Die Geisteswissenschaften. Wilhelm Dilthey. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilhelm Dilthey
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788075837370
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in die von ihnen umfaßten Tatsachen der Gesellschaft: sie ermöglichen, der Kunde des gegenwärtigen Zustandes der Gesellschaft eine exakte Grundlage zu geben.

      Die Unanschaulichkeit in dem Zusammenhang dieses unermeßlichen Materials kommt zu dieser Lückenhaftigkeit, ja hat nicht wenig dazu beigetragen, die letztere zu steigern. Als der menschliche Geist die Wirklichkeit seinen Gedanken zu unterwerfen begann, wandte er sich zuerst, von Staunen angezogen, dem Himmel entgegen; diese Wölbung über uns, die auf dem Rund des Horizonts zu ruhen scheint, beschäftigte ihn: ein in sich verbundenes räumliches, den Menschen stets und überall umgehendes Ganzes; so war die Orientierung im Weltgebäude der Ausgangspunkt wissenschaftlicher Forschung, in den östlichen Ländern wie in Europa. Der Kosmos der geistigen Tatsachen ist nicht dem Auge in seiner Unermeßlichkeit sichtbar, sondern nur dem sammelnden Geiste des Forschers; in irgendeinem einzelnen Teile tritt er hervor, wo ein Gelehrter Tatsachen verbindet, und prüft und feststellt: im Inneren des Gemütes baut er sich dann auf. Eine kritische Sichtung der Überlieferungen, Feststellung der Tatsachen, Sammlung derselben bildet daher eine erste umfassende Arbeit der Geisteswissenschaften. Nachdem die Philologie eine mustergültige Technik an dem schwierigsten und schönsten Stoff der Geschichte, dem klassischen Altertum, herausgebildet hat, wird diese Arbeit teils in unzähligen Einzelforschungen geleistet, teils bildet sie einen Bestandteil von weiterreichenden Untersuchungen. Der Zusammenhang dieser reinen Deskription der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit, wie er auf dem Grunde der Physik der Erde, angelehnt an die Geographie, die Verteilung des Geistigen und seiner Unterschiede auf dem Erdganzen in Zeit und Raum zu beschreiben zum Ziel hat, kann seine Anschaulichkeit immer nur durch Zurückführung auf klare räumliche Maße, Zahlenverhältnisse, Zeitbestimmungen, durch die Hilfsmittel graphischer Darstellung empfangen. Bloße Sammlung und Sichtung des Materials geht hier in eine gedankenmäßige Bearbeitung und Gliederung desselben allmählich über.

      VI. Drei Klassen von Aussagen in ihnen

       Inhaltsverzeichnis

      Die Geisteswissenschaften, wie sie sind und wirken, kraft der Vernunft der Sache, die in ihrer Geschichte tätig war (nicht wie die kühnen Architekten, die sie neu bauen wollen, wünschen), verknüpfen in sich drei unterschiedene Klassen von Aussagen. Die einen von ihnen sprechen ein Wirkliches aus, das in der Wahrnehmung gegeben ist; sie enthalten den historischen Bestandteil der Erkenntnis. Die anderen entwickeln das gleichförmige Verhalten von Teilinhalten dieser Wirklichkeit, welche durch Abstraktion ausgesondert sind: sie bilden den theoretischen Bestandteil derselben. Die letzten drücken Werturteile aus und schreiben Regeln vor: in ihnen ist der praktische Bestandteil der Geisteswissenschaften befaßt. Tatsachen, Theoreme, Werturteile und Regeln: aus diesen drei Klassen von Sätzen bestehen die Geisteswissenschaften. Und die Beziehung zwischen der historischen Richtung in der Auffassung, der abstrakt-theoretischen und der praktischen geht als ein gemeinsames Grundverhältnis durch die Geisteswissenschaften. Die Auffassung des Singularen, Individualen bildet in ihnen (da sie die beständige Widerlegung des Satzes von Spinoza: ›omnis determinatio est negatio‹ sind) so gut einen letzten Zweck als die Entwicklung abstrakter Gleichförmigkeiten. Von der ersten Wurzel im Bewußtsein bis zur höchsten Spitze ist der Zusammenhang der Werturteile und Imperative unabhängig von dem der zwei ersten Klassen. Die Beziehung dieser drei Aufgaben zueinander im denkenden Bewußtsein kann erst im Verlauf der erkenntnistheoretischen Analysis (umfassender; der Selbstbesinnung) entwickelt werden. Jedenfalls bleiben Aussagen über Wirklichkeit von Werturteilen und Imperativen auch in der Wurzel gesondert: so entstehen zwei Arten von Sätzen, die primär verschieden sind. Und zugleich muß anerkannt werden, daß diese Verschiedenheit innerhalb der Geisteswissenschaften einen doppelten Zusammenhang in denselben zur Folge hat. Wie sie gewachsen sind, enthalten die Geisteswissenschaften neben der Erkenntnis dessen, was ist, das Bewußtsein des Zusammenhangs der Werturteile und Imperative, als in welchem Werte, Ideale, Regeln, die Richtung auf Gestaltung der Zukunft verbunden sind. Ein politisches Urteil, das eine Institution verwirft, ist nicht wahr oder falsch, sondern richtig oder unrichtig, insofern seine Richtung, sein Ziel abgeschätzt wird; wahr oder falsch kann dagegen ein politisches Urteil sein, welches die Beziehungen dieser Institution zu anderen Institutionen erörtert. Erst indem diese Einsicht für die Theorie von Satz, Aussage, Urteil leitend wird, entsteht eine erkenntnis-theoretische Grundlage, die den Tatbestand der Geisteswissenschaften nicht in die Enge einer Erkenntnis von Gleichförmigkeiten nach Analogie der Naturwissenschaft zusammendrängt und solchergestalt verstümmelt, sondern wie sie gewachsen sind, begreift und begründet.

