Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Wolfe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075830562
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der Fahrerbank und hörte zum erstenmal den stoßweisen, wunderbaren Gang des Motors. Sie fuhren in strömendem Regen durch glänzend-nasse Straßen und an den Kaskaden vorbei; die Wasser stürzten vor einem großen weißen Gebäude, an dem zehntausend Lichter wie Juwelen glühten.

      Der Sommer war fort. Der Herbstwind flüsterte von verklungnen Festen. Der große Karneval war beinahe herum.

      Und nun wurde es sehr still im Haus. Eugen bekam seine Mutter kaum zu Gesicht. Er blieb im Haus unter der Obhut seiner Schwestern. Er wurde ständig ermahnt, ruhig zu sein.

      Eines Tages kam Gant zum zweitenmal. Grover war schwer am Typhus erkrankt.

      »Er sagt, er hätte auf der Ausstellung eine Birne gegessen«, berichtete Eliza zum hundertstenmal. »Er kam heim und sagte, es wär ihm schlecht. Ich legte meine Hand auf seine Stirn, sie war glühendheiß. ›Aber um Himmels willen‹, sagte ich, ›was in der Welt‹ …«

      Die dunklen Augen glommen in ihrem bleichen Gesicht. Sie hatte Angst und redete sich Hoffnung ein.

      »Hallo, mein Sohn Grover«, sagte Gant hochgemut, als er in die Stube trat. Das Herz zog sich ihm zusammen, als er den Jungen sah.

      Nach jedem Besuch des Arztes schürzte Eliza nachdenklicher die Lippe. So gut sie konnte, machte sie sich Mut, aber ihr Herz war getroffen, verzagt. Eines Nachts riß sie sich plötzlich zusammen; sie eilte aus dem Krankenzimmer zu Gant. Sie schüttelte wortlos den Kopf und flüsterte dann schnell: »Tot, tot, tot.«

      Eugen lag tief im mitternächtigen Schlummer. Jemand rüttelte ihn. Er kam langsam zu sich und fand sich in Helenens Armen. Sie saß auf dem Bettrand und hielt ihn. Ihr kleines, übernächtiges und betroffenes Gesicht starrte ihn an. Langsam und deutlich sprach sie zu ihm; aus ihrer bestürzten Stimme klang eine verworrne Gier:

      »Willst Du Grover noch einmal sehen? Er liegt auf dem Kühlbord«, flüsterte sie. Eugen überlegte, was ein Kühlbord wäre. Das ganze Haus war von Bedrohung erfüllt. Sie trug ihn über den halbhellen Hausflur in ein Vorderzimmer. Er hörte gedämpfte Stimmen. Helene öffnete leise die Tür. Das Licht lag voll auf dem Bett. Eugen sah. Entsetzen schwärmte wie Gift in sein Blut. Vor dem armen, ausgebrannten Lebensgehäuse erinnerte er sich jählings an das warme braune Gesicht, an die guten Augen, die oft lange auf ihm geruht hatten. Wie einer, der aus Umnachtung erwachend wieder zur Vernunft kommt, erkannte er das vergeßne, wochenlang nicht gesehene Antlitz, die fremde leuchtende Einsamkeit, die nicht wiederkommen würde. O verlornes, vom Wind gekränktes Gespenst, kehre zurück!

      Eliza saß hilflos auf einem Stuhl, das Gesicht zur Seite geneigt, den Kopf in die Hand gestützt. Sie weinte. Ihre Miene war in die gräßliche Grimasse verzogen, die so unendlich viel furchtbarer ist als der stille Ausdruck des Kummers. Gant tröstete sie verlegen, sah von Zeit zu Zeit nach dem Jungen hin. Dann ging er hinaus und reckte die Arme vor Qual.

      Männer kamen, legten die Leiche in einen Korb und trugen sie aus dem Haus.

      »Er war genau zwölf Jahre und zwanzig Tage alt«, wiederholte Eliza immer wieder. Die Tatsache schien sie mehr als alles andere zu bekümmern.

      »Geht jetzt, Kinder, und schlaft!« befahl sie plötzlich. Als sie sprach, fiel ihr Blick auf Ben, der verwirrt, mit zusammengezogenen Brauen, mit seinem sonderbaren, greisenhaften Blick vor sich hinstarrte. Sie dachte, daß die Zwillinge nun getrennt seien. Sie erinnerte sich daran, wie sie zwanzig Minuten nacheinander zur Welt gekommen waren. Sie dachte, wie einsam Ben nun wäre. Das Mitleid mit ihm überkam sie. Sie weinte wieder. Die Kinder gingen zu Bett.

      Gant und Eliza blieben allein im Zimmer, Gant schlug die Hände vors Gesicht. »Der beste Junge, den ich hatte«, murmelte er. »Bei Gott! Der beste von allen.«

      In der tickenden Stille gedachten sie seiner. In ihren Herzen war Angst und Reue, denn Grover war ein stilles Kind gewesen, und da sie viele Kinder hatten, hatten sie ihn nie recht beachtet.

