Die Geisteswissenschaften. Wilhelm Dilthey. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilhelm Dilthey
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788075837370
Скачать книгу
Zwecke mitbestimmend. Und so sind wir selbst da, wo wir wollen, wo wir auf die Natur wirken, eben weil wir nicht blinde Kräfte sind, sondern Willen, welche ihre Zwecke überlegend feststellen, von dem Naturzusammenhang abhängig. Demnach befinden sich die psycho-physischen Einheiten in einer doppelten Abhängigkeit dem Naturlauf gegenüber. Dieser bedingt einerseits von der Stellung der Erde im kosmischen Ganzen ab als ein System von Ursachen die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit, und das große Problem des Verhältnisses von Naturzusammenhang und Freiheit in dieser Wirklichkeit zerlegt sich für den empirischen Forscher in unzählige Einzelfragen, welche das Verhältnis zwischen Tatsachen des Geistes und Einwirkungen der Natur betreffen. Andererseits aber entspringen aus den Zwecken dieses Personenreiches Rückwirkungen auf die Natur, auf die Erde, welche der Mensch in diesem Sinne als sein Wohnhaus betrachtet, in dem sich einzurichten er tätig ist, und auch diese Rückwirkungen sind an die Benutzung des naturgesetzlichen Zusammenhangs gebunden. Alle Zwecke liegen dem Menschen ausschließlich innerhalb des geistigen Vorgangs selber, da ja nur in diesem etwas für ihn da ist; aber der Zweck sucht seine Mittel in dem Zusammenhang der Natur. Wie unscheinbar ist oft die Veränderung, welche die schöpferische Macht des Geistes in der Außenwelt hervorgebracht hat: und doch ruht in dieser allein die Vermittlung, durch welche der so geschaffene Wert auch für andere da ist. So sind die wenigen Blätter, welche, als ein materieller Rückstand tiefster Gedankenarbeit der Alten in der Richtung der Annahme einer Bewegung der Erde, in die Hand des Kopernikus kamen, der Ausgangspunkt einer Revolution in unserer Weltansicht geworden.

      An diesem Punkte kann eingesehen werden, wie relativ die Abgrenzung dieser beiden Klassen von Wissenschaften voneinander ist. Streitigkeiten, wie sie über die Stellung der allgemeinen Sprachwissenschaft geführt wurden, sind unfruchtbar. An den beiden Übergangsstellen, welche von dem Studium der Natur zu dem des Geistigen führen, an den Punkten, an welchen der Naturzusammenhang auf die Entwicklung des Geistigen einwirkt, und an den andern Punkten, an welchen derselbe von dem Geistigen Einwirkung empfängt oder auch die Durchgangsstelle für die Einwirkung auf anderes Geistige bildet, vermischen sich überall Erkenntnisse beider Klassen. Erkenntnisse der Naturwissenschaften vermischen sich mit denen der Geisteswissenschaften. Und zwar verwebt sich in diesem Zusammenhang, gemäß der zwiefachen Beziehung, in welcher der Naturlauf das geistige Leben bedingt, die Erkenntnis der bildenden Einwirkung der Natur häufig mit der Feststellung des Einflusses, welchen dieselbe als Material des Handelns ausübt. So wird aus der Erkenntnis der Naturgesetze der Tonbildung ein wichtiger Teil der Grammatik und der musikalischen Theorie abgeleitet, und wiederum ist das Genie der Sprache oder Musik an diese Naturgesetze gebunden, und das Studium seiner Leistungen ist daher bedingt durch das Verständnis dieser Abhängigkeit.

      Es kann an diesem Punkte weiter eingesehen werden, daß die Erkenntnis der Bedingungen, welche in der Natur liegen und von der Naturwissenschaft entwickelt werden, in einem breiten Umfang die Grundlage für das Studium der geistigen Tatsachen bilden. Wie die Entwicklung des einzelnen Menschen, so ist auch die Ausbreitung des Menschengeschlechts über das Erdganze und die Gestaltung seiner Schicksale in der Geschichte durch den ganzen kosmischen Zusammenhang bedingt. Kriege bilden z.B. einen Hauptbestandteil aller Geschichte, da diese als politische es mit dem Willen von Staaten zu tun hat, dieser aber in Waffen auftritt und sich durch dieselben durchsetzt. Die Theorie des Kriegs hängt aber in erster Linie von der Erkenntnis des Physischen ab, welches für die streitenden Willen Unterlage und Mittel darbietet. Denn mit den Mitteln der physischen Gewalt verfolgt der Krieg den Zweck, dem Feinde unseren Willen aufzuzwingen. Dies schließt in sich, daß der Gegner auf der Linie bis zur Wehrlosigkeit, welche das theoretische Ziel des als Krieg bezeichneten Aktes der Gewalt bildet, zu dem Punkte hingezwungen werde, an welchem seine Lage nachteiliger ist als das Opfer, das von ihm gefordert wird, und nur mit einer nachteiligeren vertauscht werden kann. In dieser großen Rechnung sind also die für die Wissenschaft wichtigsten, sie zumeist beschäftigenden Zahlen die physischen Bedingungen und Mittel, während über die psychischen Faktoren sehr wenig zu sagen ist.