      VII. Aussonderung der Einzelwissenschaften aus der geschichtlich - gesellschaftlichen Wirklichkeit

       Inhaltsverzeichnis

      Die Zwecke der Geisteswissenschaften, das Singulare, Individuale der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit zu erfassen, die in seiner Gestaltung wirksamen Gleichförmigkeiten zu erkennen, Ziele und Regeln seiner Fortgestaltung festzustellen, können nur vermittels der Kunstgriffe des Denkens, vermittels der Analysis und der Abstraktion erreicht werden. Der abstrakte Ausdruck, in welchem von bestimmten Seiten des Tatbestandes abgesehen wird, andere aber entwickelt werden, ist nicht das ausschließliche letzte Ziel dieser Wissenschaften, aber ihr unentbehrliches Hilfsmittel. Wie das abstrahierende Erkennen nicht die Selbständigkeit der anderen Zwecke dieser Wissenschaften in sich auflösen darf: so kann weder die geschichtliche, die theoretische Erkenntnis noch die Entwicklung der die Gesellschaft tatsächlich leitenden Regeln dieses abstrahierenden Erkennens entraten. Der Streit zwischen der historischen und der abstrakten Schule entstand, indem die abstrakte Schule den ersten, die historische den anderen Fehler beging. Jede Einzelwissenschaft entsteht nur durch den Kunstgriff der Herauslösung eines Teilinhaltes aus der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit. Selbst die Geschichte sieht von den Zügen im Leben der einzelnen Menschen und der Gesellschaft, welche in der von ihr darzustellenden Epoche denen aller anderen Epochen gleich sind, ab; ihr Blick ist auf das Unterscheidende und Singulare gerichtet. Hierüber kann sich der einzelne Geschichtschreiber täuschen, da aus einer solchen Richtung des Blickes schon die Auswahl der Züge in seinen Quellen entspringt; aber wer die wirkliche Leistung desselben mit dem ganzen Tatbestand der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit vergleicht, muß es anerkennen. Hieraus ergibt sich der wichtige Satz, daß jede einzelne Wissenschaft des Geistes nur relativ, in ihrer Beziehung zu den anderen Wissenschaften des Geistes mit Bewußtsein erfaßt, die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit erkennt. Die Gliederung dieser Wissenschaften, ihr gesundes Wachstum in ihrer Besonderung ist sonach an die Einsicht in die Beziehung jeder ihrer Wahrheiten auf das Ganze der Wirklichkeit, in der sie enthalten sind, sowie an das stete Bewußtsein der Abstraktion, vermöge deren diese Wahrheiten da sind, und des begrenzten Erkenntniswertes, der ihnen gemäß ihrem abstrakten Charakter zukommt, gebunden.

      Nun kann vorgestellt werden, welche die fundamentalen Zerlegungen sind, vermöge deren die einzelnen Wissenschaften des Geistes ihren ungeheuren Gegenstand zu bewältigen versucht haben.

      VIII. Wissenschaften der Einzelmenschen als der Elemente dieser Wirklichkeit

       Inhaltsverzeichnis

      Die Analysis findet in den Lebenseinheiten, den psychophysischen Individuis die Elemente, aus welchen Gesellschaft und Geschichte sich aufbauen, und das Studium dieser Lebenseinheiten bildet die am meisten fundamentale Gruppe von Wissenschaften des Geistes. Den Naturwissenschaften ist der Sinnenschein von Körpern verschiedener Größe, die sich im Räume bewegen, sich ausdehnen und erweitern, zusammenziehen und verringern, in welchen Veränderungen der Beschaffenheiten vorgehen, als Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen gegeben. Sie haben sich nur langsam richtigeren Ansichten über die Konstitution der Materie genähert. In diesem Punkte besteht ein viel günstigeres Verhältnis zwischen der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit und der Intelligenz. Dieser ist in ihr selber die Einheit unmittelbar gegeben, welche das Element in dem vielverwickelten Gebilde der Gesellschaft