Simon schloss die Tür zu seinem Elternhaus auf – einem jener identisch aussehenden Reihenhäuser mit den Ziegelsteinfassaden, die typisch für sein Viertel in Brooklyn waren – und drückte sie einen Spalt auf, wobei er angestrengt lauschte.
Er hatte seiner Mutter erzählt, er würde bei Eric mit den anderen Bandmitgliedern für den Auftritt am Samstag proben. Und es hatte einmal eine Zeit gegeben, wo sie ihm einfach geglaubt hatte, ohne jede Nachfrage. Elaine Lewis war als Mutter immer ziemlich entspannt gewesen und hatte weder Simon noch seiner Schwester irgendwelche Vorschriften gemacht, auch nicht, wenn es darum ging, wann sie abends zu Hause sein sollten, nicht einmal an ganz normalen Schultagen. Simon war daran gewöhnt, bis spätnachts bei Clary zu bleiben, um dann gegen zwei Uhr morgens leise nach Hause zu kommen und in sein Bett zu fallen – ein Verhalten, das seiner Mutter früher nur selten einen Kommentar entlockt hatte.
Aber inzwischen sah die Sache völlig anders aus. Er war fast zwei Wochen lang in Idris gewesen, dem Heimatland aller Schattenjäger, und einfach von zu Hause verschwunden, ohne jede Möglichkeit zu einer Entschuldigung oder Erklärung. Im Anschluss hatte der Hexenmeister Magnus Bane eingreifen und Simons Mutter mit einem Amnesiezauber belegen müssen, sodass sie sich nun nicht mehr daran erinnern konnte, dass Simon überhaupt fort gewesen war. Oder zumindest nicht bewusst daran erinnerte. Allerdings hatte sich ihr Verhalten verändert. In den vergangenen Wochen war sie irgendwie argwöhnisch geworden – sie wich ihm kaum von der Seite, beobachtete ihn ständig und bestand darauf, dass er um eine bestimmte Uhrzeit zu Hause zu sein hatte. Als er beim letzten Mal von einem Date mit Maia spät heimgekehrt war, hatte er Elaine wartend in einem Sessel im Flur vorgefunden, die Arme über der Brust verschränkt und mit einem Ausdruck mühsam beherrschter Wut in den Augen.
An jenem Abend hatte er ihre Atmung wahrgenommen, noch bevor er sie gesehen hatte. Doch jetzt hörte er nur das dumpfe Geräusch des eingeschalteten Fernsehers, das aus dem Wohnzimmer in den Flur drang. Seine Mutter musste auf ihn gewartet haben, während sie wahrscheinlich etliche Folgen ihrer Lieblings-Krankenhausserie geguckt hatte. Leise drückte Simon die Haustür hinter sich ins Schloss und lehnte sich dagegen, um Kraft für eine weitere Lüge zu sammeln.
Es war schon schlimm genug, dass er in Gegenwart seiner Familie nichts essen konnte. Glücklicherweise fuhr seine Mutter frühmorgens zur Arbeit und kehrte oft erst spät zurück, und seine Schwester Rebecca, die in New Jersey aufs College ging und nur gelegentlich zu Hause aufkreuzte, um ihre Wäsche zu waschen, war zu selten da, um irgendetwas zu bemerken. Wenn Simon am Morgen aufstand, war seine Mutter meist schon aus der Tür und das liebevoll zubereitete Frühstück und das Mittagessen standen auf der Küchentheke. Beides entsorgte er auf dem Weg zur Schule in irgendeinem Müllcontainer. Dagegen gestaltete sich das Abendessen sehr viel schwieriger. Wenn seine Mutter zu Hause war, schob er das Essen lustlos auf dem Teller hin und her und behauptete, er hätte keinen Hunger. Oder er verkündete, er wolle den Teller mit auf sein Zimmer nehmen und beim Lernen essen. Ein oder zwei Mal hatte er sogar ein paar Bissen heruntergewürgt, nur um seine Mutter glücklich zu machen, aber danach hatte er Stunden schwitzend und würgend im Bad verbracht, bis auch der letzte Rest des Abendessens wieder aus seinem Körper heraus war.
Simon hasste es, dass er seine Mutter belügen musste. Früher hatte er immer Mitleid mit Clary gehabt, wegen ihres angespannten Verhältnisses zu Jocelyn, der überängstlichsten Mutter, die er kannte. Doch inzwischen war es genau umgekehrt: Seit Valentins Tod hatte sich Jocelyns restriktive Haltung gegenüber Clary so weit gelockert, dass man sie fast schon als normale Mutter bezeichnen konnte. Dagegen spürte Simon nun jedes Mal den schweren Blick seiner Mutter auf sich lasten, wie ein unausgesprochener Vorwurf, der ständig im Raum stand.
