»Willst du mich nicht reinlassen?«, fragte sie.
Jace warf rasch einen Blick in den Flur, aber weit und breit war niemand zu sehen. Gott sei Dank. Er nahm Clary am Arm, zog sie in sein Zimmer und schloss die Tür. Dann lehnte er sich mit dem Rücken dagegen und fragte: »Was tust du hier? Ist alles in Ordnung?«
»Alles in bester Ordnung.« Clary kickte die Schuhe von den Füßen und ließ sich auf der Bettkante nieder. Als sie sich zurücklehnte und auf die Hände stützte, rutschte der Saum ihres Rocks nach oben und zeigte noch mehr Bein als zuvor – was für Jace’ Konzentration nicht gerade förderlich war. »Du hast mir gefehlt«, fügte sie hinzu. »Und Mom und Luke schlafen tief und fest. Sie werden gar nicht merken, dass ich mich aus dem Haus geschlichen habe.«
»Du solltest besser nicht hier sein«, presste Jace hervor; die Worte klangen fast gequält. Er hasste sich dafür, doch er wusste, dass sie gesagt werden mussten – aus Gründen, die Clary nicht einmal kannte. Und die sie hoffentlich nie erfahren würde.
»Okay, wenn du willst, dass ich gehe…« Clary erhob sich. Ihre Augen schimmerten grün. Dann trat sie einen Schritt näher. »Aber ich bin den ganzen weiten Weg hierhergekommen. Du könntest mir wenigstens einen Abschiedskuss geben.«
Sofort streckte Jace die Arme nach ihr aus, zog sie an sich und küsste sie. Es gab nun mal ein paar Dinge, die man einfach tun musste, auch wenn das Ganze keine gute Idee war. Clary schmiegte sich an ihn wie feine Seide. Er schob seine Hände in ihre Haare und löste die Zöpfe, bis ihre Locken weich über die Schultern fielen – so wie er es mochte. Er erinnerte sich, dass er dies schon bei ihrer ersten Begegnung hatte tun wollen und den Gedanken dann als vollkommen verrückt abgetan hatte: Sie war eine Irdische, eine Fremde; es ergab überhaupt keinen Sinn, sie zu begehren. Und dann hatte er sie zum ersten Mal geküsst, damals im Gewächshaus, und dieser Kuss hatte ihn fast umgehauen. Anschließend waren sie nach unten gegangen und kurz darauf von Simon unterbrochen worden. In seinem ganzen Leben hatte Jace niemanden mehr umbringen wollen als Simon in jenem Moment, obwohl er verstandesmäßig genau wusste, dass Simon nichts Falsches getan hatte. Aber seine Gefühle hatten nichts mit seinem Verstand zu tun, und als er sich vorstellte, wie Clary ihn für Simon verließ, hatte der Gedanke ihn fast in den Wahnsinn getrieben und ihm mehr Angst eingejagt als jeder Dämon.
Und dann hatte Valentin ihnen erzählt, sie seien Bruder und Schwester, und Jace hatte erkannt, dass es viel schlimmere, unendlich viel schlimmere Dinge gab, als von Clary für jemand anderen verlassen zu werden – nämlich das Wissen, dass seine Liebe zu ihr auf schreckliche Weise unermesslich falsch war: Der scheinbar reinste und makelloseste Aspekt in seinem Leben war plötzlich unrettbar entweiht. Er erinnerte sich an die Worte seines Vaters: Wenn Engel fallen, dann fallen sie unter Qualen, denn sie haben das Antlitz Gottes gesehen und werden es nie mehr zu Gesicht bekommen. Und damals hatte er genau gewusst, was Engel in diesem Moment fühlten.
Aber das hatte nicht dazu geführt, dass er Clary weniger begehrte; es hatte seine Sehnsucht nach ihr nur zu einer Qual gemacht. Manchmal legte die Erinnerung an diese Tortur sich wie ein dunkler Schatten auf sein Gemüt – selbst wenn er sie küsste, so wie jetzt – und weckte in ihm das Bedürfnis, sie noch fester an sich zu drücken. Clary machte einen überraschten Laut, protestierte aber nicht, als er sie hochhob und zu seinem Bett trug.
Gemeinsam fielen sie darauf und zerknitterten dabei ein paar der verstreuten Briefe, während Jace das Kästchen von der Bettdecke fegte, um Platz für sie zu schaffen. Sein Herz wummerte wie wild in seinem Brustkorb. Nie zuvor hatten sie auf diese Weise gemeinsam im Bett gelegen. Natürlich war da jene Nacht in Idris gewesen, aber damals hatten sie sich kaum berührt. Jocelyn achtete sorgsam darauf, dass keiner der beiden beim jeweils anderen die Nacht verbrachte. Sie mochte ihn nicht besonders, vermutete Jace, und er konnte es ihr nicht verübeln. Wenn er an ihrer Stelle gewesen wäre, hätte er sich selbst wahrscheinlich auch nicht sonderlich ins Herz geschlossen.
