Die Geisteswissenschaften. Wilhelm Dilthey. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilhelm Dilthey
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788075837370
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Tatsache seines Bewußtseins ist, so liegt in dieser selbständig in ihm wirkenden geistigen Welt jeder Wert, jeder Zweck des Lebens, in der Herstellung geistiger Tatbestände jedes Ziel seiner Handlungen. So sondert er von dem Reich der Natur ein Reich der Geschichte, in welchem, mitten in dem Zusammenhang einer objektiven Notwendigkeit, welcher Natur ist, Freiheit an unzähligen Punkten dieses Ganzen aufblitzt; hier bringen die Taten des Willens, im Gegensatz zu dem mechanischen Ablauf der Naturveränderungen, welcher im Ansatz alles, was in ihm erfolgt, schon enthält, durch ihren Kraftaufwand und ihre Opfer, deren Bedeutung das Individuum ja in seiner Erfahrung gegenwärtig besitzt, wirklich etwas hervor, erarbeiten Entwicklung, in der Person und in der Menschheit: über die leere und öde Wiederholung von Naturlauf im Bewußtsein hinaus, in deren Vorstellung als einem Ideal geschichtlichen Fortschritts die Götzenanbeter der intellektuellen Entwicklung schwelgen.

      Vergeblich freilich hat die metaphysische Epoche, für welche diese Verschiedenheit der Erklärungsgründe sich sofort als eine substantiale Verschiedenheit in der objektiven Gliederung des Weltzusammenhangs darstellte, gerungen, Formeln für die objektive Grundlage dieses Unterschieds der Tatsachen des geistigen Lebens von denen des Naturlaufs festzustellen und zu begründen. Unter allen Veränderungen, welche die Metaphysik der Alten bei den mittelalterlichen Denkern erfahren hat, ist keine folgenreicher gewesen, als daß nunmehr, im Zusammenhang mit den alles beherrschenden religiösen und theologischen Bewegungen, inmitten deren diese Denker standen, die Bestimmung der Verschiedenheit zwischen der Welt der Geister und der Welt der Körper, alsdann der Beziehung dieser beiden Welten zu der Gottheit, in den Mittelpunkt des Systems trat. Das metaphysische Hauptwerk des Mittelalters, die Summa de veritate catholicae fidei des Thomas, entwirft von seinem zweiten Buche ab eine Gliederung der geschaffenen Welt, in welcher die Wesenheit (essentia quidditas) von dem Sein (esse) unterschieden ist, während in Gott selber diese beiden eins sind2; in der Hierarchie der geschaffenen Wesen weist es als ein oberstes notwendiges Glied die geistigen Substanzen nach, welche nicht aus Materie und Form zusammengesetzt, sondern per se körperlos sind: die Engel; von ihnen scheidet es die intellektuellen Substanzen oder unkörperlichen subsistierenden Formen, welche zur Komplettierung ihrer Spezies (nämlich der Spezies: Mensch) der Körper bedürfen, und entwickelt an diesem Punkte eine Metaphysik des Menschengeistes, im Kampf gegen die arabischen Philosophen, deren Einwirkung bis auf die letzten metaphysischen Schriftsteller unserer Tage verfolgt werden kann3; von dieser Welt unvergänglicher Substanzen grenzt es den Teil des Geschaffenen ab, welcher in der Verbindung von Form und Materie sein Wesen hat. Diese Metaphysik des Geistes (rationale Psychologie) wurde dann, als die mechanische Auffassung des Naturzusammenhangs und die Korpuskularphilosophie zur Herrschaft gelangten, von anderen hervorragenden Metaphysikern zu derselben in Beziehung gesetzt. Aber jeder Versuch scheiterte, auf dem Grunde dieser Substanzenlehre mit den Mitteln der neuen Auffassung der Natur eine haltbare Vorstellung des Verhältnisses von Geist und Körper auszubilden. Entwickelte Descartes auf der Grundlage der klaren und deutlichen Eigenschaften der Körper als von Raumgrößen seine Vorstellung der Natur als eines ungeheuren Mechanismus, betrachtete er die in diesem Ganzen vorhandene Bewegungsgröße als konstant: so trat mit der Annahme, daß auch nur eine einzige Seele von außen in diesem materiellen System eine Bewegung erzeuge, der Widerspruch in das System. Und die Unvorstellbarkeit einer Einwirkung unräumlicher Substanzen auf dies ausgedehnte System wurde dadurch um nichts verringert, daß er die räumliche Stelle solcher Wechselwirkung in einen Punkt zusammenzog: als könne er die Schwierigkeit damit verschwinden machen. Die Abenteuerlichkeit der Ansicht, daß die Gottheit durch immer sich wiederholende Eingriffe dies Spiel der Wechselwirkungen unterhalte, der anderen Ansicht, daß vielmehr Gott als der geschickteste Künstler die beiden Uhren des materiellen Systems und der Geisterwelt von Anfang an so gestellt, daß ein Vorgang der Natur eine Empfindung hervorzurufen, ein Willensakt eine Veränderung der Außenwelt zu bewirken scheine, erwiesen so deutlich als möglich die Unverträglichkeit der neuen Metaphysik der Natur mit der überlieferten Metaphysik geistiger Substanzen. So wirkte dieses Problem als ein beständig reizender Stachel zur Auflösung des metaphysischen Standpunktes überhaupt. Diese Auflösung wird sich vollständig in der später zu entwickelnden Erkenntnis vollziehen, daß das Erlebnis des Selbstbewußtseins der Ausgangspunkt des Substanzbegriffes ist, daß dieser Begriff aus der Anpassung dieses Erlebnisses an die äußeren Erfahrungen, welche das nach dem Satze vom Grunde fortschreitende Erkennen vollzogen hat, entspringt und so diese Lehre von den geistigen Substanzen nichts als eine Rückübertragung des in einer solchen Metamorphose ausgebildeten Begriffs auf das Erlebnis ist, in welchem sein Ansatz ursprünglich gegeben war.

