STRATTON: DIE GEISEL. Duncan Falconer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Duncan Falconer
Издательство: Bookwire
Серия: Stratton
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958352827
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war, und er konnte sich mit jedem anlegen, sogar mit Vorgesetzten, wenn sein Blut in Wallung geriet. Zwei Dinge brachten garantiert den Teufel in ihm zum Vorschein: Inkompetenz und jeder, der versuchte, sich mit seiner Einheit anzulegen, ob Feind oder nicht. Er hatte vorher noch nie einen Kuttuc gehabt. Tatsächlich hatte es nur ein Kidnapping eines Angehörigen der Special Forces gegeben seit Nairac, einem SAS-Verbindungsoffizier, der in den 1970er-Jahren entführt, verprügelt und getötet worden war. Der einzige Agent der Abteilung, der je entführt worden war, einige Jahre bevor Mike zur Einheit stieß, stammte aus der Undercover-Abteilung der nördlichen Provinz. Er wurde durch reines Glück rechtzeitig gerettet, kurz nachdem er von den Provos, Angehörigen der Provisional IRA, geschnappt worden war. Die Lektion aus beiden Kidnappings lautete: Jede verstrichene Sekunde schmälerte die Chancen, dass Spinks gerettet wurde.

      »Lisburn Einsatzzentrale hier«, murmelte die Stimme mit gepflegtem britischem Akzent am anderen Ende der Leitung.

      »Hier ist Mike von der südlichen Einheit, Sir. Ich muss sofort mit dem Chief sprechen.«

      »Hört sich dringend an, alter Junge«, sagte der Offizier.

      »Es ist sehr dringend«, sagte Mike und verlieh seiner Stimme den Nachdruck, den sie vorher nicht gehabt hatte.

      »Eine Sekunde«, sagte der Offizier, dem klar wurde, dass es sehr eilig war.

      Mike hielt das Telefon weiter ans Ohr, während seine Augen über die Karte huschten und an der internationalen Grenze hängen blieben, besonders da, wo sie dem Ort am nächsten kam, an dem Spinks gekidnappt worden war. Die Entfernung war nicht besonders groß.

      Graham rannte den Korridor entlang. »Natürlich werde ich Stratton holen. Wen sonst?«, beantwortete er sich selbst Mikes Frage, als er den Einsatzraum verließ.

      Funker wie Graham hatten im Einsatzraum das Sagen. Natürlich mussten alle wichtigen Entscheidungen vom Boss getroffen werden, aber in Wahrheit konnte Graham so ziemlich mit jeder Notsituation fertig werden, die sich ergab, meistens sogar schneller und effizienter. Er war nicht nur kompetent, sondern hatte zudem ein phänomenales Gedächtnis. Er kannte so ziemlich jede Rufnummer und Funkfrequenz auswendig, die von der Britischen Armee in Nordirland verwendet wurde, und erinnerte sich auch an Details der Einsatzkräfte, ihre Fahrzeuge und Nummernschilder, Adressen, Namen, Verbindungsleute … die Arten von Fragen, welche Agenten per Funk ständig den Aufklärungseinheiten stellten und auf die sie eine schnelle Antwort brauchten. Meist war es schneller, Graham zu kontaktieren und ihm die Frage zu stellen, als die Datenbanken zu durchsuchen oder die Aufklärungszelle zu fragen.

      Grahams Schritte hallten auf dem Fliesenboden des engen Korridors, in dem der Putz von den Wänden bröckelte. Das Verwaltungsgebäude der Royal Air Force aus dem Zweiten Weltkrieg wäre vermutlich abgerissen worden, wenn die Undercover-Einheit es nicht übernommen hätte. Er bog um eine Ecke, kam zu einer Tür und drückte sie auf. Der Raum war groß genug, um 20 zusammengewürfelte, abgewetzte alte Sessel darin unterzubringen, die alle auf einen Fernseher gerichtet waren, der auf einem Tisch am anderen Ende des Raumes stand. Außerdem war da noch ein durchhängendes Bücherbord mit zerlesenen Paperbacks und an der Wand gegenüber des Fernsehers stand ein Tisch mit einer Auswahl aktueller Tageszeitungen. Über eine Zeitung gebeugt, die er in seinen schlanken, muskulösen Armen hielt, saß ein Mann mit langen, mausgrauen, ungewaschenen Haaren in einem alten Rugby-Shirt, der Kopf zwischen seinen kräftigen Schultern war leicht gebeugt.

      »Stratton?«, fragte Graham. Es war keine Spur der Vertrautheit mehr zu hören, die in seiner Stimme lag, wenn er sich mit anderen Leuten der Einheit unterhielt, selbst mit Mike, dem Boss, und trotz der Schwere der Situation klang seine Stimme nicht mehr so drängend. Er konnte es nicht verhindern. Stratton hatte einfach diese Wirkung auf ihn.

