»O'Farroll und ein männlicher Unbekannter stehen draußen und unterhalten sich«, flüsterte Spinks.
Ein merkwürdiges Geräusch kam aus dem kabellosen winzigen Kopfhörer, der tief in seinem Ohr steckte. Es klang wie eine Stimme unter Wasser. Nach einer Sekunde wurden die Worte verständlich. Das abhörsichere Kommunikationssystem zerstückelte die Nachricht, verschickte sie dann gut verschlüsselt durch die Luft, um sie beim Empfänger wieder zusammenzusetzen. Es hieß, die leistungsfähigsten Computer würden einen Monat brauchen, um auch nur einen Satz zu rekonstruieren.
»Verstanden, One Three Kilo«, sagte eine weibliche Stimme als Antwort auf Spinks' Nachricht.
Spinks behielt die beiden Männer im Auge, ohne zu blinzeln.
Die weibliche Stimme gehörte Agatha, die lieber Aggy genannt wurde, obwohl sie eigentlich keinen der beiden Namen leiden konnte. Normalerweise ignorierte sie jeden, der sie Agatha nannte, außer natürlich, es war ein vorgesetzter Offizier. Keiner der beiden Namen war ihr echter. Kein Agent benutzte seinen echten Namen, für den Fall, dass sie gefangen genommen und gefoltert werden würden. Es kam ihr komisch vor, die Abkürzung eines falschen Namens zu benutzen. Bis zu dem Tag, als sie das versteckte Camp betrat, wo das Auswahlverfahren stattfand, hatte sie keine Ahnung gehabt, dass sie eine falsche Identität brauchen würde. Alles war so top secret gewesen. Erst während der Prozedur bei der Ankunft, als ihre Taschen samt Inhalt konfisziert wurden und sie sich für die Durchsuchung auszog, hatte man sie nach einem Decknamen gefragt. Den sollte sie von nun an benutzen, noch bevor sie irgendeinen der anderen Rekruten traf, deren Identitäten genauso geheim waren, und dann für den gesamten Rest ihrer Dienstzeit als Undercover-Agentin. Vorausgesetzt natürlich, sie würde den anstrengenden, vier Monate langen Auswahlprozess überstehen. Der ungeduldige Geheimdienstoffizier hatte ihr nur Sekunden gelassen, um einen Namen zu wählen. Sie hatte sich spontan für Agatha entschieden, so hieß ihre Lieblingstante. Kurze Zeit später stellte sie fest, dass ihr der Name nicht besonders gefiel, doch da war es schon zu spät. Er hatte es bereits notiert und war in den nächsten Raum gegangen, wo ein weiterer entkleideter Rekrut sich einer Identitätsfeststellung unterzog. Von diesem Moment an hieß sie Agatha oder Aggy.
Aggy war hübsch und Anfang 20. Ihr Gesicht, besonders ihre Augen, hatten etwas Katzenhaftes, aber alles andere, ihr Benehmen und ihre Kleidung, wirkte maskulin. Sie trug nie Kleider und lungerte meist in wenig damenhafter Weise an ihrem Schreibtisch: einen Fuß auf dem Tisch oder über die Armlehne gehängt. Die Hände hatte sie fast immer in den Hosentaschen und sie konnte kaum stillstehen, ohne sich irgendwo anzulehnen. Während des Auswahlprozesses hatte sie das Haar kurz getragen und den Spitznamen ›Kid‹ verpasst bekommen, weil sie wie ein hübscher Junge aussah. Nachdem sie zur Abteilung gestoßen war, hatte man sie hinter ihrem Rücken mit einem weit weniger netten Spitznamen bedacht, der ihre sexuelle Orientierung in Zweifel zog. In Anbetracht des Berufes, den sie gewählt hatte, und angesichts dessen, was sie durchmachen musste, um ausgewählt zu werden, und was von ihr alles erwartet wurde, erschien ihr burschikoses Wesen gleichermaßen Vorteil und Nachteil zu sein. Man erwartete von ihr, so tough zu sein wie ein Mann, in einem Job, der früher reine Männersache war, den sie aber als Frau ausfüllen sollte. Sie wurde genauso unterrichtet und denselben Tests unterzogen wie ihre männlichen Kollegen, sie wurde ebenso schroff und brutal behandelt. Schließlich erwartete man das auch von einem Agenten, der undercover arbeitet und einen Auswahlkurs durchläuft, dessen Härte legendär war. Dies alles ohne Rücksicht auf ihren schwächeren Körperbau. Und am Ende bat man sie dann, ihre weibliche Seite zu kultivieren, und schickte sie raus, um den gleichen Job zu erledigen, wie ihre männlichen Kollegen, aber dabei weiblich auszusehen und sich auch so zu verhalten. Ihr völliges Versagen auf dem Fachgebiet Weiblichkeit hätte möglicherweise mehr Kritik bei einigen Hardlinern unter den Agenten hervorgerufen, wenn sie nicht so ein hübsches Gesicht gehabt hätte. Frauen wurden für diesen Job rekrutiert, weil es einen spezifischen Bedarf an weiblichen Undercover-Agenten gab. Eine Agentin, die wie ein Mann aussah, machte keinen Sinn. Viele betrachteten das sogar als gefährlich.