      An die Stelle des Gegensatzes von materiellen und geistigen Substanzen trat der Gegensatz der Außenwelt, als des in der äußeren Wahrnehmung (Sensation) durch die Sinne Gegebenen, zu der Innenwelt, als dem primär durch die innere Auffassung der psychischen Ereignisse und Tätigkeiten (reflection) Dargebotenen. Das Problem empfängt so eine bescheidenere, aber die Möglichkeit empirischer Behandlung einschließende Fassung. Und es machen sich nun angesichts der neuen besseren Methoden dieselben Erlebnisse geltend, welche in der Substanzenlehre der rationalen Psychologie einen wissenschaftlich unhaltbaren Ausdruck gefunden hatten.

      Zunächst genügt für die selbständige Konstituierung der Geisteswissenschaften, daß auf diesem kritischen Standpunkt von denjenigen Vorgängen, die aus dem Material des in den Sinnen Gegebenen, und nur aus diesem, durch denkende Verknüpfung gebildet werden, sich die anderen als ein besonderer Umkreis von Tatsachen absondern, welche primär in der inneren Erfahrung, sonach ohne jede Mitwirkung der Sinne, gegeben sind, und welche alsdann aus dem so primär gegebenen Material innerer Erfahrung auf Anlaß äußerer Naturvorgänge formiert werden, um diesen durch ein gewisses, dem Analogieschluß in der Leistung gleichwertiges Verfahren untergelegt zu werden. So entsteht ein eigenes Reich von Erfahrungen, welches im inneren Erlebnis seinen selbständigen Ursprung und sein Material hat, und das demnach naturgemäß Gegenstand einer besonderen Erfahrungswissenschaft ist. Und solange nicht Jemand behauptet, daß er den Inbegriff von Leidenschaft, dichterischem Gestalten, denkendem Ersinnen, welchen wir als Goethes Leben bezeichnen, aus dem Bau seines Gehirns, den Eigenschaften seines Körpers abzuleiten und so besser erkennbar zu machen imstande ist, wird auch die selbständige Stellung einer solchen Wissenschaft nicht bestritten werden. Da nun, was für uns da ist, vermöge dieser inneren Erfahrung besteht, was für uns Wert hat oder Zweck ist, nur in dem Erlebnis unseres Gefühls und unseres Willens uns so gegeben ist: so liegen in dieser Wissenschaft die Prinzipien unseres Erkennens, welche darüber bestimmen, wiefern Natur für uns existieren kann, die Prinzipien unseres Handelns, welche das Vorhandensein von Zwecken, Gütern, Werten erklären, in dem aller praktische Verkehr mit der Natur gegründet ist.

      Die tiefere Begründung der selbständigen Stellung der Geisteswissenschaften neben den Naturwissenschaften, welche Stellung den Mittelpunkt der Konstruktion der Geisteswissenschaften in diesem Werke bildet, vollzieht sich in diesem selber schrittweise, indem die Analysis des Gesamtergebnisses der geistigen Welt, in seiner Unvergleichbarkeit mit aller Sinnenerfahrung über die Natur, in ihm durchgeführt wird. Ich verdeutliche hier nur dies Problem, indem ich auf den zweifachen Sinn hinweise, in welchem die Unvergleichbarkeit dieser beiden Tatsachenkreise behauptet werden kann: entsprechend empfängt auch der Begriff von Grenzen des Naturerkennens eine zweifache Bedeutung.

      Einer unserer ersten Naturforscher hat diese Grenzen in einer vielbesprochenen Abhandlung zu bestimmen unternommen, und soeben diese Grenzbestimmung seiner Wissenschaft näher erläutert.4 Denken wir uns alle Veränderungen in der Körperwelt in Bewegungen von Atomen aufgelöst, die durch deren konstante Zentralkräfte bewirkt wären, so würde das Weltall naturwissenschaftlich erkannt. »Ein Geist« – von dieser Vorstellung von Laplace geht er aus - , »der für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte kennte, welche in der Natur wirksam sind, und die gegenseitige Lage der Wesen, aus denen sie besteht, wenn sonst er umfassend genug wäre, um diese angaben der Analysis zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper und des leichtesten Atoms begreifen.«5 Da die menschliche Intelligenz in der astronomischen Wissenschaft ein »schwaches Abbild eines solchen Geistes« ist, bezeichnet Du Bois-Reymond die von Laplace vorgestellte Kenntnis eines materiellen Systems als eine astronomische. Von dieser Vorstellung aus gelangt man in der Tat zu einer sehr deutlichen Auffassung der Grenzen, in welche die Tendenz des naturwissenschaftlichen Geistes eingeschlossen ist.

      Es sei gestattet, eine Unterscheidung