»Ich hoffe, du machst das Ganze nicht nur wegen Jace«, hatte Jocelyn abschließend säuerlich bemerkt. »Ich weiß, wie es ist, sich in jemanden zu verknallen. Man möchte ständig in seiner Nähe sein und alles tun, was er auch tut. Aber Clary…«
»Ich bin nicht du«, hatte Clary mit mühsam unterdrückter Wut gekontert. »Die Schattenjäger sind nicht der Kreis und Jace ist nicht Valentin.«
»Ich habe Valentin mit keinem Wort erwähnt.«
»Aber du hast es gedacht«, hatte Clary gesagt. »Mag ja sein, dass Valentin Jace aufgezogen hat, aber Jace ist kein bisschen wie er.«
»Das kann ich nur hoffen«, hatte Jocelyn leise erwidert. »Für uns alle.« Irgendwann hatte sie nachgegeben, allerdings unter folgenden Bedingungen:
Clary durfte nicht ins Institut ziehen, sondern musste mit ihrer Mutter bei Luke wohnen, und Jocelyn erhielt von Maryse wöchentliche Berichte über Clarys Lernfortschritte (wahrscheinlich wollte ihre Mutter sich vergewissern, dass Clary nicht nur die ganze Zeit Jace anschmachtete – oder was immer sie sonst befürchtete).
Außerdem durfte Clary nicht im Institut übernachten; in diesem Punkt kannte Jocelyn kein Pardon. »Du schläfst nicht in dem Haus, in dem dein fester Freund wohnt«, hatte sie mit resoluter Stimme gefordert. »Und es ist mir egal, ob es sich dabei um das Institut handelt. Unter keinen Umständen.«
Fester Freund. Das Wort jagte ihr noch immer einen wohligen Schauer über den Rücken. Schließlich hatte es sehr lange danach ausgesehen, dass Jace niemals ihr fester Freund sein konnte und dass sie niemals mehr als Bruder und Schwester füreinander sein durften. Diese Vorstellung war so hart und schrecklich, dass sie beide zu dem Schluss gekommen waren, es sei besser, einander überhaupt nicht mehr zu sehen. Aber das wäre einem langsamen Tod gleichgekommen. Doch dann hatte sich das Blatt wie durch ein Wunder gewendet und sie waren von allen Fesseln befreit worden. Seit diesem Tag waren sechs Wochen vergangen, aber Clary hatte sich an dem Begriff noch immer nicht sattgehört.
»Ich muss nach Hause«, sagte sie nun. »Es ist schon kurz vor elf und meine Mom flippt jedes Mal aus, wenn ich nach zehn noch hier bin.«
»Okay.« Jace legte die obere Hälfte seiner Montur auf die Holzbank. Darunter trug er ein dünnes T-Shirt, durch dessen Gewebe Clary seine schwarzen Runenmale erkennen konnte, wie Tusche, die durch feuchtes Papier dringt. »Ich bring dich zur Tür«, fügte er hinzu.
Das Gebäude lag still und schweigend da, während sie die leeren Gänge durchquerten. Im Moment waren keine fremden Schattenjäger aus anderen Städten im Institut zu Gast. Robert, Isabelles und Alecs Vater, befand sich in Idris, um bei der Bildung der neuen Kongregation zu helfen; und da Hodge und Max für immer von ihnen gegangen waren und Alec mit Magnus im Ausland weilte, hatte Clary das Gefühl, als würden sich die verbliebenen Bewohner wie Gäste in einem fast leeren Hotel bewegen. Sie wünschte, andere Mitglieder der New Yorker Division würden öfter zu Besuch vorbeischauen, aber vermutlich wollten alle den Lightwoods etwas Zeit für sich gönnen: Zeit, um um Max zu trauern, und Zeit, um zu vergessen.
»Hast du mal was von Alec und Magnus gehört?«, fragte Clary. »Amüsieren sie sich gut?«
»Sieht ganz so aus.« Jace holte sein Handy aus der Hosentasche und reichte es Clary. »Alec schickt mir ständig nervige Fotos. Mit jeder Menge Untertiteln wie Schade, dass du nicht hier bist… andererseits aber auch nicht.«
»Na ja, das kannst du ihm ja wohl kaum zum Vorwurf machen. Schließlich ist das Ganze als romantische Reise zu zweit gedacht.« Rasch scrollte Clary durch die Bilder auf Jace’ Mobiltelefon und musste kichern. Alec und Magnus vor dem Eiffelturm: Alec wie üblich in Jeans und T-Shirt und Magnus in einer dunklen Lederhose, einem blau-weiß gestreiften Fischerpullover und mit einer aberwitzigen Baskenmütze auf dem Kopf. Auch im Florentiner Boboli-Garten spazierte Alec noch immer in Jeans und T-Shirt herum, während Magnus sich ein riesiges venezianisches Cape übergeworfen hatte und dazu einen breiten Gondoliere-Hut trug. Er sah aus wie das Phantom der Oper. Vor dem Prado präsentierte er sich in einer glitzernden Torero-Jacke und mit hohen Plateau-Stiefeln, während Alec im Hintergrund in aller Ruhe eine Taube fütterte.
