Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Wolfe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075830562
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er sie alle mit seinem borstigen Schnurrbart. Aber die kleine Helene tätschelte er lange auf die hageren Schulterblätter und drückte sie zärtlich ans Herz. Es gab Eliza einen Stich, dies mit anzusehen.

      Einen Augenblick lang waren beide linkisch und verlegen. Das Absurde des ganzen Plans, das Gefühl der ungeheuerlich tappenden Zufälligkeit allen Lebens machte sie sprachlos.

      »Also …« fing er an. »Ich hoffe, Du weißt, was Du tust.«

      »Laß mich Dir sagen …« – sie lehnte zum Fenster heraus und schürzte die Lippe. »… Du weißt ja nicht, wozu uns das alles führen kann.«

      Er war ein wenig beschwichtigt. Der Zug zockelte langsam ab. Er küßte sie täppisch.

      »Schreib bald, wie's geht«, sagte er und schritt schnell davon.

      »Goodbye! Goodbye!« rief Eliza und winkte mit Eugens kleiner Hand der großen Gestalt auf dem Bahnsteig nach.

      »Kinder, kommt und winkt Euerm Vater Lebwohl!«

      Die Kinder drängten ans Fenster. Eliza weinte.

      Eugen schaute durch die Scheiben und sah die Sonne leuchtendrot auf einem Fluß versinken, der sich durch die bunten Felsschluchten von Tennessee wand. Dieser verzauberte Fluß blieb ihm für immer im Gemüt. Jahre später noch sah er ihn in Träumen von überirdischer, unheimlicher Schönheit. Vom großen Wunder befangen, vom Stoßrhythmus der rollenden Räder gewiegt, schlief er ein.

      Ein weißes Eckhaus, mit Rasenflächen nach beiden Seiten – da wohnten sie. Eugen merkte, daß es weit vom Häusergedräng und Straßengedröhn der Stadtmitte lag. Aber wo war der Fluß?

      Zwei kleine Buben mit weißblondem Schütterhaar und schmalen, gemeinen Gesichtern rasten ständig auf Dreirädern auf dem Bürgersteig vorm Haus auf und ab. Sie trugen weiße Matrosenanzüge mit blauen Kragen, und Eugen haßte sie sehr. Er spürte unklar, daß ihr Vater ein schlimmer Mann sei, der sich beim Sturz in einen Aufzugschacht beide Beine gebrochen hätte.

      Der Garten hinterm Haus war ganz mit einem rotgestrichnen Bretterzaun umzogen. Ganz hinten stand eine rote Scheune. Viele Jahre später kam Steve einmal heim und erzählte, daß dort das Viertel jetzt ganz aufgebaut sei. Wo?

      Eines Tages standen zwei Betten zum Lüften in dem heißen, unbebauten Hintergarten. Auf einem räkelte sich mit träg angezogenen Beinen Eugen. Auf dem anderen Bett lag Lukas. Sie aßen Pfirsiche. Eine Fliege setzte sich auf Eugens Pfirsich und sog sich fest. Er biß sie mit ab und schluckte sie hinunter. Lukas brüllte vor Lachen. »Fliegenfresser! …« Es wurde Eugen plötzlich schlecht, er erbrach heftig. Er konnte ein paar Tage nicht essen. Er fragte sich, warum er die Fliege gegessen habe, obschon er sie doch die ganze Zeit deutlich gesehen hatte.

      Der Sommer kam mit wilder strahlender Hitze. Gant erschien auf ein paar Tage. Er brachte Daisy mit. Eines Abends saßen sie in einem. Biergarten an einem kleinen Tisch. Eugen starrte durstig auf den blasigen Schaum über dem Steinkrug. Er spürte Lust, sein Gesicht in diesen schneekühlen Schaum zu stecken und den tiefen Zug der Glücksal zu tun. Eliza ließ ihn versuchen. Sie alle lachten laut über seine sauer verzogne, enttäuschte Miene.

      Nie vergaß Eugen, wie Gant an diesem Abend dasaß und, Schaum im Schnurrbart, mächtige Schlücke trank. Sein prächtiger Durst erweckte das Verlangen, gleichzutun. Er fragte sich, ob wohl alles Bier bitter wäre, ob nicht einmal die Zeit käme, wann er in die Erkenntnis dieses großen Getränks eingeweiht werden würde.

      Gesichter aus der halbvergeßnen Heimat erschienen von Zeit zu Zeit. Leute aus Altamont kamen und blieben als Pensionäre in Elizas Haus. Eines Tages sah Eugen auf und erkannte mit dem Schreck des jähen Sicherinnerns das brutale, glattrasierte Gesicht Jim Lydas. Er war Sheriff von Altamont und wohnte ein paar Häuser unterhalb Gants. Einst, als Eugen knapp über zwei Jahre alt war, hatte Eliza zu einem Prozeß nach Piedmont gemußt. Sie blieb zwei Tage weg, und Eugen wurde der Obhut von Mistress Lyda übergeben. Eugen vergaß nie die versteckte Grausamkeit, mit der Jim Lyda ihn am ersten Abend, als er mit ihm spielte, gequält hatte.

