Die Geisteswissenschaften. Wilhelm Dilthey. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilhelm Dilthey
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788075837370
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Studium der Formen des geistigen Lebens durch die Deskription der Realität seines Verlaufs sowie seines Inhaltes ergänzen. Hierdurch wird die Lücke ausgefüllt, welche in den bisherigen Systemen der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit zwischen der Psychologie einerseits, der Ästhetik, Ethik, den Wissenschaften der politischen Körper sowie der Geschichtswissenschaft andererseits existiert: ein Platz, der bisher nur von den ungenauen Generalisationen der Lebenserfahrung, den Schöpfungen der Dichter, Darstellungen der Weltmänner von Charakteren und Schicksalen, unbestimmten allgemeinen Wahrheiten, welche der Geschichtschreiber in seine Erzählung verwebt, eingenommen war.

      Die Aufgaben einer solchen grundlegenden Wissenschaft kann die Psychologie nur lösen, indem sie sich in den Grenzen einer deskriptiven Wissenschaft hält, welche Tatsachen und Gleichförmigkeiten an Tatsachen feststellt, dagegen die erklärende Psychologie, welche den ganzen Zusammenhang des geistigen Lebens durch gewisse Annahmen ableitbar machen will, von sich reinlich unterscheidet. Nur durch dieses Verfahren kann für die letztere ein genaues, unbefangen festgestelltes Material gewonnen werden, welches eine Verifikation der psychologischen Hypothesen gestattet. Vor allem aber: nur so können endlich die Einzelwissenschaften des Geistes eine Grundlegung erhalten, die selber fest ist, während jetzt auch die besten Darstellungen der Psychologie Hypothesen auf Hypothesen bauen.

      Wir ziehen das Ergebnis für den Zusammenhang dieser Darlegung. Der einfachste Befund, welchen die Analysis der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit abzugewinnen vermag, liegt in der Psychologie vor; sie ist demnach die erste und elementarste unter den Einzelwissenschaften des Geistes; dementsprechend bilden ihre Wahrheiten die Grundlage des weiteren Aufbaues. Aber ihre Wahrheiten enthalten nur einen aus dieser Wirklichkeit ausgelösten Teilinhalt und haben daher die Beziehung auf diese zur Voraussetzung. Demnach kann nur vermittels einer erkenntnis-theoretischen Grundlegung die Beziehung der psychologischen Wissenschaft zu den anderen Wissenschaften des Geistes und zu der Wirklichkeit selber, deren Teilinhalte sie sind, aufgeklärt werden. Für die Psychologie selber aber ergibt sich aus ihrer Stellung im Zusammenhang der Geisteswissenschaften, daß sie als deskriptive Wissenschaft (ein in der Grundlegung näher zu entwickelnder Begriff) sich unterscheiden muß von der erklärenden Wissenschaft, welche, ihrer Natur nach hypothetisch, einfachen Annahmen die Tatsachen des geistigen Lebens zu unterwerfen unternimmt.

      Die Darstellung der einzelnen psycho-physischen Lebenseinheit ist die Biographie. Das Gedächtnis der Menschheit hat sehr viele Individualexistenzen des Interesses und der Aufbewahrung würdig befunden. Carlyle sagt einmal von der Geschichte: »Weises Erinnern und weises Vergessen, darin liegt alles.« Das Singulare des Menschendaseins ergreift eben, nach der Gewalt, mit der das Individuum die Anschauung und die Liebe anderer Individuen zu sich hinreißt, stärker als irgendein anderes Objekt oder irgendeine Generalisation. Die Stellung der Biographie innerhalb der allgemeinen Geschichtswissenschaft entspricht der Stellung der Anthropologie innerhalb der theoretischen Wissenschaften der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit. Daher wird der Fortschritt der Anthropologie und die wachsende Erkenntnis ihrer grundlegenden Stellung auch die Einsicht vermitteln, daß die Erfassung der ganzen Wirklichkeit eines Individualdaseins, seine Naturbeschreibung in seinem geschichtlichen Milieu, ein Höchstes von Geschichtschreibung ist, gleichwertig durch die Tiefe der Aufgabe jeder geschichtlichen Darstellung, die aus breiterem Stoff gestaltet. Der Wille eines Menschen, in seinem Verlauf und seinem Schicksal, wird hier in seiner Würde als Selbstzweck erfaßt, und der Biograph soll den Menschen sub specie aeterni erblicken, wie er selbst sich in Momenten fühlt, in welchen zwischen ihm und der Gottheit alles Hülle, Gewand und Mittel ist und er sich dem Sternenhimmel so nahe fühlt, als irgendeinem Teil der Erde. Die Biographie stellt so die fundamentale geschichtliche Tatsache rein, ganz, in ihrer Wirklichkeit dar. Und nur der Historiker, der sozusagen von diesen Lebenseinheiten aus die Geschichte aufbaut, der durch den Begriff von Typus und Repräsentation sich der Auffassung von Ständen, von gesellschaftlichen Verbänden überhaupt, von Zeitaltern zu nähern sucht, der durch den Begriff von Generationen Lebensläufe aneinanderkettet, wird die Wirklichkeit eines geschichtlichen Ganzen erfassen, im Gegensatz zu den toten Abstraktionen, die zumeist aus den Archiven entnommen werden.

