Die Bürger standen schweigend. Mit triumphirenden, glänzenden Blicken musterte sie der kleine Kaufmann Sonntag.
Der alte Konrades kratzte sich hinter dem Ohr.
»Donnerwetter,« brach er endlich los, — »der Graf hat Recht und eine Schande ist's, daß wir alten Kerls uns das hier von dem jungen Herrn erst sagen lassen müssen. — Aber nun vorwärts!« rief er laut, — »thun wir, was noth thut, vertheilen wir uns und sammeln wir die Bürger, — hier der Sonntag, der versteht das, — er soll die Komites machen, — ich gehe zum Zeughaus.« — Und er trat an den Grafen Wedel heran: »Sie sind echtes hannöverisches Blut, Herr Graf!« sagte er derb, »und Sie haben uns ordentlich die Meinung gesagt, aber es war recht — und Sie sollen sehen, daß die hannöverischen Bürger auf dem Fleck sind — und Du Alter da oben!« rief er, indem er seine Mütze abnahm und zu dem hohen Erzbilde des Königs Ernst August emporsah, das in der Mitte des Platzes dastand, — »Du sollst sehen, daß der alte Konrades und die hannöverischen Bürger zu Deinem Sohne stehen.«
Er reichte dem Grafen die Hand, der sie herzlich schüttelte.
Alle die Bürger umher waren wie durch einen Zauberschlag verwandelt. Verschwunden war aus ihren Gesichtern alle Unruhe und Bangigkeit, hoher Muth und Entschlossenheit leuchtete ans ihren Blicken.
Alle umdrängten den Grafen Wedel, als er in seinen Wagen stieg, und streckten ihm die derben, kräftigen Hände entgegen.
Schnell zogen die Pferde an, der Wagen rollte dahin, der Straße nach Herrenhausen zu. Nach kurzem Gespräch trennten sich die Bürger.
Eine Stunde später war die Physiognomie der Stadt eine völlig veränderte.
Keine flüsternden und zagenden Gruppen standen mehr auf den Straßen, — überall sah man lebhafte, freudige, geordnete Bewegung; Bürger aller Klassen, Arbeiter und Dienstmänner fuhren auf Wagen und Handkarren Waffen aus dem Zeughause zur Bahn, Andere brachten Ladungen von Viktualien aller Art, theils zur Stärkung der durchpassirenden Truppen, theils zur Einschiffung für die Magazine. Die Frauen eilten über die Straßen mit leichtem Schritt und geschäftigen Mienen, um sich zu versammeln und ihre Wirksamkeit zu besprechen; die einflußreichsten Bürgerinnen gingen hinaus vor das Thor zu dem neuen prachtvollen Hause des Grafen Wedel, wo die Gräfin sie empfing und zu einem großen Komite vereinigte.
Der alte Konrades stand am Zeughause, half die Waffen verladen, bald ordnend, bald mit derbem Fluch einen Ungeschickten znrückweisend — und überall, sich vervielfältigend, heiser vom vielen Sprechen, noch blasser als sonst vor Aufregung, aber überall ermuthigend, ordnend, anregend, sah man den Kaufmann Sonntag in hastiger, aber fruchtbarer Geschäftigkeit.
So senkte sich der Abend auf die Stadt hernieder und die Sonne sank herab, welche zum letzten Male dem welfischen König in dem Schlosse seiner Väter geleuchtet hatte.
Es war neun Uhr, als der Regierungsrath Meding ernst und nachdenkend mit der Antwort auf die preußische Sommation in die große, durch zwei Reihen Gaslaternen hell erleuchtete Allee einbog und schnell dem Schloß Herrenhausen entgegenfuhr.
Als er am Portal des Schlosses ausstieg, zeigte nichts die Unruhe und Bewegung, welche überall in der Stadt herrschte. Der Portier stand vor seiner Loge, die Lakaien in den scharlachrothen Livreen gingen mit leisen, unhörbaren Schritten auf dem weiten Vestibüle umher, — nur auf allen Gesichtern lag tiefer Ernst.
Draußen auf dem Hof aber standen bespannte Fourgons mit angezündeten Laternen, welche von Unterbedienten mit Koffern beladen wurden.
Mit ängstlicher Spannung sah die Dienerschaft den ihnen bekannten Vertrauten des Königs zu dieser ungewöhnlichen Stunde in's Schloß treten, aber die strenge Gewohnheit des Dienstes verhinderte jedes Wort, jede hastige Bewegung und nur die besorgten, ängstlichen Blicke tauschten die unruhigen Befürchtungen aus, welche Jeden bewegten.
