Die Geisteswissenschaften. Wilhelm Dilthey. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilhelm Dilthey
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788075837370
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      Es muß versucht werden, dem, welcher in das vorliegende Werk über die Geisteswissenschaften eintritt, einen vorläufigen Überblick über den Umfang dieser anderen Hälfte des globus intellectualis zu geben, und vermittels desselben die Aufgabe des Werkes zu bestimmen.

      Die Wissenschaften des Geistes sind noch nicht als ein Ganzes konstituiert; noch vermögen sie nicht einen Zusammenhang aufzustellen, in welchem die einzelnen Wahrheiten nach ihren Abhängigkeitsverhältnissen von anderen Wahrheiten und von der Erfahrung geordnet wären.

      Diese Wissenschaften sind in der Praxis des Lebens selber erwachsen, durch die Anforderungen der Berufsbildung entwickelt und die Systematik der dieser Berufsbildung dienenden Fakultäten ist daher die naturgewachsene Form des Zusammenhangs derselben. Wurden doch ihre ersten Begriffe und Regeln zumeist in der Ausübung der gesellschaftlichen Funktionen selber gefunden. Ihering hat nachgewiesen, wie juristisches Denken durch eine im Rechtsleben selber sich vollbringende bewußte geistige Arbeit die Grundbegriffe des römischen Rechts geschaffen hat. So zeigt auch die Analyse der älteren griechischen Verfassungen in ihnen die Niederschläge einer bewundernswürdigen Kraft bewußten politischen Denkens auf Grund klarer Begriffe und Sätze. Der Grundgedanke, welchem gemäß die Freiheit des Individuums in seinem Anteil an der politischen Gewalt gelegen ist, dieser Anteil aber gemäß der Leistung des Individuums für das Ganze durch die staatliche Ordnung geregelt wird, ist zuerst für die politische Kunst selber leitend gewesen, danach von den großen Theoretikern der sokratischen Schule nur in wissenschaftlichem Zusammenhang entwickelt worden. Der Fortgang zu umfassenden wissenschaftlichen Theorien lehnte sich dann vorwiegend an das Bedürfnis einer Berufsbildung der leitenden Stände an. So entsprangen schon in Griechenland aus den Aufgaben eines höheren politischen Unterrichts in dem Zeitalter der Sophisten Rhetorik und Politik, und die Geschichte der meisten Geisteswissenschaften bei den neueren Völkern zeigt den herrschenden Einfluß desselben Grundverhältnisses. Die Literatur der Römer über ihr Gemeinwesen empfing ihre älteste Gliederung dadurch, daß sie in Instruktionen für die Priestertümer und die einzelnen Magistrate sich entwickelte.10 Daher ist schließlich die Systematik derjenigen Wissenschaften des Geistes, welche die Grundlage der Berufsbildung der leitenden Organe der Gesellschaft enthalten, sowie die Darstellung dieser Systematik in Enzyklopädien aus dem Bedürfnis der Übersicht über das für solche Vorbildung Erforderliche hervorgegangen, und die natürlichste Form dieser Enzyklopädien wird, wie Schleiermacher meisterhaft an der Theologie gezeigt hat, immer die sein, welche mit Bewußtsein von diesem Zwecke aus den Zusammenhang gliedert. Unter diesen einschränkenden Bedingungen wird der in die Geisteswissenschaften Eintretende in solchen enzyklopädischen Werken einen Überblick über einzelne hervorragende Gruppen dieser Wissenschaften finden.11