      Ist die Biographie ein wichtiges Hilfsmittel für die weitere Entwicklung einer wahren Realpsychologie, so hat sie andererseits in dem dermaligen Zustande dieser Wissenschaft ihre Grundlage. Man kann das wahre Verfahren des Biographen als Anwendung der Wissenschaft der Anthropologie und Psychologie auf das Problem, eine Lebenseinheit, ihre Entwicklung und ihr Schicksal lebendig und verständlich zu machen, bezeichnen.

      Regeln persönlicher Lebensführung haben zu allen Zeiten einen weiteren Zweig der Literatur gebildet; einige der schönsten und tiefsten Schriften aller Literatur sind diesem Gegenstande gewidmet. Sollen sie aber den Charakter der Wissenschaft erlangen: so führt eine solche Bestrebung zurück in die Selbstbesinnung über den Zusammenhang zwischen unserer Erkenntnis von der Wirklichkeit der Lebenseinheit und unserem Bewußtsein von den Beziehungen der Werte zueinander, welche unser Wille und unser Gefühl im Leben finden.

      An der Grenze der Naturwissenschaften und der Psychologie hat sich ein Gebiet von Untersuchungen ausgesondert, welches von seinem ersten genialen Bearbeiter als Psychophysik bezeichnet worden ist und welches sich durch das Zusammenwirken hervorragender Forscher zu dem Entwurf einer physiologischen Psychologie erweitert hat. Diese Wissenschaft ging davon aus, ohne Rücksicht auf den metaphysischen Streit über Körper und Seele die tatsächlichen Beziehungen zwischen diesen beiden Erscheinungsgebieten möglichst genau feststellen zu wollen. Der neutrale, in der äußersten hier denkbaren Abstraktion verbleibende Begriff der Funktion in seiner mathematischen Bedeutung wurde hierbei von Fechner zugrunde gelegt und Feststellung der bestehenden so in zwei Richtungen darstellbaren Abhängigkeiten als das Ziel dieser Wissenschaft festgehalten. Den Mittelpunkt seiner Untersuchungen bildete das Funktionsverhältnis zwischen Reiz und Empfindung. Will jedoch diese Wissenschaft die Lücke, welche zwischen Physiologie und Psychologie besteht, vollständig ausfüllen, will sie alle Berührungspunkte des körperlichen und psychischen Lebens umfassen und zwischen Physiologie und Psychologie, die Verbindung so vollständig und wirksam als möglich herstellen: dann findet sie sich genötigt, diese Beziehung in die. umfassende Vorstellung des ursächlichen Zusammenhangs der gesamten Wirklichkeit einzuordnen. Und zwar bildet die einseitige Dependenz psychischer Tatsachen und Veränderungen von physiologischen den Hauptgegenstand einer solchen physiologischen Psychologie. Sie entwickelt die Abhängigkeit des geistigen Lebens von seiner körperlichen Unterlage; untersucht die Grenzen, innerhalb deren eine solche Abhängigkeit nachweisbar ist; stellt alsdann auch die Rückwirkungen dar, welche von den geistigen Veränderungen zu den körperlichen gehen. So verfolgt sie das geistige Leben, von den Beziehungen, welche zwischen der physiologischen Leistung der Sinnesorgane und dem psychischen Vorgang von Empfindung und Wahrnehmung obwalten, zu denen zwischen dem Auftreten, Verschwinden, der Verkettung der Vorstellungen einerseits, der Struktur und den Funktionen des Gehirns andererseits, bis zu denen, welche zwischen dem Reflexmechanismus und motorischen System und entsprechend der Lautbildung, Sprache und geregelten Bewegung bestehen.

      IX. Stellung des Erkennens zu dem Zusammenhang geschichtlich-gesellschaftlicher Wirklichkeit

       Inhaltsverzeichnis

      Von dieser Zergliederung der einzelnen psycho-physischen Einheiten ist diejenige unterschieden, welche das Ganze der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit zu ihrem Gegenstande hat. Franzosen und Engländer haben den Begriff einer die Theorie dieses Ganzen entwickelnden Gesamtwissenschaft entworfen und dieselbe als Soziologie bezeichnet. In der Tat kann die Erkenntnis der Entwicklung der Gesellschaft nicht von der Erkenntnis ihres gegenwärtigen Status getrennt werden. Beide Klassen von Tatsachen bilden einen Zusammenhang. Der gegenwärtige Zustand, in welchem die Gesellschaft sich befindet, ist das Ergebnis des früheren, und er ist zugleich die Bedingung des nächsten. Der ermittelte Status desselben in dem jetzigen Moment gehört im nächsten bereits der Geschichte an. Jeder Durchschnitt, der den Status der Gesellschaft in einem gegebenen Augenblick darstellt, ist daher, sobald man sich über den Moment erhebt, als ein geschichtlicher Zustand zu betrachten. Der Begriff der Gesellschaft kann sonach gebraucht werden, dieses sich entwickelnde Ganze zu bezeichnen.14

      Viel