Das bleiche Phantom des Monds stand bereits am klaren Abendhimmel. Ein kleiner Zeitungsjunge, die große Leinwandtasche leer, schlenkerte rüstig vorbei; seine sommersprossige Nase blähte sich hungrig dem vorausgenossenen Duft des Abendessens entgegen. Schon war er um die Ecke. Und nun, einen Augenblick lang, als sie vor den Stufen der Freitreppe standen, schien das ganze Leben zum Bilde gefroren. Die Feuerwehrleute und Fagg Sluder, der drüben im Sportklub saß, hatten Gant gesehen, hatten gewispert. Und nun starrten sie herüber. Der Polizist, ans Terrassengeländer vor dem Polizeiamt gelehnt, starrte herüber. Der Farmer auf dem kleinen Rasenring um den Springbrunnen, der sich gerade vornübergebeugt und aus den hohlen Händen getrunken hatte, hob den Kopf wieder mit tropfendem Kinn und starrte herüber. Am Fenster des Steuereinnehmerbüros im ersten Stock des Stadthauses stand hemdsärmelig der feiste, stämmige Yancey und starrte herüber. Und in diesem einzigen Nu hörte der Springbrunnen auf zu plätschern, alles Leben war wie in einer photographischen Positur angehalten, und Gant spürte, daß er allein war und langsam durch die sinnlose, fliehende, starrende Leere, durch die Welt des Augenscheins dem Tod entgegenglitt.
Wo nun? Wo später? Wo dann?
XX
In jenen Jahren, in denen seine Lieblingskinder Lukas und Helene die meiste Zeit weg waren, führte Gant ein zersplittertes Heimleben; er hauste halb bei sich in der Woodson Street, halb bei Eliza in der Pension. Zwar haßte und fürchtete er das Alleinsein, aber er war ein Gewohnheitsmensch und dachte überhaupt nicht daran, seine behagliche Bleibe aufzugeben und statt dessen mit der kahlen Winterlichkeit von Dixieland vorliebzunehmen. Eliza wollte ihn gar nicht dort haben. Sie war durchaus dafür, daß er zu Tisch kam, aber daß er über Nacht blieb – was häufig vorkam, wenn Helene weg war – und seine Tiraden, die nun immer länger wurden, gingen ihr mehr als je auf die Nerven.
»Du hast doch Dein eigenes Heim«, quengelte sie. »Warum bleibst Du nicht dort, statt hier herumzulungern und mir Scherereien zu machen?«
»Schmeißt ihn nur raus, schmeißt ihn nur raus!« stöhnte er bitter gekränkt. »Schleift seine Knochen über das Pflaster! Er ist ja nur ein Bettler, um den sich kein Mensch schert. O Gott, o Gott! Der alte Ackergaul ist zu nichts mehr nütze, seine Tage sind gezählt: gebt ihm einen Tritt und schickt ihn zum Schinder! Der alte Krüppel kann nichts mehr zum Futtern heimbringen, also: auf den Schutthaufen mit ihm! Entartete, widernatürliche Ungeheuer, die Ihr seid!«
Trotzdem hielt er sich in Dixieland auf, so lange jemand da war, der ihm zuhörte. Für die kleine Gruppe der Wintergäste brachte er den wundervollen Geschmack des großen Daseins mit. Im Schaukelstuhl vorm Kaminfeuer räkelte er sich und erzählte immer wieder aus dem Legendenhort seines eignen Lebens. Sie saßen herum und hörten ihm hungrig zu. Da griff er vor ihren verzauberten Augen einen romantischen Vorfall heraus, verschönerte und dramatisierte ihn, baute ihn auf, verwob ihn mit historischen Zusammenhängen. Eine ganze Mythologie entstand.
Der General Fithugh Lee, der in den Tagen des Bürgerkriegs hoch zu Roß vor dem Farmerbuben gehalten und einen Trunk Wasser verlangt hatte … dieser General trank jetzt aus der eichenen Schöpfkelle des Ziehbrunnens und schüttete den Rest zur Seite: er erkundigte sich alsdann bei dem Buben bis ins kleinste über die Straßen und Anmarschwege nach Gettysburg, fragte ihn, ob er feindliche Detachements gesehen habe, schrieb sich den Namen des Jungen in ein kleines Notizbuch und sagte, als er weiterritt, zu seinem Stab: »Der Junge da wird's zu was bringen. Ein Volk, das solche Jungen hervorbringt, ist unbesiegbar.«
Friedliche Indianer, die er, als er nach einem alten Fort unterwegs auf einem Esel durch die Wüste von Neu-Mexiko ritt, freundlich gegrüßt hatte … diese Indianer verfolgten ihn nun in voller Karriere, wollten ihn skalpieren, spornten ihre schaumbedeckten Rosse und stießen ein wildes Schlachtgeheul aus; durch die verdutzten Dörfer der Rothäute ging die Jagd, bis er bei zwei Cowboys, die urplötzlich auftauchten, Schutz und Beistand fand.
Jener Dieb, der in tiefster Nacht in New Orleans in sein Zimmer eingedrungen war und seine Kleider gestohlen hatte … mit diesem Dieb kämpfte er nun, ringend wälzten sie sich am Boden, und dann verfolgte er ihn im Nachthemd siebzehn (nicht mehr fünf!) Straßenblöcke entlang, die Canal Street hinunter.
