Die Geisteswissenschaften. Wilhelm Dilthey. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilhelm Dilthey
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788075837370
Скачать книгу

      I. Absicht dieser Einleitung in die Geisteswissenschaften

       Inhaltsverzeichnis

      Seit Bacons berühmtem Werke sind Schriften, welche Grundlage und Methode der Naturwissenschaften erörtern und so in das Studium derselben einführen, insbesondere von Naturforschern verfaßt worden, die bekannteste unter ihnen die von Sir John Herschel. Es erschien als ein Bedürfnis, denen, welche sich mit der Geschichte, der Politik, Jurisprudenz oder politischen Ökonomie, der Theologie, Literatur oder Kunst beschäftigen, einen ähnlichen Dienst zu leisten. Von den praktischen Bedürfnissen der Gesellschaft, von dem Zweck einer Berufsbildung aus, welche der Gesellschaft ihre leitenden Organe mit den für ihre Aufgabe notwendigen Kenntnissen ausrüstet, pflegen diejenigen, welche sich den bezeichneten Wissenschaften widmen, an sie heranzutreten. Doch wird diese Berufsbildung nur in dem Verhältnis den einzelnen zu hervorragenderen Leistungen befähigen, als sie das Maß einer technischen Abrichtung überschreitet. Die Gesellschaft ist einem großen Maschinenbetrieb vergleichbar, welcher durch die Dienste unzähliger Personen in Gang erhalten wird: der mit der isolierten Technik seines Einzelberufs innerhalb ihrer Ausgerüstete ist, wie vortrefflich er auch diese Technik inne habe, in der Lage eines Arbeiters, der ein Leben hindurch an einem einzelnen Punkte dieses Betriebs beschäftigt ist, ohne die Kräfte zu kennen, welche ihn in Bewegung setzen, ja ohne von den anderen Teilen dieses Betriebs und ihrem Zusammenwirken zu dem Zweck des Ganzen eine Vorstellung zu haben. Er ist ein dienendes Werkzeug der Gesellschaft, nicht ihr bewußt mitgestaltendes Organ. Diese Einleitung möchte dem Politiker und Juristen, dem Theologen und Pädagogen die Aufgabe erleichtern, die Stellung der Sätze und Regeln, welche ihn leiten, zu der umfassenden Wirklichkeit der menschlichen Gesellschaft kennen zu lernen, welcher doch, an dem Punkte, an welchem er eingreift, schließlich die Arbeit seines Lebens gewidmet ist.

      Es liegt in der Natur des Gegenstandes, daß die Einsichten, deren es zur Lösung dieser Aufgabe bedarf, in die Wahrheiten zurückreichen, welche der Erkenntnis sowohl der Natur als der geschichtlich gesellschaftlichen Welt zugrunde gelegt werden müssen. So gefaßt begegnet sich diese Aufgabe, die in den Bedürfnissen des praktischen Lebens gegründet ist, mit einem Problem, welches der Zustand der reinen Theorie stellt.

      Die Wissenschaften, welche die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit zu ihrem Gegenstand haben, suchen angestrengter als je zuvor geschah ihren Zusammenhang untereinander und ihre Begründung. Ursachen, die in dem Zustande der einzelnen positiven Wissenschaften liegen, wirken in dieser Richtung zusammen mit den mächtigeren Antrieben, die aus den Erschütterungen der Gesellschaft seit der Französischen Revolution entspringen. Die Erkenntnis der Kräfte, welche in der Gesellschaft walten, der Ursachen, welche ihre Erschütterungen hervorgebracht haben, der Hilfsmittel eines gesunden Fortschritts, die in ihr vorhanden sind, ist zu einer Lebensfrage für unsere Zivilisation geworden. Daher wächst die Bedeutung der Wissenschaften der Gesellschaft gegenüber denen der Natur; in den großen Dimensionen unseres modernen Lebens vollzieht sich eine Umänderung der wissenschaftlichen Interessen, welche der in den kleinen griechischen Politien im 5. und 4. Jahrhundert vor Christo ähnlich ist, als die Umwälzungen in dieser Staatengesellschaft die negativen Theorien des sophistischen Naturrechts und ihnen gegenüber die Arbeiten der sokratischen Schulen über den Staat hervorbrachten.

      II. Die Geisteswissenschaften ein selbständiges Ganzes neben den Naturwissenschaften

       Inhaltsverzeichnis

      Das Ganze der Wissenschaften, welche die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit zu ihrem Gegenstande haben, wird in diesem Werke unter dem Namen der Geisteswissenschaften zusammengefaßt. Der Begriff dieser Wissenschaften, vermöge dessen sie ein Ganzes bilden, die Abgrenzung dieses Ganzen gegen die Naturwissenschaft kann endgültig erst in dem Werke selber aufgeklärt und begründet werden; hier an seinem Beginn stellen wir nur die Bedeutung fest, in welcher wir den Ausdruck gebrauchen werden, und deuten vorläufig auf den Tatsacheninbegriff hin, in welchem die Abgrenzung eines solchen einheitlichen Ganzen der Geisteswissenschaften von den Wissenschaften der Natur gegründet ist.

