Helene bedeckte die Augen einen Augenblick mit ihrem Taschentuch und schluchzte leise.
Ein böser, feindlicher Seitenblick blitzte aus dem Auge des Kandidaten zu ihr hinüber, während ein kaltes, höhnisches Lächeln um seine Lippen spielte.
»Ich wollte zum Oberamtmann gehen,« sagte der Pastor, »dort müssen sie wohl am ersten bestimmte Nachrichten haben, — und sie werden auch recht in Sorge um den Lieutenant sein, — die arme Frau von Wendenstein! — Begleitet mich zum Amtshause, Kinder!«
Und sie schlugen den Weg zu der Anhöhe ein, auf welcher das alte Haus zwischen den hohen, dunkeln Bäumen lag.
Helene hatte den Arm ihres Vaters ergriffen und in unwillkürlicher Eile beschleunigte sie ihre Schritte.
Sie stiegen die Anhöhe hinauf und traten in die offene Vorhalle, wo die alten mächtigen Eichenschränke so still und würdig dastanden wie immer, und die alten Gemälde so ernst und feierlich aus ihren Rahmen blickten, als gäbe es gar keinen Wechsel und keine Sorgen und Leiden in der Welt der lebenden Menschen.
In dem großen Gartensaal schritt der Oberamtmann in gleichmäßigem Schritt auf und nieder, Frau von Wendenstein saß auf ihrem Platz vor dem großen Tische und ihre Tochter neben ihr, — es war Alles wie sonst, und doch lag die Zeit schwer und angstvoll auf allen Mienen, in allen Herzen.
Stumm reichte der Oberamtmann dem Pfarrherrn die Hand, still begrüßte Frau von Wendenstein die Eintretenden und schweigend umarmten sich die jungen Mädchen.
»Es gehen Gerüchte durch das Land von einer großen Schlacht und einem großen Siege,« sagte der Pastor, — »ich hoffte, vielleicht hier etwas Bestimmtes erfahren zu können?« —
»Ich habe keine Nachricht,« sagte der Oberamtmann finster, — »auch ich weiß nur, was die Tradition von Mund zu Mund hieher getragen, — Etwas wird gewiß daran wahr sein, — hoffen wir, daß die Siegesnachricht sich bestätigt!«
Von seiner Sorge sprach er nicht und von der Angst seines Herzens, das an den Sohn dachte, der im fernen Felde stand, — aber ein inniger Blick voll Teilnahme flog unter seinen zusammengezogenen Augenbrauen hervor zu seiner Gattin hinüber.
»Was ist doch die Welt für ein sonderbares Ding,« sagte diese, indem sie leise das Haupt schüttelte, — »sonst in ruhigen Zeiten hebt der Dampf und der Telegraph alle Entfernungen auf und die Nachrichten über die unbedeutendsten Dinge fliegen von einem Ende der Erde zum andern, — und jetzt, wo so viele Herzen in banger Sorge und Unruhe sich quälen, verpflanzen sich die Nachrichten unsicher und langsam von Mund zu Mund, wie in den alten, längst vergangenen Zeiten!«
»Das sind die stolzen Gebäude des Menschengeistes!« sagte der Pastor, — »wo Gottes Hand in die Geschicke der Völker greift, da steht der Mensch schwach und einsam da, und aller Fortschritt der Welt versinkt. Aber daß es Gottes Hand ist, welche hier waltet, muß uns trösten, der Herr hat die Macht, zu schützen und zu erhalten, — er hat auch die Macht, die Wunden zu heilen, welche seine Hand schlägt!«
Mit frommem, ergebenen Ausdruck und gefalteten Händen hörte Frau von Wendenstein die Worte des Geistlichen, — aber eine Thräne perlte in ihrem Auge und bewies, wie tief die bange Ungewißheit auf ihrem Herzen lastete.
»Von der Armee habe ich keine Nachrichten,« rief der Oberamtmann, — »aber von Hannover habe ich einen Brief meines Sohnes erhalten. — Er erzählt von der preußischen Verwaltung — und lobt sehr die Ordnung und Pünktlichkeit derselben,« fügte der alte Herr mit einer gewissen Bitterkeit hinzu.
