Raphaels Miene verdüsterte sich. »Deine Art von Fragen gefällt mir nicht, Tageslichtler.«
»Aber ich habe das Recht, diese Dinge zu erfahren.«
»Nein, hast du nicht«, konterte Raphael. »Du kommst zu mir und fragst mich, ob du in meinem Hotel bleiben darfst. Aber nur, weil du sonst nirgends hinkannst. Nicht weil du mit anderen deiner Art zusammen sein willst. Du meidest uns.«
»Was – wie ich bereits sagte – unter anderem daran liegt, dass du versucht hast, mich zu töten.«
»Das Dumont ist keine öffentliche Einrichtung für unentschlossene Vampire«, fuhr Raphael fort. »Du lebst unter Menschen, du wandelst bei Tage, du spielst in deiner dämlichen Band – jaja, glaub bloß nicht, ich wüsste das nicht. In jeder erdenklichen Hinsicht weigerst du dich zu akzeptieren, dass du ein Vampir bist. Und solange sich daran nichts ändert, bist du im Dumont nicht willkommen.«
Simon dachte an Camilles Worte: In dem Moment, in dem seine Anhänger sehen, dass du an meiner Seite stehst, werden sie ihm den Rücken kehren und zu mir kommen. Ich bin davon überzeugt, dass sie mir ergeben sind… trotz ihrer Furcht vor Raphael. Wenn sie uns erst einmal gemeinsam sehen, wird diese Furcht verfliegen und sie werden sich uns anschließen. »Weißt du«, setzte er an, »ich hab auch noch andere Angebote erhalten.«
Raphael musterte ihn, als wäre er vollkommen verrückt geworden. »Was für Angebote?«
»Na ja… Angebote halt«, sagte Simon wenig überzeugend.
»Du bist furchtbar schlecht im Taktieren, Simon Lewis. Ich schlage vor, du lässt in Zukunft lieber die Finger davon.«
»Na schön«, murrte Simon. »Eigentlich wollte ich dir ja was mitteilen, aber jetzt verzichte ich darauf.«
»Und vermutlich wirst du auch das Geburtstagsgeschenk wegwerfen, das du extra für mich gekauft hast«, höhnte Raphael. »Wirklich sehr, sehr tragisch.« Er richtete das Motorrad auf und schwang ein Bein über die Sitzbank, worauf die Maschine röhrend zum Leben erwachte. Rote Funken flogen aus dem Auspuff. »Wenn du mich noch mal belästigen willst, Tageslichtler, dann solltest du besser einen triftigen Grund haben. Anderenfalls werde ich nicht so nachsichtig sein wie jetzt.« Und mit diesen Worten machte das Motorrad einen Satz nach vorn und dann in die Luft.
Simon legte den Kopf in den Nacken und schaute Raphael nach, der wie der Engel, nach dem er benannt war, in den Nachthimmel hinaufstieg, eine Spur rot glühender Funken hinter sich herziehend.
Clary balancierte ihren Skizzenblock auf den Knien und kaute nachdenklich auf dem Ende ihres Bleistifts herum. Sie hatte Jace Dutzende Male gezeichnet – vermutlich war das ihre Version der Tagebucheinträge, in denen die meisten Mädchen Gedanken über ihren festen Freund festhielten –, aber sie schien einfach nicht in der Lage, ihn exakt porträtieren zu können. Zum einen war es fast unmöglich, ihn dazu zu bringen, mal einen Moment ruhig zu sitzen. Deshalb hatte sie gedacht, es wäre einfacher, ihn zu malen, während er schlief – aber das Ergebnis war noch immer nicht so, wie sie es sich wünschte. Die Zeichnung sah einfach nicht aus wie Jace.
Frustriert warf sie den Skizzenblock auf die Picknickdecke, zog seufzend die Knie hoch und betrachtete ihn. Irgendwie hatte sie nicht damit gerechnet, dass er einschlafen würde. Sie waren in den Central Park gekommen, um zu picknicken und im Freien zu trainieren, solange das Wetter noch mitspielte. Und eines davon hatten sie auch tatsächlich getan: Diverse Plastikschälchen und Styroporschachteln von Taki’s lagen neben der Decke im Gras verstreut. Jace hatte nicht viel gegessen, sondern nur lustlos in seinen Sesamnudeln herumgestochert, dann die Box beiseitegestellt und sich auf die Decke fallen lassen, den Blick starr zum Himmel gerichtet. Clary hatte dagesessen und auf ihn hinabgeschaut, hatte die Spiegelung der Wolken in seinen klaren Augen beobachtet, die Konturen seiner muskulösen Arme, die er hinter dem Kopf verschränkt hatte, den Streifen perfekt glatter Haut, der zwischen dem Saum seines T-Shirts und dem Gürtel seiner Jeans zum Vorschein gekommen war. Und Clary hatte sich nichts sehnlicher gewünscht, als die Hand auszustrecken und über seinen flachen, festen Bauch zu streicheln. Stattdessen hatte sie den Blick abgewandt und nach ihrem Skizzenblock gesucht. Als sie sich wieder zu ihm umdrehte, den Bleistift in der Hand, waren ihm bereits die Augen zugefallen und seine Atmung ging ruhig und gleichmäßig.