      Unter Wissenschaft versteht der Sprachgebrauch einen Inbegriff von Sätzen, dessen Elemente Begriffe, d.h. vollkommen bestimmt, im ganzen Denkzusammenhang konstant und allgemeingültig, dessen Verbindungen begründet, in dem endlich die Teile zum Zweck der Mitteilung zu einem Ganzen verbunden sind, weil entweder ein Bestandteil der Wirklichkeit durch diese Verbindung von Sätzen in seiner Vollständigkeit gedacht oder ein Zweig der menschlichen Tätigkeit durch sie geregelt wird. Wir bezeichnen daher hier mit dem Ausdruck Wissenschaft jeden Inbegriff geistiger Tatsachen, an welchem die genannten Merkmale sich vorfinden und auf den sonach insgemein der Name der Wissenschaft angewendet wird: wir stellen dementsprechend den Umfang unserer Aufgabe vorläufig vor. Diese geistigen Tatsachen, welche sich geschichtlich in der Menschheit entwickelt haben und auf die nach einem gemeinsamen Sprachgebrauch die Bezeichnung von Wissenschaften des Menschen, der Geschichte, der Gesellschaft übertragen worden ist, bilden die Wirklichkeit, welche wir nicht meistern, sondern zunächst begreifen wollen. Die empirische Methode fordert, daß an diesem Bestande der Wissenschaften selber der Wert der einzelnen Verfahrungsweisen, deren das Denken sich hier zur Lösung seiner Aufgaben bedient, historisch-kritisch entwickelt, daß an der Anschauung dieses großen Vorganges, dessen Subjekt die Menschheit selber ist, die Natur des Wissens und Erkennens auf diesem Gebiet aufgeklärt werde. Eine solche Methode steht in Gegensatz zu einer neuerdings nur zu häufig gerade von den sogenannten Positivisten geübten, welche aus einer meist in naturwissenschaftlichen Beschäftigungen erwachsenen Begriffsbestimmung des Wissens den Inhalt des Begriffes Wissenschaft ableitet und von ihm aus darüber entscheidet, welchen intellektuellen Beschäftigungen der Name und Rang einer Wissenschaft zukomme. So haben die einen, von einem willkürlichen Begriff des Wissens aus, der Geschichtschreibung, wie sie große Meister geübt haben, kurzsichtig und dünkelhaft den Rang der Wissenschaft abgesprochen; die anderen haben die Wissenschaften, welche Imperative zu ihrer Grundlage haben, gar nicht Urteile über Wirklichkeit, in Erkenntnis der Wirklichkeit umbilden zu müssen geglaubt.

      Der Inbegriff der geistigen Tatsachen, welche unter diesen Begriff von Wissenschaft fallen, pflegt in zwei Glieder geteilt zu werden, von denen das eine durch den Namen der Naturwissenschaft bezeichnet wird; für das andere ist, merkwürdig genug, eine allgemein anerkannte Bezeichnung nicht vorhanden. Ich schließe mich an den Sprachgebrauch derjenigen Denker an, welche diese andere Hälfte des globus intellectualis als Geisteswissenschaften bezeichnen. Einmal ist diese Bezeichnung, nicht am wenigsten durch die weite Verbreitung der Logik J. St. Mills, eine gewohnte und allgemein verständliche geworden. Alsdann erscheint sie, verglichen mit all den anderen unangemessenen Bezeichnungen, zwischen denen die Wahl ist, als die mindest unangemessene. Sie drückt höchst unvollkommen den Gegenstand dieses Studiums aus. Denn in diesem selber sind die Tatsachen des geistigen Lebens nicht von der psycho-physischen Lebenseinheit der Menschennatur getrennt. Eine Theorie, welche die gesellschaftlich-geschichtlichen Tatsachen beschreiben und analysieren will, kann nicht von dieser Totalität der Menschennatur absehen und sich auf das Geistige einschränken. Aber der Ausdruck teilt diesen Mangel mit jedem anderen, der angewandt worden ist; Gesellschaftswissenschaft (Soziologie), moralische, geschichtliche, Kulturwissenschaften: alle diese Bezeichnungen leiden an demselben Fehler, zu eng zu sein in bezug auf den Gegenstand, den sie ausdrücken sollen. Und der hier gewählte Name hat wenigstens den Vorzug, den zentralen Tatsachenkreis angemessen zu bezeichnen, von welchem aus in Wirklichkeit die Einheit dieser Wissenschaften gesehen, ihr Umfang entworfen, ihre Abgrenzung gegen die Naturwissenschaften, wenn auch noch so unvollkommen, vollzogen worden ist.

      Der Beweggrund nämlich, von welchem die Gewohnheit ausgegangen ist, diese Wissenschaften als eine Einheit von denen der Natur abzugrenzen, reicht in die Tiefe und Totalität des menschlichen Selbstbewußtseins. Unangerührt noch von Untersuchungen über den Ursprung des Geistigen, findet der Mensch in diesem Selbstbewußtsein eine Souveränität des Willens, eine Verantwortlichkeit der Handlungen, ein Vermögen, alles dem Gedanken zu unterwerfen und allem innerhalb der Burgfreiheit seiner Person zu widerstehen, durch welche er sich von der ganzen Natur absondert. Er findet sich