Die Geisteswissenschaften. Wilhelm Dilthey. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilhelm Dilthey
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788075837370
Скачать книгу
Das Verhältnis dieses Ganzen zu dem der Naturwissenschaften

       Inhaltsverzeichnis

      Jedoch in einem weiten Umfang fassen die Geisteswissenschaften Naturtatsachen in sich, haben Naturerkenntnis zur Grundlage.

      Dächte man sich rein geistige Wesen in einem aus solchen allein bestehenden Personenreich, so würde ihr Hervortreten, ihre Erhaltung und Entwicklung, wie ihr Verschwinden (welche Vorstellungen man auch von dem Hintergrund sich bilde, aus welchem sie hervorträten und in den sie wieder zurücktreten würden), an Bedingungen geistiger Art gebunden sein; ihr Wohlsein wäre in ihrer Lage zur geistigen Welt gegründet; ihre Verbindung untereinander, ihre Handlungen aufeinander würden sich durch rein geistige Mittel vollziehen und die dauernden Wirkungen ihrer Handlungen würden rein geistiger Art sein; selbst ihr Zurücktreten aus dem Reich der Personen würde in dem Geistigen seinen Grund haben. Das System solcher Individuen würde in reinen Geisteswissenschaften erkannt werden. In Wirklichkeit entsteht ein Individuum, wird erhalten und entwickelt sich auf Grund der Funktionen des tierischen Organismus und ihrer Beziehungen zu dem umgebenden Naturlauf; sein Lebensgefühl ist wenigstens teilweise in diesen Funktionen gegründet; seine Eindrücke sind von den Sinnesorganen und ihren Affektionen seitens der Außenwelt bedingt; den Reichtum und die Beweglichkeit seiner Vorstellungen und die Stärke sowie die Richtung seiner Willensakte finden wir vielfach von Veränderungen in seinem Nervensystem abhängig. Sein Willensantrieb bringt Muskelfasern zur Verkürzung, und so ist ein Wirken nach außen an Veränderungen in den Lageverhältnissen der Massenteilchen des Organismus gebunden; dauernde Erfolge seiner Willenshandlungen existieren nur in der Form von Veränderungen innerhalb der materiellen Welt. So ist das geistige Leben eines Menschen ein nur durch Abstraktion loslösbarer Teil der psycho-physischen Lebenseinheit, als welche ein Menschendasein und Menschenleben sich darstellt. Das System dieser Lebenseinheiten ist die Wirklichkeit, welche den Gegenstand der geschichtlich-gesellschaftlichen Wissenschaften ausmacht.

      Und zwar ist der Mensch als Lebenseinheit, vermöge des doppelten Standpunktes unserer Auffassung (gleichviel, welcher der metaphysische Tatbestand sei), soweit inneres Gewahrwerden reicht, als ein Zusammenhang geistiger Tatsachen, soweit wir dagegen mit den Sinnen auffassen, als ein körperliches Ganzes für uns da. Inneres Gewahrwerden und äußere Auffassung finden niemals in demselben Akte statt, und daher ist uns die Tatsache des geistigen Lebens nie mit der unseres Körpers zugleich gegeben. Hieraus ergeben sich mit Notwendigkeit zwei verschiedene, nicht ineinander aufhebbare Standpunkte für die wissenschaftliche Auffassung, welche die geistigen Tatsachen und die Körperwelt in ihrem Zusammenhang, dessen Ausdruck die psycho-physische Lebenseinheit ist, erfassen will. Gehe ich von der inneren Erfahrung aus, so finde ich die gesamte Außenwelt in meinem Bewußtsein gegeben, die Gesetze dieses Naturganzen unter den Bedingungen meines Bewußtseins stehend und sonach von ihnen abhängig. Dies ist der Standpunkt, welchen die deutsche Philosophie an der Grenze des achtzehnten und unseres Jahrhunderts als Transzendentalphilosophie bezeichnete. Nehme ich dagegen den Naturzusammenhang, so wie er als Realität vor mir in meinem natürlichen Auffassen steht, und gewahre in die zeitliche Abfolge dieser Außenwelt sowie in ihre räumliche Verteilung psychische Tatsachen mit eingeordnet, finde ich von dem Eingriff, welchen die Natur selber oder das Experiment macht und welcher in materiellen Veränderungen besteht, wann diese an das Nervensystem herandringen, Veränderungen des geistigen Lebens abhängig, erweitert Beobachtung der Lebensentwicklung und der krankhaften Zustände diese Erfahrungen zu dem umfassenden Bilde der Bedingtheit des Geistigen durch das Körperliche: dann entsteht die Auffassung des Naturforschers, welcher von außen nach innen, von der materiellen Veränderung zur geistigen Veränderung vorandringt. So ist der Antagonismus zwischen dem Philosophen und dem Naturforscher durch den Gegensatz ihrer Ausgangspunkte bedingt.