»Ich nehm dir das jetzt weg, ehe du zu den Fotos aus Indien kommst«, meinte Jace und steckte sein Handy wieder ein. »Magnus in einem Sari… Es gibt Dinge, die man sein Leben lang nicht mehr vergisst.«
Clary lachte. Inzwischen standen sie vor dem Aufzug, der sofort seine klapprige Tür öffnete, als Jace auf den Knopf drückte. Jace folgte Clary in die Kabine – und in dem Moment, in dem sich das Gefährt ruckartig in Bewegung setzte und Clarys Magen wie üblich einen Satz machte, zog er sie dicht an sich heran. Im dämmrigen Schein der schwachen Beleuchtung legte sie ihm die Hände auf die Brust, spürte die harte Muskulatur unter seinem T-Shirt und den schnellen Rhythmus seines Herzschlags. Seine Augen funkelten.
»Tut mir leid, dass ich nicht bleiben kann«, wisperte sie.
»Das muss dir nicht leidtun.« Der raue Unterton in seiner Stimme überraschte sie. »Jocelyn will nicht, dass du so wirst wie ich. Und das kann ich ihr nicht verübeln.«
»Jace«, setzte Clary an, ein wenig bestürzt von der Bitterkeit in seiner Stimme, »ist alles in Ordnung?«
Statt einer Antwort küsste er sie und zog sie noch fester an sich. Sein Körper presste ihren gegen die Aufzugswand, sodass das Metall des Spiegels kalt gegen ihren Rücken drückte. Dann umfassten seine Hände ihre Taille und schoben sich unter ihren Pullover. Clary liebte die Art und Weise, wie er sie hielt. Behutsam, aber nicht zu sanft… nicht so sanft, dass sie jemals das Gefühl bekam, er hätte sich besser im Griff als sie selbst. Denn weder Jace noch sie konnten ihre Gefühle füreinander kontrollieren, und das gefiel ihr. Und es gefiel ihr auch, wie sein Herz aufgeregt gegen ihres wummerte und wie er leise gegen ihre geöffneten Lippen murmelte, sobald sie seinen Kuss erwiderte.
Ruckelnd kam der Aufzug zum Stehen und die Tür schwang auf. Durch das Gitter konnte Clary das leere Mittelschiff der Kathedrale erkennen, das von einer Reihe brennender Kerzen in Metallständern erhellt wurde. Schweigend hielt Clary sich einen Moment an Jace fest, dankbar, dass das schwache Licht im Aufzug verhinderte, dass sie ihr eigenes glühendes Gesicht im Spiegel sah.
»Vielleicht kann ich ja doch bleiben«, flüsterte sie schließlich. »Wenigstens noch ein kleines bisschen länger.«
Jace schwieg. Clary konnte die Anspannung seines Körpers spüren und verkrampfte sich ebenfalls. Dies war mehr als nur körperliche Erregtheit: Jace bebte förmlich. Er zitterte am ganzen Körper, als er sein Gesicht in ihrer Halsbeuge vergrub.
»Jace«, setzte Clary erneut an.
In dem Moment gab er sie plötzlich frei und trat einen Schritt zurück. Seine Wangen glühten und seine Augen funkelten fiebrig. »Nein«, stieß er hervor, »ich will deiner Mutter nicht noch mehr Gründe liefern, mich zu hassen. Sie hält mich sowieso schon für eine Inkarnation meines Vaters…«
Er verstummte, bevor Clary widersprechen konnte: Valentin war nicht dein Vater. Normalerweise achtete Jace sorgfältig darauf, Valentin Morgenstern immer bei seinem Namen zu nennen und ihn nie als »mein Vater« zu bezeichnen – falls er Valentin überhaupt erwähnte. In der Regel mieden sie dieses Thema und Clary hatte gegenüber Jace nie eingeräumt, dass ihre Mutter fürchtete, er wäre insgeheim genau wie Valentin. Denn sie wusste, dass auch nur die kleinste Andeutung in diese Richtung Jace schwer kränken würde. Daher tat Clary