      Und zwar haben die Wissenschaften des Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte einmal die der Natur zu ihrer Grundlage, sofern die psycho-physischen Einheiten selber nur mit Hilfe der Biologie studiert werden können, alsdann aber, sofern das Mittel, in dem ihre Entwicklung und ihre Zwecktätigkeit stattfindet, auf dessen Beherrschung also diese letztere sich zu einem großen Teile bezieht, die Natur ist. In der ersteren Rücksicht bilden die Wissenschaften des Organismus ihre Grundlage, in der zweiten vorwiegend die der anorganischen Natur. Und zwar besteht der so aufzuklärende Zusammenhang einmal darin, daß diese Naturbedingungen Entwicklung und Verteilung des geistigen Lebens auf der Erdoberfläche bestimmen, alsdann darin, daß die Zwecktätigkeit des Menschen an die Gesetze der Natur gebunden und so durch ihre Erkenntnis und Benutzung bedingt ist. Daher zeigt das erstere Verhältnis nur Abhängigkeit des Menschen von der Natur, das zweite aber enthält diese Abhängigkeit nur als die andere Seite der Geschichte seiner zunehmenden Herrschaft über das Erdganze. Derjenige Teil des ersteren Verhältnisses, welcher die Beziehungen des Menschen zu der umgebenden Natur einschließt, ist von Ritter einer vergleichenden Methode unterworfen worden. Glänzende Blicke, wie besonders seine vergleichende Schätzung der Erdteile nach der Gliederung ihrer Umrisse, ließen eine in den Raumverhältnissen des Erdganzen festgelegte Prädestination der Universalgeschichte ahnen. Die folgenden Arbeiten haben diese bei Ritter als Teleologie der Universalgeschichte gedachte, von einem Buckle in den Dienst des Naturalismus gezogene Anschauung doch nicht bestätigt: an die Stelle der Vorstellung einer gleichmäßigen Abhängigkeit des Menschen von den Naturbedingungen tritt die vorsichtigere Vorstellung, daß das Ringen der geistig-sittlichen Kräfte mit den Bedingungen der toten Räumlichkeit bei den geschichtlichen Völkern, im Gegensatz zu den geschichtslosen, das Verhältnis von Abhängigkeit beständig vermindert hat. Und so hat auch hier eine selbständige, die Naturbedingungen zur Erklärung benutzende Wissenschaft der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit sich behauptet. Das andere Verhältnis aber zeigt mit der Abhängigkeit, welche durch die Anpassung an die Bedingungen gegeben ist, die Bewältigung der Räumlichkeit durch den wissenschaftlichen Gedanken und die Technik so verbunden, daß die Menschheit in ihrer Geschichte eben vermittels der Unterordnung die Herrschaft erringt. Natura enim non nisi parendo vincitur.9

      Das Problem des Verhältnisses der Geisteswissenschaften zu der Naturerkenntnis kann jedoch erst als gelöst gelten, wenn jener Gegensatz, von dem wir ausgingen, zwischen dem transzendentalen Standpunkt, für welchen die Natur unter den Bedingungen des Bewußtseins steht, und dem objektiv empirischen Standpunkt, für welchen die Entwicklung des Geistigen unter den Bedingungen des Naturganzen steht, aufgelöst sein wird. Diese Aufgabe bildet eine Seite des Erkenntnisproblems. Isoliert man dies Problem für die Geisteswissenschaften, so erscheint eine für alle überzeugende Auflösung nicht unmöglich. Die Bedingungen derselben würden sein: Nachweis der objektiven Realität der inneren Erfahrung; Bewahrheiten der Existenz einer Außenwelt; alsdann sind in dieser Außenwelt geistige Tatsachen und geistige Wesen kraft eines Vorgangs von Übertragung unseres Inneren in dieselbe da; wie das geblendete Auge, das in die Sonne geblickt hat, ihr Bild in den verschiedensten Farben, an den verschiedensten Stellen im Räume wiederholt: so vervielfältigt unsere Auffassung das Bild unseres Innenlebens und versetzt es in mannigfachen Abwandlungen an verschiedene Stellen des uns umgebenden Naturganzen; dieser Vorgang läßt sich aber logisch als ein Analogieschluß von diesem originaliter uns allein unmittelbar gegebenen Innenleben, vermittels der Vorstellungen von den mit ihm verketteten Äußerungen, auf ein verwandten Erscheinungen der Außenwelt entsprechend Verwandtes, zugrunde Liegendes darstellen und rechtfertigen. Was immer die Natur an sich selber sein mag, das Studium der Ursachen des Geistigen kann sich daran genügen lassen, daß jedenfalls ihre Erscheinungen als Zeichen des Wirklichen, daß die Gleichförmigkeiten in ihrem Zusammensein und ihrer Folge als ein Zeichen solcher Gleichförmigkeiten in dem Wirklichen aufgefaßt und benutzt werden können. Tritt man aber in die Welt des Geistes und untersucht die Natur, sofern sie Inhalt des Geistes, sofern sie als Zweck oder Mittel in den Willen eingewoben ist: für den Geist ist sie eben, was sie in ihm ist, und was sie an sich sein mag, ist hier ganz gleichgültig. Genug, daß er so, wie sie ihm gegeben ist, auf ihre Gesetzmäßigkeit in seinen Handlungen rechnen und den schönen Schein ihres Daseins genießen kann.

      IV. Die Übersichten über die Geisteswissenschaften