Entschlossen straffte er nun die Schultern, legte seine Kuriertasche neben der Haustür ab und ging ins Wohnzimmer, um sich die zu erwartende Gardinenpredigt anzuhören. Der Fernseher war auf den Nachrichtensender eingestellt und der Moderator berichtete gerade von einer ergreifenden Lokalstory – in einer Gasse hinter einem Krankenhaus in der Innenstadt hatte man einen ausgesetzten Säugling gefunden. Simon war überrascht: Normalerweise hasste seine Mom Nachrichtensendungen, weil sie sie deprimierend fand. Doch als er einen Blick auf das Sofa warf, war ihm sofort alles klar. Seine Mutter schlief tief und fest; ihre Brille lag auf dem Couchtisch und auf dem Boden stand ein halb leeres Glas. Simon konnte den Geruch bereits aus der Entfernung wahrnehmen – vermutlich Whisky – und verspürte einen heißen Stich. Seine Mutter trank so gut wie nie Alkohol.
Leise ging er in ihr Schlafzimmer und kehrte mit einer Häkeldecke zurück. Seine Mom schlief noch immer; ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig. Elaine Lewis war eine kleine, vogelartige Frau, mit einer Fülle schwarzer Locken, zwischen denen die ersten grauen Strähnen leuchteten. Aber sie weigerte sich, ihre Haare zu färben. Sie arbeitete für eine gemeinnützige Umweltorganisation und die meisten ihrer Kleidungsstücke waren mit Tiermotiven dieser Organisation versehen – so wie das mit Delfinen und Wellen bedruckte Batikkleid, das sie in diesem Moment trug, und die Anstecknadel, gefertigt aus einem in Bernstein konservierten, kleinen Fisch. Dessen lackiertes Auge schien Simon vorwurfsvoll anzustarren, als er sich zu seiner Mutter hinabbeugte, um ihr die Decke bis über die Schultern zu ziehen.
Im selben Augenblick bewegte sie sich unruhig und drehte den Kopf von ihm fort. »Simon«, wisperte sie. »Simon, wo bist du?«
Bestürzt ließ Simon die Decke los und richtete sich auf. Vielleicht sollte er sie wecken, damit sie sich nicht länger Sorgen machte. Aber dann würden wieder all die Fragen folgen, die er nicht beantworten wollte, und dieser gekränkte Ausdruck auf ihrem Gesicht erscheinen, den er nicht ertragen konnte. Leise wandte er sich ab und ging in sein Zimmer.
Müde warf er sich auf sein Bett und griff reflexartig nach dem Telefon auf dem Nachttisch, um Clarys Nummer zu wählen. Den Hörer in der Hand, hielt er einen Moment inne und lauschte auf das Freizeichen. Er konnte Clary nichts von Camille erzählen – schließlich hatte er versprochen, über das Angebot der Vampirdame Stillschweigen zu bewahren. Und obwohl Simon sich Camille gegenüber in keinster Weise verpflichtet fühlte, hatte er in den vergangenen Monaten eines gelernt: Es war keine gute Idee, eine Übereinkunft mit einem übernatürlichen Wesen zu brechen. Trotzdem wollte er gern Clarys Stimme hören, wie jedes Mal, wenn er einen harten Tag gehabt hatte. Wenigstens konnte er ihr sein Liebesleid klagen: Sein Privatleben schien sie immer wieder aufs Neue zu amüsieren. Simon rollte sich auf die Seite, zog sich das Kissen über den Kopf und wählte Clarys Nummer.
2 Freier Fall
»Und, wie ist deine Verabredung mit Isabelle gelaufen? Gut?«, fragte Clary, das Mobiltelefon ans Ohr geklemmt, während sie sich vorsichtig von einem Sparren zum nächsten bewegte. Die langen, schweren Holzbalken befanden sich in luftiger Höhe im Dachstuhl des Instituts, wo der Fechtsaal untergebracht war. Das Balancieren auf den Balken diente dem Gleichgewichtstraining – und Clary hasste es. Ihre Höhenangst machte die ganze Angelegenheit zu einem Albtraum, trotz des elastischen Seils um ihre Taille, das sie daran hindern sollte, bei einem Sturz auf den Boden aufzuschlagen. »Hast du ihr inzwischen von Maia erzählt?«, hakte sie nach.
Simon brachte ein leichtes, unverbindliches Räuspern hervor, das Clary eindeutig als ein »Nein« identifizierte. Im Hintergrund hörte sie Musik; sie konnte Simon förmlich vor sich sehen, wie er auf dem Bett lag, während die Stereoanlage leise vor sich hin dudelte. Er klang erschöpft – jene Sorte abgrundtiefer Erschöpfung, die den heiteren Tonfall in seiner Stimme Lügen strafte. Am Anfang des Gesprächs hatte Clary ihn mehrfach gefragt, ob alles in Ordnung sei, aber er hatte ihre Besorgnis einfach weggewischt.
Jetzt schnaubte sie verächtlich. »Du spielst mit dem Feuer, Simon. Ich hoffe, das ist dir klar.«
»Keine Ahnung. Meinst du wirklich, das Ganze ist so ein Riesenproblem?« Simon klang schwermütig. »Schließlich hab ich weder mit Isabelle noch mit Maia jemals darüber gesprochen, dass wir uns nicht auch mit anderen verabreden dürfen.«
»Ich will dir mal was über Mädchen verraten.« Vorsichtig ließ Clary sich auf einem der Balken nieder und ließ die Beine baumeln. Durch die geöffneten, halbrunden Bogenfenster strömte frische Nachtluft herein