»Die Herren in Hannover mögen in großer und peinlicher Verlegenheit sein,« sagte der Pastor, — »dort treten die politischen Rücksichten weit mehr in den Vordergrund, als hier auf dem Lande, — und es mag gewiß schwer sein, dort die Pflicht des hannöverischen Dienstes mit den Notwendigkeiten der Lage zu vereinigen.«
»Es scheint, daß die Herren Referenten das sehr leicht zu vereinigen wissen,« sagte der Oberamtmann finster, — »es ist gewiß richtig, daß die preußische Verwaltung vortrefflich, prompt und pünktlich ist, — aber es will mir doch nicht in den Kopf, daß man in diesen Tagen für diese Vorzüge so besondere Bewunderung empfindet. — Nun, die Jugend ist eben anders, als wir es waren zu meiner Zeit!« —
Eilig und mit aufgeregtem Ausdruck trat der Auditor von Bergfeld in den Salon.
»Nun, was bringen Sie Neues aus Lüchow?« rief ihm der Oberamtmann entgegen, und in stummer Frage ruhten alle Blicke auf dem bewegten Gesicht des jungen Mannes.
»Es ist wahr!« rief er, — »eine Schlacht hat stattgefunden — bei Langensalza — und unsere Armee hat gesiegt!«
»Gott sei Dank,« rief der Oberamtmann, — »und ist sie glücklich nach Süden vorgedrungen?«
»Leider nein!« sagte der Auditor trübe, — »am Tage nach der Schlacht waren unsere tapfern Truppen von einer überwältigenden Uebermacht umzingelt, — man hat kapituliren müssen!«
Finster blickte der Oberamtmann vor sich hin. — »Der König ist gefangen?« fragte er.
»Nein,« sagte der Auditor, — »der König ist frei, die Kapitulation ist sehr ehrenvoll, die Offiziere kehren mit Waffen und Pferden zurück! — Aber,« fuhr er fort, — »es sind viele Verwundete da, in Hannover haben sich Komites gebildet, — die Lebensmittel sind selten, man bittet um Leinenzeug, Brod und Fleisch aller Art —«
»Sofort soll Alles verpackt werden, was sich im Hause vorfindet!« rief der Oberamtmann lebhaft, — »die Verwundeten müssen das Beste haben, mein Keller soll geleert werden.« —
Frau von Wendenstein war aufgestanden und näherte sich ihrem Gatten.
»Laß mich die Sachen hinbringen!« sagte sie bittend.
»Wozu das?« rief der Oberamtmann, »Du kannst dort nichts nützen — und wenn Karl wiederkommt, so —«
»Wenn er wiederkommt!« rief die alte Dame, in lautes Schluchzen ausbrechend.
»Wir werden ja bald Nachrichten erhalten,« sagte der Oberamtmann, »und bis dahin —«
Ein Geräusch von Stimmen auf dem Vorflur ließ sich hören.
Johann trat ein und sagte: »Der alte Deyke ist da, — er wünscht den Herrn Oberamtmann zu sprechen.«
»Herein, herein!« rief der alte Herr— und unter die aufgeregte Gruppe trat der alte Bauer Deyke, feierlich und würdig wie immer, — aber ein tieferer, finsterer Ernst lag auf seinen scharfen Zügen.
»Nun, lieber Deyke,« rief der Oberamtmann, — »habt Ihr die Nachrichten gehört, kommt Ihr zu besprechen, was wir thun sollen, um am schnellsten unsern braven Soldaten zu senden, was ihnen noth thut?«
»Ich habe einen Brief von meinem Fritz erhalten,« sagte der Bauer ernst, indem er ehrerbietig die Hand ergriff, welche der Oberamtmann ihm bot.
»Nun, wie geht es ihm, dem braven Jungen?« rief der alte Herr.
»Hat er meinen Sohn gesehen?« fragte Frau von Wendenstein, mit ängstlicher Spannung in das Gesicht des Bauern blickend.
»Er hat den Herrn Lieutenant gefunden!« sagte dieser lakonisch.
»Und mein Sohn — lebt!« rief Frau von Wendenstein zögernd, als fürchte sie die Frage auszusprechen, deren Beantwortung die innersten Saiten ihres Herzens berühren mußte.
»Er lebt!« sagte der alte Deyke. — »Ich möchte den Herrn Oberamtmann um ein paar Worte unter vier Augen bitten,« — fügte er dann zögernd hinzu.
»Nein!« rief Frau von Wendenstein heftig, auf den Bauern zutretend, — »nein, nicht unter vier Augen, — Deyke, Ihr habt noch Schlimmes zu sagen, — aber ich will es hören, ich bin stark, jede Nachricht zu hören, — nur die Ungewißheit kann ich nicht ertragen, ich bitte Dich,« — sagte sie, innig zu ihrem Mann aufblickend,