Allwöchentlich ging er ein paarmal ins Kino und nahm Eugen mit. Er saß vornübergebeugt, völlig absorbiert da, und stets sah er sich das ganze Programm zweimal an. Um halb elf oder elf Uhr traten sie auf das kalte, hallende Straßenpflaster heraus, in eine gleichsam kahlgefrorne Welt, in die tote Stadt der geschlossnen Läden, der leblosen Schaufensterauslagen, der wächsernen Modelle, die durch die Scheiben der Hut- und Kleiderläden heiter in die frostige Stille lächelten.
Der Springbrunnen auf dem Stadtplatz spielte zur niedrigsten Strahlhöhe. Träge plätscherte das kalte Wasser ins eisberingte Becken. Ach, im Sommer, da spielt die Fontäne hoch, eine blaue Sprühfahne weht übern Platz! Jetzt haben sie sie heruntergestellt – ja, ja, mit dem Brünnchen am eignen Leib geht's ja nicht anders. Kein Wind blies.
Die Augen auf den asphaltnen Bürgersteig gerichtet, schritt Gant aus. Er murmelte vor sich hin, komponierte eine Inhaltsangabe des Films. Der kalte Stahl neuer Nähmaschinen glitzerte durch die Schaufensterscheiben von Singers Nähmaschinengeschäft. Der Singerbau in New York ist das höchste Haus der Welt. Das steppende Geräusch von Elizas Nähmaschine. Eh Du Dich versiehst, hast Du die Nadel durch den Fingernagel. Vor Schmerz zog Gant die Luft durch die Zähne.
Sie gingen am Sluder-Building an der Ecke des Stadtplatzes vorbei. Fagg Sluder kriegt siebenhundert Dollar im Monat Miete dafür. »TRINKT COCA-COLA« sagte ein Plakat neben einem Schaufenster im Erdgeschoß. Manche behaupten, daß Candler die Formel von einem alten Weib aus dem Gebirg gestohlen hat. Nun hat er fünfzig Millionen. In der großen Drogerie, bei Woods, ist das Gesöff übrigens besser. Gant trank neuerdings Coca-Cola gern; vier oder fünf Glas täglich.
Der David Stern hatte seine alte Holzbude hier an der Ecke, zwanzig Jahr' lang, dann kaufte Fagg Sluder das Grundstück. Früher hat es zu Pastons Gut gehört. Ich hätt's für ein paar Heller haben können; dann schwämm' ich jetzt im Geld. David Stern zog dann in die North Main Street. Stinkt jetzt nach Geld, der Jud. Vermögen in Wiener Würstchen gemacht. Dreizehn Kinder. Sie kriegt alle Jahr eins. Nun ist sie so breit, wie sie lang ist. Werden alle fett, diese Judenweiber. Die Kinder arbeiten alle. Zahlen den Alten ihren Unterhalt. Haushaltungsbeitrag. Meine nicht! Da kannst Du Dich drauf verlassen! Da sieht man, wieso die Juden reich werden.
Dieser reine Blick! dachte Eugen. Ach, dieser reine Blick, den sie alle haben. Am Schluß, wenn er sie küßt, die langen Wimpern über den feuchten Augen. Die süßen, wollustbebenden Lippen. Wenn er sie an sich reißt, wenn er sich über ihren hingebungsvollen Leib beugt und hungrige Küsse auf ihren Mund küßt. Der Fremde, ja, der Fremde.
Eugen dachte an den Fremden. Stahlgraue Augen. Beherrschtes Gesicht. Eine Achtelsekunde schneller schußfertig mit den Pistolen als sonst jemand in Wild-West. Mit beiden Pistolen! Die Linke so sicher wie die Rechte! Er klatschte sich auf die Schenkel und schoß mit dem mörderisch ausgestreckten Zeigefinger Mülleimer und Laternenpfähle um.
Kam da ein Frühlingstag mit vieler Blüte. Und dann Dunkelheit. Das Bild einer zu Boden getrampelten Lilie. Das bedeutete, daß er sie verführt hat. Das ist Kunst! Er hat ihr ein Kind gemacht. Jetzt darfst Du mich nicht verlassen. Warum? Ja weil –. Scheu schlug sie die Augen nieder, sie errötete. Er starrte sie fragend an. Dann entdeckte sein forschender Blick (o gut so!) das Babykleidchen, an dem sie genäht hatte. Es tagte. Wirklich, Grace? Errötend, halb lachend, halb seufzend fiel sie ihm um den Hals.
Die Geschichte von dem kleinen Tanzmädchen. Jim Faro, der Falschspieler. Gefährlich lächelnd. Unzüchtig. Die lange, nasse Zigarre im Mundwinkel. Er mischte die Karten, sah sich um. Der Geierblick. Mord im Herzen und drei falsche Asse im Ärmelaufschlag. Aber den kalten, stahlgrauen Augen des Fremden entgeht nichts. Sein Colt-Revolver bellte eine Sechstelsekunde früher als die Pistole des Falschspielers. Jim Faro hustete und glitt langsam vom Stuhl. Erledigt. Und der Sheriff rief aus: »Bei Gott, Fremder, ich wußte nicht, daß der Mann lebt, der schneller mit dem Schießprügel spricht als Jim Faro. Wie heißt Er?« – »In der