      Nun war dieses Ungeheuer plötzlich wieder auf teuflische Art aufgetaucht. Eugen starrte in sein schlimmes Gesicht. Er sah, daß Eliza neben Jim stand. Als Jim Eugens Entsetzen bemerkte, tat er so, als wolle er Eliza schlagen. Eugen schrie vor Wut und Angst. Jim und Eliza lachten. Der blinde Augenblick kam, in dem Eugen seine Mutter zum erstenmal haßte, rasend und machtlos aus Eifersucht und Furcht.

      Eliza hatte die Brüder Steve, Ben und Grover gleich auf Arbeit geschickt. Allabendlich kamen sie von der Weltausstellung heim und erzählten erregt vom Rummelplatz. Sie sprachen lüstern und blasiert vom Hoochy-Koochy. Eugen verstand, daß das ein Tanz war. Steve dudelte die monotone, verfängliche Melodie und wiegte. sich wollüstig dazu. Sie sangen einen Gassenhauer, dessen leis verschluchzte Weise es Eugen so antat, daß er ihn lernte:

      »Triff mich in Saint Louis, Saint Louee,

      Auf dem Rummelplatz,

      Erzähl es den Burschen und Mädchen,

      Sag ihnen, da war noch viel Platz,

      Da tanzen wir Hoochy-Koochy,

      Jeder,

      jeder mit seinem Schatz …«

      Öfters, wenn er sich im Garten auf einer Steppdecke sonnte, wurde Eugen sich bewußt, daß ein liebes Antlitz um ihn war …, eine weiche, wohltuende Stimme, unvergleichlich anders als die Stimmen der andern …, eine zarte, olivengetönte Haut …, schwarzes Haar …, warme dunkle Augen mit dem Ausdruck einer erlesenen, trauervollen Güte. Dieses Wesen brachte sein sanftes Gesicht ganz nahe an das von Eugen, es streichelte und umarmte ihn. Auf seinem braunen Hals hatte es ein Muttermal, ganz wie eine Himbeere. Eugen rührte dieses Muttermal immer wieder voll Verwunderung an. Das Wesen war Grover – der liebenswürdigste und stillste von seinen Brüdern.

      Manchmal erlaubte Eliza, daß die Geschwister den Kleinen auf Ausflüge mitnahmen. Einmal fuhren sie auf einem Flußdampfer. Eugen ging unter Deck und sah durch ein Kajütenfenster aus allernächster Nähe auf die mächtige gelbe Schlange, die sich unwiderstehlich und langsam weiterwand.

      Die Brüder arbeiteten als Laufburschen auf dem Ausstellungsplatz in einem Restaurant, dessen Name »Inside Inn« Eugen völlig verzauberte. Manchmal schleiften ihn seine Mutter oder eines seiner Geschwister durch das Dschungel und den Lärm, an der Üppigkeit und Vielfalt des Lebens auf der Weltausstellung vorbei. Das ostindische Teehaus betäubte seine Phantasie; als er hochgewachsene, beturbante Gestalten drinnen schreiten sah, empfing er seinen ersten unvergeßlichen Eindruck von der leisen, weihrauchduftigen Magie des Orients. Einmal blieb er in einem großen, von Lärm durchrasselten Gebäude wie angewurzelt stehen. Eine Lokomotive, das riesenhafteste Ungeheuer; das er je gesehen, rollte mit schrecklich sausenden Rädern auf Schienen: der Ofen glühte; rote Kohle rutschte durch den Rost; zwei Heizer feuerten unermüdlich: der Widerschein der Flammen lag auf ihren Gesichtern. Das Bild brannte sich in sein Gedächtnis wie eine Szene aus der Hölle; es machte ihm bang und begeisterte ihn.

      Dann wieder stand er winzig in der Schiffschaukel des großen Schwungrads – es war, als ob der Sternenhimmel sich langsam und schaudernd drehte – und sauste hilflos stotternd hinunter in die wüste Phantasmagorie des Karnevals. Lukas erzählte wilde Geschichten von einem Schlangenfresser; Eugen schrie auf, als er drohte, ihn dorthin mitzunehmen.

      Einmal gab Daisy der katzenhaften Grausamkeit, die unter ihrer Sanftmut lauerte, nach und nahm ihn auf die »Achterbahn der Schrecken« mit. Sie stürzten ins Bodenlose, vom grellsten Licht in tosende Finsternis; sie rollten langsam in einen düstern Raum, dessen Wände mit gräßlichen Fratzen, bleckenden Nachtmahren, drohenden Todgespenstern bemalt waren. Seine Schwester und die anderen Fahrtgenossen lachten laut: Eugens Herz aber zog sich zusammen. Unvorbereitet, wie er war, stand er wahnsinnige Ängste aus. Sein Verstand, der eben erst zögernd die unwirkliche Wildnis der Kinderphantasie verlassen hatte, wurde vom Trubel und Rummel der Weltausstellung völlig zerrüttet. Er war fest überzeugt – und diese Überzeugung wiederholte sich öfters in späteren Jahren –, daß das Leben ein irrsinniger Alptraum, eine dämonische Tortur für den Menschen sei. Halberstickt vor Terror kam er schließlich wieder heraus an die warme ratsame Sonne.

      Seine