      »Das Muttermal«, flüsterte Eliza. »Ich werde es nie vergessen. Nie, nie.«

      Dann wurden sie auf einmal einander gewahr. Sie spürten das Grauen und die Fremdheit ihrer Umgebung. Sie entsannen sich des weinumwucherten Hauses im fernen Gebirg, der knatternden Kaminfeuer, des Tumults der Kinder. Sie entsannen sich des Fluchs und der Pein ihrer blinden, verstockten Leben. Sie erkannten das tappende Geschick, das sie nun, am Ende des Karnevals, in dieser entlegnen Stadt mit dem Tod in Berührung gebracht hatte.

      Eliza fragte sich, warum sie eigentlich hergezogen wäre. Sie suchte nach einer Antwort im Irrgarten ihres Gemüts. »Ach, wenn ich gewußt hätte, wie das enden würde …«, fing sie an.

      »Laß schon!« tröstete er und streichelte sie mit schwerfälliger Zärtlichkeit. Nach einer Weile sagte er dumpf: »Mein Gott! Wie fremd und unfaßbar das alles ist, wenn man es bedenkt.«

      Als sie nun dasaßen und stiller wurden, wallte Mitleid in ihnen auf. Nicht Selbstmitleid, sondern Mitleid miteinander, Mitleid mit der wüsten Wirrsäligkeit des schicksaldumpfen Daseins.

      Gant dachte kurz an seine vierundfünfzig Jahre, seine entschwundene Jugend, seine sinkende Kraft, an das Häßliche und Böse in seinem Leben. Lautlose Verzweiflung darüber, daß Geschehenes nicht zu ändern ist, überkam ihn.

      »Ach, wenn ich gewußt, hätt'«, fing Eliza wieder an. Und dann sagte sie nur: »Es tut mir so leid.« Gant wußte, daß ihr Kummer nun nicht ihm oder ihr selber galt, ja, nicht einmal dem Jungen, den das schnöde Geschick der Seuche in den Weg geworfen hatte …«, er spürte, daß Eliza in einem plötzlichen Aufflackern innerer Hellsichtigkeit zum erstenmal in ihrem Leben klar und ohne Vorbehalt die Unerbittlichkeit des Geschehens einsah … er verstand, daß ihr leid war um alle, die auf Erden gelebt hatten, lebten, leben würden, O verloren!

      Sie reisten unverzüglich nach Hause. Auf jeder Station sahen Gant und Eliza im Gepäckwagen nach. Es war grauer November. Die Bergwälder standen kahl über dem rostbraunen Teppich welken Laubs. Welkes Laub wehte durch die Straßen von Altamont. Es häufte sich auf den Pfaden, in den Rinnsteinen an. Welkes Laub trieb im Wind.

      Die Tram fuhr schürfend um die Kurven bergauf. Die Gants stiegen aus. Die Leiche war schon vom Bahnhof ins Haus geschafft worden. Mistress Tarkinton kam schluchzend aus ihrem Haus, Eliza entgegen. Ihre älteste Tochter war vor einem Monat gestorben. Die beiden Frauen fielen sich in die Arme und weinten laut.

      Der Sarg war bereits im Empfangszimmer aufgebahrt. Die Nachbarn, mit Beerdigungsgesichtern, waren versammelt und grüßten flüsternd.

      Das war alles.

      VI

      Grovers Tod versetzte Eliza die furchtbarste Wunde ihres Lebens. Ihr Lebensmut war angepackt; ihr maßvolles, aber mächtiges Streben nach Freiheit kam plötzlich zum Stillstand. Ihr schauderte schon beim bloßen Gedanken an die entlegene Großstadt und die Weltausstellung. Sie lebte in Angst vor dem versteckten Feind, der so hart zugeschlagen hatte.

      In Verzweiflung und Traurigkeit kapselte sie sich im Heim ein. Sie war bereit gewesen, das Familienleben aufzugeben; nun ging sie ganz in ihm auf. Sie arbeitete und plagte sich, nur um zu vergessen. Aber plötzlich lugte dann wieder das geliebte verlorne Antlitz, dunkel und unfaßbar wie das eines Fauns, aus dem Gartendickicht ihres Gedenkens. Das Muttermal am braunen Halse fiel ihr ein, und sie weinte.

      Während des grimmen Winters schwanden mählich die Schatten. Gant schichtete knatternde Feuer im Kamin, der Tisch bog sich von üppigen Mählern, der füllige, berstende Alltag ging seinen geregelten Gang. Sie fanden wieder Geschmack am Leben.

      Und als der Winter verwich, löste sich langsam das Zwischendunkel in Eugens Gemüt. Tage, Wochen, Monate folgten aufeinander in strahlender Helligkeit. Er erholte sich vom Wirrsal der Weltausstellung. Das wirkliche Leben erschloß sich.

      Bewahrt und selbstbewußt gedieh er nun in der sicheren Veste des Heims. Mit wohlgefülltem Bauch lag er vor dem lodernden, lebensregenden Kaminfeuer und schwelgte unersättlich. in den großen Bänden aus dem Büchergestell, verliebt in den Schmökergeruch des Papiers und das scharfe Aroma der Lederrücken. Seine Lieblingsbücher waren drei Kalblederbände, Ridpaths Weltgeschichte, unzählige Seiten mit vielen hundert Bildern. Er verfolgte den Gang der Jahrhunderte in Bildern,