Dabei war er so vorsichtig gewesen, hatte so hart um etwas gekämpft, was er als »normales Leben« bezeichnete – Schule, Freunde, sein eigenes Zuhause, sein eigenes Zimmer. Natürlich war es schwierig gewesen, aber so war das Leben nun mal. Alle anderen Möglichkeiten erschienen ihm derart trostlos und einsam, dass er gar nicht daran denken mochte. Und dennoch ertönte nun Camilles Stimme in seinem Kopf. Was ist in zehn Jahren, wenn du eigentlich deinen sechsundzwanzigsten Geburtstag feiern solltest? Oder in zwanzig oder dreißig Jahren? Glaubst du ernsthaft, dass niemand merken wird, wie alle um dich herum altern und sich verändern, nur du nicht?
Die Situation, die er für sich geschaffen und so sorgfältig in die Rahmenbedingungen seines alten Lebens eingepasst hatte, war nie von Dauer gewesen, erkannte er nun niedergeschlagen. Und das hatte sie auch nicht sein können. Denn er hatte sich an Schatten der Vergangenheit und Erinnerungen geklammert. Erneut musste er an Camille und an ihr Angebot denken. Mittlerweile klang es deutlich verlockender als noch vor ein paar Tagen: das Angebot, Teil einer Gemeinschaft zu werden, selbst wenn es sich nicht um die Gemeinschaft handelte, die er sich wünschte. Ihm blieben nur noch drei Tage, bis die Vampirdame eine Reaktion von ihm erwartete. Und was würde er ihr dann sagen? Er hatte gedacht, er würde die Antwort kennen, doch inzwischen war er sich nicht mehr so sicher.
Ein knirschendes Geräusch riss ihn aus seinen düsteren Gedanken. Das Garagentor bewegte sich langsam nach oben und grelles Tageslicht drang in die Dunkelheit des Raumes. Simon setzte sich ruckartig auf; sein ganzer Körper war plötzlich in Alarmbereitschaft versetzt.
»Eric?«
»Nein. Ich bin’s nur. Kyle.«
»Kyle?«, wiederholte Simon verständnislos, ehe er sich erinnerte – das war der Typ, den sie als Leadsänger für die Band engagieren wollten. Fast hätte Simon sich wieder auf den Boden gelegt. »Ach ja, richtig. Von den anderen ist momentan keiner da, falls du also gehofft hast, heute proben zu können…«
»Ist schon okay. Deswegen bin ich nicht hier.« Kyle betrat die Garage, die Hände in den Gesäßtaschen seiner Jeans, und blinzelte in die Dunkelheit. »Du bist der… der Dingsda… der Bassist, stimmt’s?«
Simon erhob sich vom Boden und klopfte sich den Staub von der Kleidung. »Hi, ich heiße Simon.«
Langsam schaute Kyle sich um, eine Sorgenfalte auf der Stirn. »Ich muss gestern meine Schlüssel hier irgendwo verloren haben… glaube ich zumindest. Ich hab schon überall danach gesucht. Hey, da sind sie ja.« Er bückte sich, verschwand kurz hinter dem Drumset und kam eine Sekunde später wieder hoch, einen rasselnden Schlüsselbund triumphierend in der Hand. Seit dem Vortag hatte er sich nicht sonderlich verändert; allerdings trug er dieses Mal ein blaues T-Shirt unter seiner Lederjacke und um seinen Hals glitzerte eine Goldkette mit einem Heiligen-Medaillon. Aber seine dunklen Haare wirkten noch verwuschelter als zuvor. »Sag mal«, setzte er nun an und lehnte sich gegen einen der Lautsprecher, »hast du gerade geschlafen? Hier auf dem Boden?«
Simon nickte. »Bin zu Hause rausgeflogen.« Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber mehr wollte er im Moment nicht preisgeben.
Kyle nickte verständnisvoll. »Deine Mom hat deinen Stoff gefunden, was? Echt übel.«
»Nein. Keinen… Stoff.« Simon zuckte die Achseln. »Wir hatten eine Meinungsverschiedenheit über meinen Lebensstil.«
»Dann hat sie also von deinen beiden Freundinnen erfahren?«, fragte Kyle grinsend.
Er sah wirklich gut aus – das musste Simon ihm lassen. Aber im Gegensatz zu Jace, der um seine Attraktivität genau zu wissen schien, wirkte Kyle wie jemand, der sich wahrscheinlich seit Wochen nicht gekämmt hatte. Allerdings strahlte er eine welpenhafte Offenheit und Freundlichkeit aus.
»Kirk hat mir davon erzählt. Echt cool, Mann«, grinste Kyle.
Simon schüttelte den Kopf. »Nein, darum ging’s auch nicht.«
Einen Moment lang herrschte Stille, dann verkündete Kyle: »Ich… lebe auch nicht mehr zu Hause. Bin schon vor ein paar Jahren ausgezogen.« Er schlang die Arme um seinen Oberkörper, ließ den Kopf hängen und fügte dann mit leiser Stimme hinzu: »Seitdem habe ich nicht mehr mit meinen Eltern geredet. Ich meine, ich komme allein ganz gut klar, aber… ich verstehe, wie das ist.«
»Deine Tattoos…«, wechselte Simon abrupt das Thema und berührte kurz seine eigene Haut, »was bedeuten die?«
Kyle streckte seine Arme. »Shaantih shaantih shaantih«, erläuterte er. »Das sind Mantras aus den Upanishaden. Sanskrit. Gebete für Frieden.«
Normalerweise hätte Simon eine Tätowierung in Sanskrit für ziemlich angeberisch gehalten, nicht jedoch in dieser Situation. »Shalom«, sagte er.
Verwundert schaute Kyle ihn an. »Was?«
»Shalom bedeutet Frieden«, erklärte Simon. »Ist Hebräisch. Ich musste nur gerade daran denken, dass die Worte irgendwie ähnlich klingen.«
Kyle warf ihm einen langen Blick zu; er schien über etwas nachzudenken. Schließlich meinte er: »Das mag jetzt ein wenig verrückt erscheinen, aber…«
»Ach, keine Sorge. Meine Definition von ›verrückt‹ ist in den vergangenen Monaten ziemlich dehnbar geworden.«
». . . aber ich habe eine Wohnung. In Alphabet City. Und mein Mitbewohner ist gerade ausgezogen. Ist eine Zweizimmerwohnung, daher könntest du in seinem ehemaligen Zimmer pennen. Es hat ein Bett und alles, was man so braucht.«
Simon zögerte. Einerseits kannte er Kyle überhaupt nicht und der Gedanke, in die Wohnung eines völlig Fremden zu ziehen, klang nach einem kapitalen Fehler. Möglicherweise entpuppte Kyle sich ja als Serienkiller, trotz seiner Friedens-Tattoos. Andererseits kannte er Kyle überhaupt nicht, was bedeutete, dass dort niemand nach ihm suchen würde. Und welche Rolle spielte es schon, falls Kyle tatsächlich ein Massenmörder war?, überlegte Simon bitter. Das würde dem Jungen schlechter bekommen als ihm selbst, genau wie bei dem Straßenräuber am Abend zuvor.
»Weißt du, was?«, sagte er schließlich. »Ich denke, ich werde dein Angebot annehmen, wenn das okay ist.«
Kyle nickte. »Mein Pick-up steht draußen, falls du mit mir zusammen in die Stadt willst.«
Simon bückte sich nach seiner Reisetasche, richtete sich wieder auf und schob sich die Griffe über die Schulter. Dann steckte er sein Handy ein und spreizte die Arme. »Okay – dann mal los.«
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