      Versuche, solche Leistungen überschreitend, die Gesamtgliederung der Wissenschaften zu entdecken, welche die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit zum Gegenstande haben, sind von der Philosophie ausgegangen. Sofern sie von metaphysischen Prinzipien her diesen Zusammenhang abzuleiten versuchten, sind sie dem Schicksal aller Metaphysik anheimgefallen. Einer besseren Methode bediente sich schon Bacon, indem er mit dem Problem einer Erkenntnis der Wirklichkeit durch Erfahrung die vorhandenen Wissenschaften des Geistes in Beziehung setzte und ihre Leistungen wie ihre Mängel an der Aufgabe maß. Comenius beabsichtigte in seiner Pansophia aus dem Verhältnis der inneren Abhängigkeit der Wahrheiten voneinander die Stufenfolge, in welcher sie im Unterricht auftreten müssen, abzuleiten, und wie er so im Gegensatz gegen den falschen Begriff der formalen Bildung den Grundgedanken eines künftigen Unterrichtswesens (das leider auch heute noch Zukunft ist) entdeckte, hat er durch das Prinzip der Abhängigkeit der Wahrheiten von einander eine angemessene Gliederung der Wissenschaften vorbereitet. Indem Comte die Beziehung zwischen diesem logischen Verhältnis von Abhängigkeit, in welchem Wahrheiten zu einander stehen, und dem geschichtlichen Verhältnis der Abfolge, in welchem sie auftreten, der Untersuchung unterwarf: schuf er die Grundlage für eine wahre Philosophie der Wissenschaften. Die Konstitution der Wissenschaften der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeiten betrachtete er als das Ziel seiner großen Arbeit, und in der Tat brachte sein Werk eine starke Bewegung in dieser Richtung hervor; Mill, Littré, Herbert Spencer haben das Problem des Zusammenhangs der geschichtlich-gesellschaftlichen Wissenschaften aufgenommen.12 Diese Arbeiten gewähren dem in die Geisteswissenschaften Eintretenden eine ganz andere Art von Überblick als die Systematik der Berufsstudien. Sie stellen die Geisteswissenschaften in den Zusammenhang der Erkenntnis, sie fassen das Problem derselben in seinem ganzen Umfang, und nehmen die Lösung in einer die ganze geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit umfassenden wissenschaftlichen Konstruktion in Angriff. Jedoch, erfüllt von der unter den Engländern und Franzosen heute herrschenden verwegenen wissenschaftlichen Baulust, ohne das intime Gefühl der geschichtlichen Wirklichkeit, welches nur aus einer vieljährigen Beschäftigung mit derselben in Einzelforschung sich bildet, haben diese Positivisten gerade denjenigen Ausgangspunkt für ihre Arbeiten nicht gefunden, welcher ihrem Prinzip der Verknüpfung der Einzelwissenschaften entsprochen hätte. Sie hätten ihre Arbeit damit beginnen müssen, die Architektonik des ungeheuren, durch Anfügung beständig erweiterten, von innen immer wieder veränderten, durch Jahrtausende allmählich entstandenen Gebäudes der positiven Geisteswissenschaften zu ergründen, durch Vertiefung in den Bauplan sich verständlich zu machen, und so der Vielseitigkeit, in welcher diese Wissenschaften sich tatsächlich entwickelt haben, mit gesundem Blick für die Vernunft der Geschichte gerecht zu werden. Sie haben einen Notbau errichtet, der nicht haltbarer ist, als die verwegenen Spekulationen eines Schelling und Oken über die Natur. Und so ist es gekommen, daß die aus einem metaphysischen Prinzip entwickelten Geistesphilosophien Deutschlands, von Hegel, Schleiermacher und dem späteren Schelling, den Erwerb der positiven Geisteswissenschaften mit tieferem Blick verwerten, als die Arbeiten dieser positiven Philosophen es tun.

      Andere Versuche einer umfassenden Gliederung auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften sind in Deutschland von der Vertiefung in die Aufgaben der Staatswissenschaften ausgegangen, wodurch freilich eine Einseitigkeit des Gesichtspunktes bedingt ist.13

      Die Geisteswissenschaften bilden nicht ein Ganzes von einer logischen Konstitution, welche der Gliederung des Naturerkennens analog wäre; ihr Zusammenhang hat sich anders entwickelt und muß wie er geschichtlich gewachsen ist nunmehr betrachtet werden.

      V. Ihr Material

       Inhaltsverzeichnis

      Das Material dieser Wissenschaften bildet die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit, soweit sie als geschichtliche Kunde im Bewußtsein der Menschheit sich erhalten hat, als gesellschaftliche, über den gegenwärtigen Zustand sich erstreckende Kunde der Wissenschaft zugänglich gemacht worden ist. So unermeßlich dieses Material ist, so ist doch seine Unvollkommenheit augenscheinlich. Interessen, welche dem Bedürfnis der Wissenschaft keineswegs entsprechen, Bedingungen der Überlieferung, welche in keiner Beziehung zu diesem Bedürfnis stehen, haben den Bestand unserer geschichtlichen Kunde bestimmt. Von der Zeit ab, in welcher, um das Lagerfeuer versammelt, Stammes- und Kriegsgenossen von den Taten ihrer Helden und dem göttlichen Ursprung ihres Stammes erzählten, hat das starke Interesse der Mitlebenden aus dem dunklen Flusse des gewöhnlichen menschlichen Lebens Tatsachen emporgehoben und bewahrt. Das Interesse einer späteren Zeit und geschichtliche Fügung haben darüber entschieden, was von diesen Tatsachen auf uns gelangen sollte. Geschichtschreibung, als eine freie Kunst der Darstellung, faßt einen einzelnen Teil dieses unermeßlichen Ganzen zusammen, der des Interesses unter Irgendeinem Gesichtspunkt wert erscheint. Dazu kommt: die heutige Gesellschaft lebt sozusagen auf den Schichten und Trümmern der Vergangenheit, die Niederschläge der Kulturarbeit in Sprache und Aberglaube, in Sitte und Recht, wie andererseits in materiellen Veränderungen, die über Aufzeichnungen hinausgehen, enthalten eine Überlieferung, welche in unschätzbarer Weise die Aufzeichnungen unterstützt. Auch über ihre Erhaltung hat doch die Hand der geschichtlichen Fügung entschieden. Nur an zwei Punkten besteht ein den Anforderungen der Wissenschaft entsprechender Zustand des Materials. Der Verlauf der geistigen Bewegungen in dem neueren Europa ist in den Schriften, welche seine Bestandteile sind, mit einer zureichenden Vollständigkeit erhalten. Und die Arbeiten der Statistik gestatten für den engen Zeitraum und den engen Bezirk von Ländern,