»Ist der König in seinem Kabinet?« fragte der Regierungsrath.
»Seine Majestät ist bei Ihrer Majestät der Königin.«
Der Regierungsrath stieg schweigend die Treppe zum oberen Stockwerk hinan, auf welcher so oft um diese Stunde glänzende Uniformen und duftige Damentoiletten sich gedrängt hatten und welche jetzt so einsam und still im Lichte der strahlenden Kandelaber dalag.
Vor der Thür zu den Gemächern der Königin saß der alte schneeweiße Kammerdiener Ihrer Majestät in seinem weiten Lehnstuhl, neben ihm stand der Kammerdiener des Königs.
»Melden Sie Seiner Majestät, daß ich da bin!« sagte Herr Meding.
Der Kammerdiener zögerte einen Augenblick.
»Verzeihen Sie, Herr Regierungsrath,« sagte er, »wenn ich mir die Frage erlaube, ob wirklich der Krieg ausbricht und wir die Feinde hier haben werden?«
Der Regierungsrath Meding sah ihn traurig an.
»Es ist Ernst, mein lieber Mahlmann,« sagte er, — »doch melden Sie mich schnell, es ist keine Zeit zu verlieren.«
»O mein Gott, welche Zeiten!« rief der Kammerdiener des Königs, indem er hineinging, und der alte greise Diener der Königin bedeckte das Gesicht mit den Händen.
Der Regierungsrath folgte dem Kammerdiener durch einen großen Vorsaal und trat unmittelbar darauf in den Salon der Königin.
Hier saß die königliche Familie um den Theetisch.
Der König trug die Generals-Campagne-Uniform und saß freundlich lächelnd und heiter neben der Königin, welche sich alle Mühe gab, die immer von Neuem hervorbrechenden Thränen zurückzudrängen. Neben der Königin saß die junge siebenzehnjährige Prinzessin Marie, eine schmächtige Gestalt mit schön und edel geschnittenen Zügen und großen, blauen, schwärmerischen Augen, — weniger geübt in der Selbstbeherrschung als ihre Mutter, hielt sie die strömenden Thränen nicht zurück und führte oft das Batisttuch an die rothgeränderten Augen. Zur andern Seite des Königs saß seine ältere Tochter, die Prinzessin Friederike; blond, schlank und hochgewachsen wie ihre Schwester, trug sie des Vaters edlen, fürstlichen Ausdruck, und obgleich bescheiden und fern von aller Selbstschätzung, trug sie unwillkürlich in ihrem ganzen Wesen, in jeder Bewegung den Stempel der königlichen Würde ihrer Geburt. Sie weinte nicht, ihr großes, reines, blaues Auge blitzte kühn und stolz, und zuweilen biß sie die schönen Zähne auf die volle, frische Lippe, und wer in ihr Herz hätte sehen können, der hätte gewiß darin den Wunsch gefunden, lieber mit dem Vater hinauszuziehen in's Feld, als hier in Untätigkeit zu Hause zu bleiben und in trauriger Einsamkeit die Nachrichten abzuwarten über das Schicksal der Armee und des Landes.
Gegenüber saß oder lehnte halb zurückgebogen der Kronprinz Ernst August, ein großer, lang aufgeschossener junger Mann von einundzwanzig Jahren. Kein Zug seines Gesichts erinnerte an seinen königlichen Vater. Eine schmale, zurücktretende Stirn war fast ganz von glattem, glänzendem, dunkelblondem Haar bedeckt. Die Nase, an der Wurzel tief eingedrückt, lag fast platt auf dem Gesicht und der große frische Mund öffnete sich mit einer gewissen Schwierigkeit bei den mühsam und langsam gesprochenen Worten. Schöne Zähne, glänzende und gutmüthige Augen gaben der ganzen Erscheinung des jungen Prinzen etwas Sympathisches.
Der Kronprinz trug die Uniform des Gardehusarenregiments, einen blauen Waffenrock mit silbernen Schnüren und biß mit den Zähnen die Nägel der linken Hand, während seine Rechte mit einem kleinen Dachshund spielte, der sich schmeichelnd an ihm aufgerichtet hatte.
Dieß war das Bild, welches sich dem Regierungsrath Meding bei seinem Eintritt darstellte.
Seufzend überblickte er die königliche Familiengruppe