      Stratton sah sich um. Er hatte sich seit Tagen nicht mehr rasiert, was sein kantiges Profil ein wenig abmilderte, und seine Nase sah aus, als sei sie schon einmal gebrochen gewesen. Sein Gesicht war ausdruckslos, wie bei einem Raubtier, das aus seinem Käfig heraus einen Menschen ansah. Es waren die Augen, die Graham faszinierend fand, und die, zumindest für ihn, den Charakter des Mannes zeigten. Sie waren weder manisch noch stechend. Ablehnend, ausdruckslos, aber auch durchdringend, so hatte Graham sie seinem Bruder beschrieben, dem einzigen, den er in die Details seines außergewöhnlichen Jobs eingeweiht hatte. Stratton war anders als alle anderen Männer, die er im Job getroffen hatte. Im Gegensatz zum Rest der Undercover-Agenten war Strattons übergeordnete Einheit die Special Forces. Er wusste nichts Sicheres über Strattons Vergangenheit, kannte nur die unzähligen Gerüchte: Veteran des Golfkriegs, Balkankriegs, des Drogenkriegs in Kolumbien, außerdem gab es Gerüchte über einen Einsatz in Afghanistan. Und das kam alles noch vor den vier Kills, seit er in der Einheit angekommen war. Vier in eineinhalb Jahren. Das war viel, wenn man bedachte, dass die Mehrheit der Agenten keinen einzigen hatte und es nur zwei in einer anderen Abteilung gab, die jeweils einen vorweisen konnten. Aber Stratton schien immer zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein, so sah es zumindest aus. Sein Erfolg war wohl der Tatsache zuzuschreiben, dass er immer auf der Suche nach einem Kill war, während die meisten Agenten schon damit zufrieden waren, den Tag hinter sich gebracht zu haben.

      Die ersten beiden Kills, nur einen Monat nachdem Stratton zur Abteilung gekommen war, waren zwei glücklose bewaffnete Räuber gewesen, die gedroht hatten, ihre Waffen gegen jeden zu richten, der versuchen würde, sie aufzuhalten. Stratton stieg gerade aus dem Auto, als die beiden aus dem Wettbüro gerannt kamen, das sie soeben überfallen hatten, und auf ihr Motorrad steigen wollten, das für die Flucht bereitstand. In ein paar Sekunden war alles vorbei gewesen – so lange hatte Stratton gebraucht, um seine Waffe aus dem Schulterholster zu ziehen und aus knapp zehn Metern Entfernung je zwei Kugeln durch die Motorradhelme der beiden zu jagen. Die Räuber waren Protestanten gewesen – nicht, dass Stratton das interessiert hätte. Es waren Verbrecher, die mit Waffen herumfuchtelten, und leider waren sie auf jemanden getroffen, der nicht groß herumfuchtelte.

      Die anderen beiden offiziellen Kills waren das Ergebnis eines versuchten Autodiebstahls. Stratton stand im Stau auf einer belebten Straße, als ein junger unerfahrener Provo mit seinem Pistolenlauf ans Fenster geklopft und gefordert hatte, er solle aus dem Wagen steigen. Stratton war cool geblieben und hatte gesehen, dass der Bewaffnete einen Partner hatte, der ihm von der anderen Straßenseite aus mit einem Gewehr Deckung gab. Einen Augenblick lang hatte er in die zu Schlitzen verengten Augen seines Gegenübers gestarrt und darin etwas bemerkt, das seine Zuversicht mehrte, mit der Situation schnell und sicher fertig zu werden.

      Stratton war ausgestiegen, mit den Armen zur Seite ausgestreckt, und hatte den jungen Mann angesehen, der seine Pistole viel zu fest umklammert und auf Stratton gerichtet hatte. Der Mann forderte ihn auf, beide Seiten seiner Jacke aufzuhalten. Beim Anblick der Pistole im Holster unter Strattons linkem Arm, hätte der nervöse republikanische Soldat ihn gefragt, wer er war. Hätte Stratton nicht geantwortet, wäre er tot gewesen. Hätte er mit seinem englischen Akzent geantwortet, wäre er tot gewesen. Es war nahezu unmöglich, sich einen überzeugenden nordirischen Dialekt zuzulegen, wenn man nicht aus dieser Gegend stammte – die wenigsten Agenten versuchten es überhaupt. Was Stratton aus dem Wagen gesehen und was seine Zuversicht gestärkt und das Schicksal des jungen Mannes besiegelt hatte, war die Tatsache, dass der unglückliche Provo offensichtlich vergessen hatte, dass seine halbautomatische Browning 9 mm nur halb gespannt war. Eine Eigenschaft dieser Waffe war, dass man unmöglich den Abzug betätigen konnte, wenn der Hahn nur einen Klick, also halb gespannt war. Um die Pistole abzufeuern, muss der Hahn einen zweiten Klick zurückgezogen werden, bis er voll gespannt war. Der Provo war ein Linkshänder – der Sicherheitsriegel, der auf der linken Seite der Waffe lag, war für linkshändige Schützen schwer zu betätigen, also verwendeten diese oft den halb gespannten Hahn als Sicherheitsmaßnahme.

      Stratton öffnete ruhig seine Jacke und zog seine Pistole heraus. Der junge Provo drückte mit aller Kraft den Abzug, aber bis ihm klar geworden war, wieso die Waffe nicht feuerte, und er seinen Daumen zum Hahn bewegt hatte, um ihn voll zu spannen, war es zu spät. Als er mit zwei Schüssen durchs Herz zu Boden ging, ließ sich Stratton auf ein Knie fallen, um den Mann auf der anderen Straßenseite aufs Korn zu nehmen. Er traf ihn mit zwei Schüssen in den Körper, damit er nicht länger auf Stratton zielen konnte, und erledigte ihn dann mit einem Kopfschuss.

      Und