Simon wich einen Schritt zurück. »Ganz ruhig, Mann«, setzte er an und griff zu seiner Gesäßtasche. »Du kannst mein Portemonnaie ja haben…«
Doch der Mann stürzte auf ihn zu, die Waffe auf seine Brust gerichtet. Ungläubig schaute Simon an sich herab: Alles schien sehr langsam, wie in Zeitlupe zu passieren. Er sah die Spitze der Klinge auf seiner Brust, sah, wie sie das Leder seiner Jacke eindrückte… und dann zur Seite glitt, als hätte jemand den Arm des Angreifers gepackt und weggerissen. Im nächsten Moment schrie der Mann laut auf und wurde wie eine Marionette an ihren Drähten in die Luft gewirbelt. Hastig schaute Simon sich um – irgendjemand musste den ganzen Tumult doch gehört oder bemerkt haben, aber weit und breit war niemand zu sehen. Der Mann schrie weiterhin wie am Spieß und zuckte und zappelte, während sein T-Shirt vorne aufklaffte, als würde das Gewebe von unsichtbaren Händen zerrissen.
Entsetzt starrte Simon auf das Geschehen. Tiefe Wunden erschienen auf dem Oberkörper des Mannes. Sein Kopf flog nach hinten und Blut schoss aus seinem Mund. Seine Schreie verstummten schlagartig und dann stürzte er zu Boden – als hätte die unsichtbare Hand sich geöffnet und ihn freigegeben. Mit einem dumpfen Dröhnen schlug er auf dem Pflaster auf und zerschellte dann wie Glas in Tausende glitzernde Partikel, die sich über den Gehweg verteilten.
Simon sank auf die Knie. Das Messer, das ihn hatte töten sollen, lag nur wenige Schritte entfernt – das Einzige, was von dem Angreifer noch übrig geblieben war, abgesehen von einem Haufen schimmernder Kristalle, die der böige Wind bereits in alle Himmelsrichtungen zerstreute. Vorsichtig berührte Simon eines der Körnchen. Es war Salz.
Simon schaute auf seine Hände herab. Sie zitterten. Er wusste, was passiert war und auch warum.
Da sprach der HERR: Fürwahr, wer Kain totschlägt, zieht sich siebenfache Rache zu!
So sah also siebenfache Rache aus.
Er schaffte es gerade noch bis zum Rinnstein, ehe er sich auch schon zusammenkrümmte und sich blutig auf die Straße erbrach.
In dem Moment, in dem Simon die Haustür öffnete, wusste er, dass er sich verschätzt hatte. Er hatte gedacht, seine Mutter schliefe längst, aber das war nicht der Fall. Sie saß hellwach im Flur, in einem Sessel, der zur Tür gewandt war, das Telefon neben sich auf einem Tischchen. Und das Blut auf seiner Jacke sah sie sofort.
Zu seiner Überraschung schrie sie nicht auf, sondern schlug nur erschrocken eine Hand vor den Mund: »Simon!«
»Das ist nicht mein Blut«, erklärte er hastig. »Ich war bei Eric… und Matt hatte Nasenbluten…«
»Spar dir die Mühe.« Einen derart harschen Ton schlug sie nur selten an – er erinnerte Simon an die Zeit, als sein Vater im Sterben gelegen hatte und Sorgen und Angst die Stimme seiner Mutter scharf wie ein Messer hatten klingen lassen. »Ich will mir keine weiteren Lügen von dir anhören.«
Simon legte den Hausschlüssel auf den Tisch neben der Tür. »Mom…«
»Du erzählst mir nichts als Märchen. Ich bin es endgültig leid.«
»Das stimmt doch gar nicht«, widersprach Simon, aber er wusste, dass sie recht hatte, und verspürte einen Stich im Magen. »Ich hab im Moment einfach nur furchtbar viel zu tun.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Seine Mutter erhob sich aus dem Sessel; sie war schon immer sehr dünn gewesen, doch jetzt wirkte sie regelrecht hager und ihre dunklen Haare waren von deutlich mehr grauen Strähnen durchzogen, als er in Erinnerung hatte. »Komm mal mit, junger Mann. Und zwar sofort.«
Verwirrt folgte Simon ihr in die kleine, leuchtend gelbe Küche, wo seine Mutter abrupt stehen blieb und auf die Küchentheke zeigte. »Kannst du mir das mal erklären?«
Simon bekam mit einem Mal einen trockenen Mund. Auf der Theke standen wie Zinnsoldaten die Flaschen mit Blut aufgereiht, die er in seinem Mini-Kühlschrank in den Tiefen seines Kleiderschranks aufbewahrt hatte. Eine war halb leer, die anderen noch bis zum Rand gefüllt; die rote Flüssigkeit darin schimmerte anklagend. Seine Mutter hatte außerdem die Blutbeutel gefunden, die er ausgespült und sorgfältig in eine Plastiktüte gestopft hatte, ehe er sie in der Mülltonne versenkt hatte. Auch sie lagen ausgebreitet auf der Küchentheke wie eine groteske Dekoration.