Inzwischen war sie bei ihrer dritten Skizze, aber immer noch meilenweit von einer Zeichnung entfernt, die ihren Ansprüchen genügte. Während sie Jace so betrachtete, fragte sie sich, warum sie ihn einfach nicht porträtieren konnte. Dabei waren die Lichtverhältnisse perfekt: Die sanfte Oktobersonne übergoss sein ohnehin schon goldbraunes Haar und die hell schimmernde Haut mit ihrem warmen goldenen Schein. Seine geschlossenen Lider wurden von goldenen Wimpern gesäumt, die einen Hauch dunkler schienen als seine Haare. Eine Hand lag locker auf der Brust, die andere leicht geöffnet neben der Hüfte. Im Schlaf wirkte sein Gesicht entspannter und verwundbarer, weicher und weniger kantig als im Wachzustand. Vielleicht war ja genau das das Problem: Jace war so selten entspannt und verwundbar, dass es ihr schwerfiel, seine Konturen in diesem Zustand auch festzuhalten, jetzt, da er schlafend vor ihr lag. Irgendwie wirkte er… fremd.
Genau in diesem Moment rührte er sich im Schlaf: Er stieß kleine, keuchende Laute aus, seine Augen zuckten unter den geschlossenen Lidern hin und her, seine Hand verkrampfte sich und er schreckte so ruckartig hoch, dass er Clary fast umgestoßen hätte. Er riss die Augen auf und schaute sich einen Moment benommen um. Sein Gesicht war kreidebleich.
»Jace, was ist?« Clary konnte ihre Überraschung nicht verbergen.
Sein Blick konzentrierte sich auf ihre Augen und im nächsten Moment riss er Clary an sich, ohne seine sonst übliche Zurückhaltung und Sanftheit. Er zog sie auf seinen Schoß und küsste sie leidenschaftlich, während seine Hände durch ihre Haare wühlten. Clary konnte sein Herz gegen ihres schlagen spüren und fühlte dann, wie ihre Wangen erröteten. Sie waren in einem öffentlichen Park und die Leute starrten vermutlich schon zu ihnen herüber.
»Wow!«, stieß Jace hervor und zog sich etwas zurück, während ein Lächeln seine Lippen umspielte. »’tschuldigung. Damit hattest du wahrscheinlich nicht gerechnet.«
»Jedenfalls war es eine angenehme Überraschung«, murmelte Clary; ihre Stimme klang selbst in ihren eigenen Ohren tief und heiser. »Wovon um alles in der Welt hast du geträumt?«
»Von dir.« Langsam wickelte er eine von Clarys roten Locken um seinen Finger. »Ich träume immer von dir.«
»Ach, wirklich?«, fragte Clary, noch immer auf seinem Schoß, die Knie links und rechts neben seinen Hüften. »Ich dachte nämlich, du hättest einen Albtraum.«
Jace legte den Kopf in den Nacken, um sie in Ruhe anzuschauen. »Manchmal träume ich, du wärst fort«, erklärte er. »Ich frag mich noch immer, wann du endlich herausfindest, dass du mich verlassen und dir eine wesentlich bessere Partie schnappen solltest.«
Vorsichtig berührte Clary sein Gesicht mit den Fingerspitzen, zeichnete sanft die Konturen seiner Wangenknochen nach und ließ ihre Finger bis zu seinen geschwungenen Lippen gleiten. Derartige Dinge sagte er nur zu ihr. Aus langjähriger Erfahrung wussten Alec und Isabelle zwar, dass unter dem Schutzschild aus spöttischem Humor und vorgeblicher Arroganz die quälenden Erinnerungen seiner zerrütteten Kindheit noch immer an ihm nagten. Aber Clary war die Einzige, der gegenüber er diese Dinge auch laut aussprach. Langsam schüttelte sie den Kopf, woraufhin ihr die Haare nach vorn in die Stirn fielen und sie sie ungeduldig beiseitefegte.
»Ich wünschte, ich könnte so gut formulieren wie du«, sagte sie. »Alles, was du sagst… jeder Satz… das ist einfach perfekt. Du findest immer die richtigen Worte, weißt immer, was du sagen musst, damit ich dir glaube, dass du mich liebst. Aber wenn ich dich nicht davon überzeugen kann, dass ich dich nie verlassen werde…«
Jace umfing ihre Hand