      Wir nehmen nun unseren Ausgangspunkt in der Betrachtungsweise der Naturwissenschaft. Sofern diese Betrachtungsweise sich ihrer Grenzen bewußt bleibt, sind ihre Ergebnisse unbestreitbar. Sie empfangen nur von dem Standpunkt der inneren Erfahrung aus die nähere Bestimmung ihres Erkenntniswertes. Die Naturwissenschaft zergliedert den ursächlichen Zusammenhang des Naturlaufes. Wo diese Zergliederung die Punkte erreicht hat, an welchen ein materieller Tatbestand oder eine materielle Veränderung regelmäßig mit einem psychischen Tatbestand oder einer psychischen Veränderung verbunden ist, ohne daß zwischen ihnen ein weiteres Zwischenglied auffindbar wäre: da kann eben nur diese regelmäßige Beziehung selber festgestellt werden, das Verhältnis von Ursache und Wirkung kann aber auf diese Beziehung nicht angewandt werden. Wir finden Gleichförmigkeiten des einen Lebenskreises regelmäßig mit solchen des anderen verknüpft, und der mathematische Begriff der Funktion ist der Ausdruck dieses Verhältnisses. Eine Auffassung desselben, vermöge deren, der Ablauf der geistigen neben dem der körperlichen Veränderungen mit dem Gange von zwei gleichgestellten Uhren vergleichbar wäre, ist mit der Erfahrung so gut im Einklang als eine Auffassung, welche nur ein Uhrwerk als Erklärungsgrund annimmt, unbildlich, welche beide Erfahrungskreise als verschiedene Erscheinungen eines Grundes betrachtet. Abhängigkeit des Geistigen vom Naturzusammenhang ist also das Verhältnis, welchem gemäß der allgemeine Naturzusammenhang diejenigen materiellen Tatbestände und Veränderungen ursächlich bedingt, welche für uns regelmäßig und ohne eine weitere erkennbare Vermittlung mit geistigen Tatbeständen und Veränderungen verbunden sind. So sieht das Naturerkennen die Verkettung der Ursachen bis zu dem psycho-physischen Leben hinwirken: hier entsteht eine Veränderung, an welcher die Beziehung des Materiellen und Psychischen sich der ursächlichen Auffassung entzieht, und diese Veränderung ruft rückwärts in der materiellen Welt eine Veränderung hervor. In diesem Zusammenhang schließt sich dem Experiment des Physiologen die Bedeutung der Struktur des Nervensystems auf. Die verwirrenden Erscheinungen des Lebens werden in eine klare Vorstellung der Abhängigkeiten zerlegt, in deren Verfolg der Naturlauf Veränderungen bis an den Menschen heranführt, diese alsdann durch die Pforten der Sinnesorgane in das Nervensystem drin gen, Empfindung, Vorstellen, Gefühl, Begehren entstehen und auf den Naturlauf zurückwirken. Die Lebenseinheit selbst, welche mit dem unmittelbaren Gefühl unseres ungeteilten Daseins uns erfüllt, wird in ein System von Beziehungen aufgelöst, die zwischen den Tatsachen unseres Bewußtseins und der Struktur sowie den Funktionen des Nervensystems empirisch festgestellt werden können: denn jede psychische Aktion zeigt sich nur vermittels des Nervensystems mit einer Veränderung innerhalb unseres Körpers verbunden, und eine solche ist ihrerseits nur vermittels ihrer Wirkung auf das Nervensystem von einem Wechsel unserer psychischen Zustände begleitet.

      Aus dieser Zergliederung der psycho-physischen Lebenseinheiten entspringt nun eine deutlichere Vorstellung der Abhängigkeit derselben von dem ganzen Zusammenhang der Natur, innerhalb dessen sie auftreten, wirken und aus dem sie wieder zurücktreten, und somit auch des Studiums der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit von der Naturerkenntnis. Hiernach kann der Grad von Berechtigung festgestellt werden, der den Theorien von Comte und Herbert Spencer über die Stellung dieser Wissenschaften in der von ihnen aufgestellten Hierarchie der Gesamtwissenschaft zukommt. Wie diese Schrift die relative Selbständigkeit der Geisteswissenschaften zu begründen versuchen wird, so hat sie als die andere Seite der Stellung derselben im wissenschaftlichen Gesamtganzen das System von Abhängigkeiten zu entwickeln, vermöge dessen sie durch die Naturerkenntnis bedingt sind, und sonach in dem Aufbau, welcher in der mathematischen Grundlegung anhebt, das letzte und höchste Glied bilden. Tatsachen des Geistes sind die oberste Grenze der Tatsachen der Natur, die Tatsachen der Natur bilden die unteren Bedingungen des geistigen Lebens. Eben weil das Reich der Personen oder die menschliche Gesellschaft und Geschichte die höchste unter den Erscheinungen der irdischen Erfahrungswelt ist, bedarf seine Erkenntnis an unzähligen Punkten die des Systems von Voraussetzungen, welche für seine Entwicklung in dem Naturganzen gelegen sind.

      Und zwar ist der Mensch, gemäß seiner so dargelegten Stellung im kausalen Zusammenhang der Natur, von dieser in einer zwiefachen Beziehung bedingt.

      Die psycho-physische Einheit, so sahen wir, empfängt, vermittelt durch das Nervensystem, beständig Einwirkungen aus dem allgemeinen Naturlauf und sie wirkt wieder auf ihn zurück. Nun liegt es aber in ihrer Natur, daß die Wirkungen, welche von ihr ausgehen, vornehmlich als ein Handeln auftreten, welches von Zwecken geleitet wird. Für diese psycho-physische Einheit kann also einerseits der Naturlauf und seine Beschaffenheit in bezug auf