mao Zedong geführten „Großen Sprung nach vorn“, der letztlich mindestens 36 Millionen Menschenleben kostete, wurde er 1957 als Rechtsabweichler verurteilt und aus der Hauptstadt Peking verbannt. Verurteilung und Verbannung trafen ihn sehr hart, weil er, anders als Großvater und Grandpa Hu, ein überzeugter Kommunist war. Nach den offiziellen Angaben der KPCh waren mindestens 550 000 Menschen (nach neueren Berechnungen der BBC wahrscheinlich eher 30 Millionen) so wie er in die Verbannung geschickt worden. Dr. Luo Shaoyi war extrem schweigsam, redete wenig, aber dann sehr lehrmeisterhaft und bestimmend. Er trug keinen Arbeitsanzug, sondern kam immer mit nacktem Oberkörper zur Arbeit. Im Winter trug er einen Regenumhang aus Bast oder Stroh, darunter ein Hemd aus grob gewebtem Tuch. Seine Haut war so stark von der Sonne gebräunt, dass man ihn ohne Weiteres für einen Afrikaner hätte halten können. Oft wurde er von Rabauken und Lausbuben gejagt, beschimpft und geschlagen. Sie liefen ihm hinterher und riefen: „Nieder mit dem Rechtsabweichler, nieder mit dem Doppelzüngler!“ Er aber nahm alle Widrigkeiten und Schikanen hin, ohne Widerstand zu leisten. Er sagte immer: „Es sind nur Kinder, sie wissen nicht, was sie tun.“ Seine Augen waren klar und funkelten, wenn er mit seiner tiefen Baritonstimme redete. Er sprach perfektes Hochchinesisch. Das unterschied ihn stark von den Menschen in der Umgebung. Ihm habe ich es zu verdanken, dass ich meinen Xuzhou-Akzent schon sehr früh erkannte und mir abgewöhnen konnte. Dr. Luo Shaoyi spielte die chinesische Bambusflöte so schön, dass ich oft den Impuls verspürte, das Instrument auch zu erlernen. Er komponierte eine orientalisch klingende Marktschreiermelodie, die er ganz ehrfürchtig vortrug, wenn er seine rote Erde anpries. Seine Baritonstimme, vermischt mit dem gellenden