»Ich liebe dich«, wisperte Clary. Sie hatte ihm das T-Shirt über den Kopf gestreift und fuhr mit den Fingerspitzen über die Narben auf seinem Rücken und das sternförmige Mal an seiner Schulter – ein Abbild ihres eigenen Mals und Erinnerung an den Engel, dessen Blut durch ihrer beider Adern floss. »Ich möchte dich nicht verlieren.«
Jace schob seine Hand nach unten, um den Knoten in ihrer Bluse zu lösen. Seine andere Hand, mit der er sich auf der Matratze abstützte, streifte das kalte Metall des Jagddolches – die Waffe musste sich mit dem restlichen Inhalt des Kästchens über das Bett verteilt haben. »Das wird niemals geschehen«, murmelte er.
Mit leuchtenden Augen schaute sie zu ihm auf. »Wie kannst du dir da so sicher sein?«
Seine Hand schloss sich um den Dolchgriff. Das Mondlicht, das durch das Fenster hereinfiel, spiegelte sich in der Klinge, als er die Waffe hob. »Ich weiß es einfach«, sagte er und ließ den Dolch herabsausen. Die Klinge durchbohrte Clarys Brust, als wäre sie aus Papier. Und als sich ihr Mund zu einem überraschten Laut öffnete und Blut die Vorderseite ihrer weißen Bluse rot färbte, dachte er, Oh Gott, bitte nicht schon wieder.
Das Erwachen aus diesem Albtraum erschien ihm jedes Mal wie ein Sturz durch eine Glasscheibe: Die rasierklingenscharfen Scherben schnitten ihm förmlich durch die Seele, als er sich ruckartig aufsetzte und keuchend nach Luft schnappte. Er rollte sich aus dem Bett, einem Instinkt folgend, der ihn möglichst schnell möglichst weit wegbringen sollte, und schlug mit Händen und Knien auf dem harten Steinboden auf. Kalte Nachtluft strömte durch das offene Fenster herein und ließ ihn schaudern, sorgte aber gleichzeitig dafür, dass auch die letzten, zäh haftenden Fetzen seines Albtraums fortgeweht wurden.
Jace starrte auf seine Hände – nicht ein Tropfen Blut klebte daran. Das Bett war vollkommen zerwühlt, die Decken und Laken von seinem unruhigen Schlaf zu einem wirren Knäuel verdreht. Doch das Kästchen mit den Briefen und Besitztümern seines Vaters stand unangetastet auf dem Nachttisch, dort, wo er es vor dem Schlafengehen abgestellt hatte.
In den ersten Nächten, in denen ihn dieser Albtraum heimgesucht hatte, war er schweißüberströmt aufgewacht und hatte sich übergeben müssen. Inzwischen achtete er sorgfältig darauf, schon Stunden vor dem Zubettgehen nichts mehr zu essen; daher rächte sich sein Körper an ihm, indem er ihn mit Krämpfen und Fieberanfällen schüttelte. Und auch jetzt erfasste ihn ein solcher Krampf und er krümmte sich keuchend und trocken würgend zusammen, bis der Anfall vorüber war.
Als der Krampf nachließ, presste er die Stirn auf den kühlen Steinboden. Kalter Schweiß rann ihm über den Rücken, das T-Shirt klebte an seiner Haut und er fragte sich erschöpft, ob die Albträume ihn eines Tages umbringen würden. Er hatte schon alles versucht, um sich dagegen zu schützen – Schlaftabletten und Schlummertrünke, Runen für Nachtruhe und friedliche Stunden. Doch nichts half. Die Albträume sickerten wie Gift in seinen Verstand und es gab nichts, was er dagegen tun konnte.
Selbst tagsüber fiel es ihm schwer, Clary direkt anzusehen. Sie hatte ihn immer auf eine Weise durchschaut, wie niemand anderes es konnte, und er mochte sich gar nicht vorstellen, was sie wohl denken würde, wenn sie vom Inhalt seiner Albträume wüsste. Mühsam rollte er sich auf die Seite und starrte auf das Kästchen auf dem Nachttisch, in dessen silberner Oberfläche sich das Mondlicht brach. Und er dachte an Valentin. Valentin, der die einzige Frau, die er je geliebt hatte, gequält und eingesperrt hatte und der seinen Sohn – seine beiden Söhne – gelehrt hatte, dass lieben zerstören heißt.
Seine Gedanken überschlugen sich, als er die Worte wieder und wieder murmelte – sie waren für ihn zu einer Art Mantra geworden, und wie bei jedem Mantra hatten die einzelnen Worte im Laufe der Zeit immer mehr an Bedeutung verloren.
Ich bin nicht wie Valentin. Ich will nicht wie er sein. Ich werde nicht wie er sein. Nein, niemals.
Vor seinem inneren Auge sah er Sebastian – Jonathan, genau genommen –, seinen sogenannten Bruder, der ihn hämisch angegrinst hatte, während seine schwarzen Augen unter den wirren silberweißen Haaren vor gnadenloser