Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Wolfe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075830562
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Swains Kuh wieder sang, tat sich das bedrängte Tor in ihm weit auf. Er antwortete »Muh«. Er brachte den Laut zögernd aber vollkommen hervor und wiederholte ihn einen Augenblick später, als Swains Kuh wieder muhte.

      Gant war außer sich vor Begeisterung. So schnell er konnte, rannte er zum Haus zurück. Unterwegs rieb er seinen borstigen Schnurrbart zärtlich an Eugens Nacken und machte »Muh«. Jedesmal bekam er Antwort.

      »Barmherziger Heiland! Wie er rennt. Eines Tags wird er dem Kind noch den Hals brechen!« rief Eliza, die ihn durchs Küchenfenster sah. Sie trat ans Geländer des Küchenbalkons, die Hände mit Mehl bestaubt, die Nase rot vom Herd. »Was ist los?« fragte sie.

      »Muh!« machte Gant. »Er hat gemuht!«

      Eugen, antwortete sofort. Er fand es bereits ziemlich albern, zu muhen. Er sah voraus, daß er nun wohl mehrere Tage lang die Kuh nachahmen müsse. Aber trotzdem war er ungeheuer erregt. Er spürte, daß ein Wall niedergelegt war.

      Auch Eliza war begeistert. Ihre Art und Weise, dies zu zeigen, bestand darin, daß sie zum Herd zurückging und ungerührt bemerkte, sie hätte ihr Lebtag noch so keinen Kindernarren gesehen wie Gant.

      Später lag Eugen aufmerksam in seinem Korb. Der Duft sonntäglicher Speisen drang zu ihm ins Wohnzimmer. Eliza pflegte damals unerhört zu kochen, und ein Sonntagsmittagessen war eine durchaus denkwürdige Sache. Die drei kleineren Brüder waren seit zwei Stunden aus dem Kindergottesdienst zurück und trieben sich hungrig im Haus herum. Ben stand würdig mit zusammengezogenen Brauen auf der Küchenveranda und spähte durchs Fliegenfenster, wie weit es mit der Mahlzeit sei. Grover wagte sich in die Küche vor und sah interessiert beim Kochen zu, bis er hinausgejagt wurde. Lukas – sein breites, gutmütiges Gesicht klaffte von einem glückhaften Lachen – marschierte durch die Zimmer und jubelte:

      »Weni, widi, wiki

      Weni, widi, wiki

      Weni, widi, wiki

      Wi, wi, wi.«

      Er hatte zugehört, wie Daisy und Josephine Brown Schulaufgaben zusammen machten; der Gesang war seine Interpretation von Cäsars berühmtem Schlachtenbericht: »Veni, vidi, vici.«

      Eugen hörte das Geklapper der Teller im Speisezimmer, den Radau der Buben, den Klang von Wetzstahl und Klinge, als Gant, das große Tagesereignis ohne Variation aber mit zunehmendem Eifer mehrmals wiederholend, das Messer zum Bratenschneiden schärfte. Die guten Düfte aus der Küche lockten stärker. Eugen bekam Lust auf üppige, unbekannte Speisen »Nicht allzu lange mehr, und ich werde drinnen mit ihnen essen«, dachte er.

      Den ganzen Nachmittag erzählte Gant die große Neuigkeit. Er rief die Nachbarn auf die Terrasse, und der Kleine mußte muhen. Eugen verstand alles, was an diesem Tag geredet wurde. Er konnte nicht darauf antworten, spürte aber, daß er nah am Sprechen war.

      Solcherart, in glänzenden Bruchstücken, sah er später seine ersten beiden Lebensjahre. Seiner zweiten Weihnachten erinnerte er sich dunkel als einer Zeit großer Festlichkeit. An die dritten war er schon gewöhnt. Mit der wunderbaren Fähigkeit von Kindern, sich einzufinden, dachte er, er hätte von jeher Weihnachten gekannt.

      Er kannte Sonnenschein, Regen, loderndes Feuer, seine Wiege, das grimmige Eingesperrtsein im Winter. In seinem zweiten Frühling sah er eines Tages Daisy die Straße hinauf zur Schule gehen. Es war nachmittags; sie war zum Mittagessen daheim gewesen. Sie ging in Miss Fords Mädchenschule, ein Eckhaus aus rotem Backstein oben auf dem Hügel. Er sah, wie sie sich mit Eleanor Duncan traf. Zwei lange Zöpfe baumelten ihr den Rücken hinunter, Sie war bescheiden, schüchtern, mädchenhaft, eine zage, leichterrötende Maid. Trotzdem hatte er ungern mit ihr zu tun, denn wenn sie ihn badete, pflegte sie ihre unterdrückte Wut an ihm auszulassen und schruppte ihm die Haut bis aufs Fleisch. Er heulte jämmerlich. Als sie den Hügel hinaufging, wurde er gewahr, daß sie diese Person war: er erkannte sie.

      Sein zweiter Geburtstag verging; sein Verständnis nahm zu. Im Vorfrühling des folgenden Jahres wurde er sich bewußt, daß man ihn eine Zeitlang vernachlässigte. Das Haus war totenstill, Gant brüllte nicht, die Buben gingen auf Zehenspitzen. Lukas – der vierte in der Familie, den die Seuche anpackte – lag auf den Tod krank mit Typhus. Eugen wurde ganz der Obhut einer jungen schlampigen Negerin überlassen. Er erinnerte sich lebhaft ihrer hohen schlaksigen Gestalt, ihrer trägen Füße in den schmutzigen weißen Strümpfen, des starken ranzigen Geruchs ihrer schwarzen Haut.