»Ich hab erst gedacht, das wäre Wein«, sagte Elaine Lewis mit zittriger Stimme. »Aber dann habe ich die Beutel gefunden. Also habe ich eine der Flaschen geöffnet. Das ist Blut. Stimmt’s?«
Simon schwieg. Scheinbar hatte er seine Stimme verloren.
»In letzter Zeit hast du dich sehr merkwürdig verhalten«, fuhr seine Mutter fort. »Du bleibst bis tief in die Nacht fort, isst nichts, schläfst kaum, triffst dich mit Freunden, die ich nicht kenne, von denen ich noch nicht einmal gehört habe. Glaubst du wirklich, ich merke es nicht, wenn du mich belügst? Das tue ich sehr wohl, Simon. Anfangs hab ich gedacht, du würdest vielleicht Drogen nehmen.«
Plötzlich fand Simon seine Stimme wieder: »Dann hast du also mein Zimmer durchsucht?«
Seine Mutter errötete. »Das musste ich doch! Ich dachte… ich dachte, wenn ich dort Drogen finde, dann könnte ich dir helfen… dich vielleicht in einem Entzugsprogramm unterbringen. Aber das hier?« Aufgebracht zeigte sie auf die Flaschen. »Ich weiß ja nicht einmal, was ich davon halten soll. Was geht hier vor, Simon? Hast du dich irgendeiner Sekte angeschlossen?«
Simon schüttelte den Kopf.
»Dann erzähl es mir«, sagte seine Mutter mit bebender Unterlippe. »Denn die einzigen Erklärungen, die mir selbst einfallen, sind alle grässlich und pervers. Bitte, Simon…«
»Ich bin ein Vampir«, erwiderte Simon. Er hatte keine Ahnung, wie er das gesagt hatte oder warum. Aber jetzt war es heraus. Die Worte hingen wie eine Giftwolke zwischen ihnen in der Luft.
Seiner Mutter schienen die Knie zu versagen und sie sank auf einen der Küchenstühle. »Was hast du gerade gesagt?«, hauchte sie fassungslos.
»Ich bin ein Vampir«, wiederholte Simon. »Schon seit etwa zwei Monaten. Tut mir leid, dass ich es dir nicht schon eher gesagt habe, aber ich wusste einfach nicht, wie.«
Elaine Lewis war kreidebleich im Gesicht. »Es gibt keine Vampire, Simon.«
»Doch«, widersprach er, »es gibt sie sehr wohl. Hör zu, Mom, ich hab nicht darum gebeten, in einen Vampir verwandelt zu werden. Ich bin angegriffen worden; ich hatte keine Chance. Wenn ich könnte, würde ich es sofort rückgängig machen.« Seine Gedanken kehrten zu der Broschüre zurück, die ihm Clary vor so langer Zeit in die Hand gedrückt hatte – das Infoblatt zum Thema »Wie oute ich mich gegenüber meinen Eltern«. Damals hatte er den Vergleich lustig gefunden, doch inzwischen war ihm das Lachen vergangen.
»Du glaubst nur, du wärst ein Vampir«, sagte Simons Mutter benommen. »Du glaubst, du würdest Blut trinken.«
»Nein, ich trinke tatsächlich Blut. Tierblut«, erklärte Simon.
»Aber du bist doch Vegetarier.« Seine Mutter sah aus, als würde sie mit den Tränen kämpfen.
»Das war ich mal. Aber jetzt nicht mehr. Weil das nicht mehr möglich ist: Blut ist das Einzige, was mich am Leben hält.« Simon spürte einen Kloß im Hals. »Ich habe noch nie jemandem wehgetan. Und ich würde niemals das Blut eines anderen Menschen trinken. Ich bin immer noch dieselbe Person. Ich bin immer noch ich.«
Seine Mutter schien um Fassung zu ringen. »Deine neuen Freunde… sind das auch Vampire?«
Simon dachte an Isabelle, Maia, Jace. Er konnte seiner Mutter unmöglich die Existenz von Schattenjägern und Werwölfen erklären. Es wäre einfach zu viel gewesen. »Nein, aber sie wissen, dass ich einer bin«, erwiderte er bedächtig.
»Haben… haben sie dir Drogen gegeben? Haben sie dich gezwungen, etwas einzunehmen? Etwas, das Halluzinationen hervorruft?« Sie schien seine Antwort kaum wahrgenommen zu haben.
»Nein.