Aggy saß in ihrem dunkelbraunen, viertürigen Audi. Sie trug weite Jeans und eine schwarze Skijacke und hatte ihre Turnschuhe zu beiden Seiten des Lenkrads auf dem Armaturenbrett platziert. Das Auto parkte auf einer Lichtung in einem kleinen Nadelwald, nur ein paar Meilen von der Straße entfernt, an der die Kirche stand. Neben ihr saß Ed, der mürrische, abgehalfterte Agent, der Spinks nachts abgesetzt hatte. Sie warteten, während Spinks das Treffen observierte. Er sollte ihnen Bescheid sagen, sobald er fertig und der Kirchplatz leer war, damit Ed ihn abholen konnte. Aggy würde die Straße entlangfahren und Ed außerhalb der Sichtweite von Personen oder Häusern absetzen, ein paar hundert Meter von der Kirche entfernt. Er sollte dann allein weiter zu Spinks' Auto gehen und es zum Hauptquartier zurückbringen.
Es war einer dieser typischen Aufträge, bei denen man ewig herumsaß, und Aggy war genervt, nicht so sehr über den Auftrag an sich, sondern wegen der Zusammenstellung der Teams – genauer gesagt, wegen Ed. Die Tarnung für männliche und weibliche Agenten, die in einem einsamen Auto warten mussten, war normalerweise romantischer Natur. Wenn jemand vorbeikäme, konnten sie sich küssen und herumschmusen, um keinen Verdacht zu erregen: Sex im Auto war ein weitverbreiteter Zeitvertreib in Nordirland. Keiner hätte als ihr Freund jedoch unpassender wirken können, als Ed. Bei genauerem Hinsehen hätte ihr kleines Schäferstündchen in der Wildnis sicher niemanden davon überzeugt, dass sie auch nur einen Hauch von Leidenschaft füreinander empfanden. Ed war hager, hatte jedoch einen Bierbauch. Er trug einen zerzausten Oberlippenbart und rauchte eine selbstgedrehte Woodbine nach der anderen. Eine Angewohnheit, der er seit seinem dreizehnten Lebensjahr frönte und die zweifellos dazu beigetragen hatte, dass sein Gesicht ziemlich vertrocknet und ausgezehrt wirkte. Er war 40, sah aber viel älter aus. Ed verabscheute jede Form körperlicher Ertüchtigung. Das letzte Mal gerannt war er bei seinem Auswahlverfahren vor 18 Jahren.
Und als wären die Unterschiede zwischen ihm und Aggy nicht schon groß genug gewesen, fand sie zudem, er sei einer der langweiligsten und nervigsten Nörgler, den sie je getroffen hatte. Von seinen 18 Jahren beim Militär war er sechs davon als Agent im Einsatz gewesen. In den restlichen zwölf Jahren hatte er Bürojobs für die ihm übergeordnete Aufklärungsabteilung erledigt. Ed war nur deshalb Sergeant geworden, weil er lange genug gedient hatte. Mit seinen relativ begrenzten Fähigkeiten hatte das nichts zu tun. Sein Aufstieg durch die Dienstränge war einzig der Undercover-Einheit geschuldet: Da er oft auf Achse war, wurde er »in Abwesenheit« beurteilt und wegen seiner »Spezialaufgaben« war seine Beförderung recht großzügig ausgefallen. Nur ein kleines Rädchen im Getriebe seiner Einheit, hatte er als Dinosaurier einen gewissen Nutzen. Er war der älteste Agent auf der Gehaltsliste und einer der wenigen, der einen feuchtfröhlichen Abend in einer verqualmten Arbeiterkneipe verbringen konnte, ohne aufzufallen. Zu Aggys Unglück hielt Ed sich für einen großen Gelehrten und Bewahrer der Weisheiten der Undercover-Arbeit. Die »Frischlinge«, wie er ihre Generation an Agenten nannte, ließ er nie vergessen, wie viele Dienstjahre er schon auf dem Buckel hatte.
Ed war von diesem speziellen Auftrag genauso genervt wie Aggy. Er war einer derjenigen, die sich am lautesten über weibliche Agenten beschwerten und es half nicht gerade, dass er während dieser speziellen Partnerschaft von den anderen Agenten »der Päderast« genannt wurde. Das trug zweifellos dazu bei, dass er nur sehr widerwillig mit ihr kuschelte, wenn es die Situation erforderte. Seitdem sie kurz nach vier Uhr morgens hier angekommen waren, hatten sie sich schon dreimal umarmen müssen. Ed war unrasiert, stank nach Zigaretten, sein Schnurrbart war feucht von dem Kaffee, den er immer wieder aus seiner Thermoskanne nippte, und er hielt sie, als hätte sie einen ansteckenden Ausschlag. Einmal mussten sie eine grausame Viertelstunde kuscheln, weil ein notgeiles Pärchen mit zwei Autos zu einem frühmorgendlichen Schäferstündchen aufgetaucht war.
»Die denken sicher, ich bin 'ne verdammte Schwuchtel«, stöhnte er, als er sie im Arm hielt. Diese Standard-Beschwerde äußerte er an diesem Tag noch häufiger. »Gab noch keine Frauen, als ich vor 18 Jahren mit dem Job angefangen hab«, sagte er in seinem dicken Yorkshire-Dialekt. »Wir ha'm einfach Perücken genommen, wenn's nötig war … Zumindest kenn ich keine Frau, die ihre verdammten Füße auf dem Armaturenbrett hat, wenn sie im Auto sitzt.«
Aggy verdrehte nur die Augen. Es war