      Eines frischen Morgens ließ sie ihn in dem Gartenstreifen neben dem Haus spielen. Sie saß auf der Verandatreppe und gähnte. Eugen rutschte über den Pfad aufs Lilienbeet. Die Negerin lehnte den Kopf an den Pfosten, nickte ein. Schlau zwängte Eugen seinen kleinen Körper unter dem Drahtzaun hindurch und kroch auf den Privatweg hinaus, der zu Swains und von da ab steil bergan zu dem reichdekorierten Palast der Hilliards führte.

      Die Hilliards galten als die feinsten Leute im Städtchen. Sie gehörten zu den vornehmen Familien von Süd-Carolina. Schon daß sie aus der Gegend von Charleston kamen, sicherte ihnen ein ungeheures Prestige. Ihr Haus, ein aus Holz gebautes Schloß mit Giebeln und Zinnen, stand in einem Hain mächtiger Eichen oben auf dem Berg, an dessen Hang Gant gebaut hatte. Die Zufahrt ging von Gants Garten an durch eine Allee von hohen sausenden Föhren.

      Mister Hilliards Wohnsitz galt als der schönste im Städtchen. Ringsum wohnte zwar nur Mittelstand, aber die Lage auf dem Gipfel war großartig. Hilliards lebten im großen Stil; sie benahmen sich wie Grafen, die von der Burg ins Dorf hinuntersteigen und sich gesellschaftlich nicht mit den Leuten im Dorf einlassen. Ihre Freunde kamen von weither in Kutschen. Täglich Punkt zwei Uhr fuhr ein Neger in Livree mit zwei tadellos gehaltenen braunen Stuten die gewundene Allee hinauf und hielt vor dem Eingang. Fünf Minuten später fuhren Mister und Mistress Hilliard aus. Sie blieben genau zwei Stunden weg.

      An jenem Morgen, als er auf Hilliards Privatweg herumratschte, verspürte Eugen eine große Befriedigung. Dies war seine erste Flucht, eine Flucht in verbotene, verzauberte Regionen. Die Beschaffenheit der Schlacken, mit denen der Weg bestreut war, enttäuschte. Er krabbelte weiter. Die Uhr vom Amtsgericht schlug elf.

      Die Ordnung in Hilliards Haushalt war perfekt und versagte nie. Jeden Morgen, genau drei Minuten nach elf, fuhr ein Lieferwagen mit Lebensmitteln die Allee hinauf. Jeden Morgen, genau drei Minuten nach elf, war der Fuhrmann, ein junger Neger, auf dem Bock eingeschlafen. Es konnte nichts geschehen; der Gaul, ein großer Grauschimmel, wußte den Weg.

      Der Gaul kam schwer bergauf getrabt, bei Gants Haus bog er mit dem Wagen in die ausgefahrenen Radspuren der Fichtenallee ein … Er trat auf etwas Fremdes, Weiches, das zuvor das Gesicht eines kleinen jungen gewesen war. Er stutzte, hob den Vorderhuf und setzte ihn daneben. Er stoppte.

      Der Neger auf dem Bock und die Negerin auf der Verandatreppe erwachten gleichzeitig. Geschrei. Gant und Eliza kamen aus dem Haus gestürzt, Der erschrockne Fuhrmann hob den ohnmächtigen Eugen in die Arme des fluchenden Doktors McGuire. Die feinfühligen Finger des Arztes tasteten schnell Eugens blutiges Gesicht ab! Kein Knochen war gebrochen. »Glück und harte Schädel!« sagte McGuire und nickte den verzweifelten Eltern kurz zu.

      Gant, durch diesen Bescheid erleichtert, ließ seine Wut an dem Neger aus. Er packte ihn, über den Drahtzaun hinweg, an der Gurgel, fluchte und drohte. Der arme Bursche, in Todesangst versetzt, murmelte Stoßgebete. Die Amme war zitternd ins Haus geflohen.

      »Sieht schlimmer aus, als es ist«, sagte der Doktor. »Etwas heißes Wasser, bitte!« Er legte den Helden auf ein Sofa. Immerhin dauerte es zwei Stunden, bis Eugen wieder zu sich kam. Alle Leute lobten den Gaul. »Der Gaul hatte mehr Verstand als der Nigger«, sagte Gant und leckte seinen Daumen.

      In der Tiefe ihres Herzens glaubte Eliza fest, dies sei ein vereitelter Anschlag der dunklen Mächte gegen ein hohes, vorbestimmtes, holdes Geschick. Die Spur des Zentaurerhufs verwuchs fast ganz in Eugens Gesicht. Nur wenn das Licht besonders fiel, konnte man die dünne Narbe erkennen.

      Kurz darauf ließ Mister Hilliard am Eingang der Allee ein Schild anbringen: »Privatweg, Betreten verboten.«

      V

      Lukas genas nach mehreren Wochen vom Fluch der Seuche; es war ein störrischer Fall von Typhus.

      Gant