Fürst Gortschakoff's klares Auge blickte durchdringend und erwartungsvoll in das lebhafter bewegte Gesicht des Generals, — die Unterhaltung mußte jetzt sich ihrem wesentlichsten Mittelpunkte nähern.
Der General blickte einen Augenblick zu Boden, — dann fuhr er mit einem leisen Zögern fort:
»Eure Excellenz mögen mir verzeihen, wenn ich es unternehme, Ihnen, dessen Geist die russische Politik belebt und leitet, eine Anschauung über die Ziele dieser Politik auszusprechen, — indeß die vollste Offenheit ist die Grundlage der Verständigung, und gerade in unserer Auffassung der gegenseitigen politischen Aufgaben liegt die Bedingung, — die Notwendigkeit dieser Verständigung.«
Der Fürst verneigte sich wieder schweigend und wartete.
»Die Aufgabe des großen Gründers der jetzigen russischen Monarchie,« fuhr Herr von Manteuffel langsam fort, als suche er vorsichtig nach dem richtigsten Ausdruck für seine Gedanken, — »die Aufgabe Peter's des Großen war die Schöpfung eines europäischen Kulturstaates, und um diese gewaltige Aufgabe zu erfüllen, mußte er den Sitz seiner Regierung der europäischen Kultur so nahe als möglich bringen, — er mußte einen Kanal schaffen, durch welchen die Civilisation in die Adern des großen Reiches einströmen konnte, um es belebend und befruchtend zu durchdringen. — So verstehe ich die Wahl St. Petersburgs zur Residenz des neuen Rußlands, dieses Platzes, der mit Rücksicht auf die inneren Verhältnisse und Lebensbedingungen des großen Reiches niemals hätte zu dessen Residenz erhoben werden können. Denn diese inneren Lebensbedingungen liegen nicht im Norden, nicht in jener entfernten Ecke des Reiches, sie liegen im Süden, sie liegen da, wo die große nationale Produktionskraft in reicher Fülle dem Boden entströmt, sie liegen da, wo die natürliche Straße des Welthandels Asien und Europa verbindet, diese beiden Welttheile, denen Rußland seine beiden Hände reicht, — diese Lebensbedingungen,« fuhr er nach einem augenblicklichen Schweigen fort, indem er den Blick voll und fest auf den Fürsten richtete, — »sie liegen am schwarzen Meer!«
Eine leichte Bewegung flog über die Züge des russischen Staatsmannes, unwillkürlich wendete sich sein Blick nach dem Aktenstück, welches Herr von Hamburger vor ihn auf den Tisch gelegt hatte.
Herr von Manteuffel fuhr fort:
»Die erste große Aufgabe, welche Peter I. sich gesteckt hatte, ist erfüllt, — Rußlands weiter, urkräftiger und nationaler Organismus ist durchströmt von europäischer Kultur, und mit einer gewissen Beschämung müssen wir gestehen, daß Sie in einem Jahrhundert das übrige Europa eingeholt haben.«
»Wir hatten uns nur anzueignen, was Europa mühsam geschaffen,« sagte Fürst Gortschakoff verbindlich. —
»Die letzten großen Maßregeln des Kaisers Alexander,« sprach Herr von Manteuffel weiter, »vollenden das Werk und öffnen auch die tiefen Schichten des Volkes dem lebendigen Geist der Civilisation, — mit einem Wort, die erste Phase der russischen Politik ist abgeschlossen, St. Petersburg hat seine Mission erfüllt. — Nach meiner Ansicht — liegt nun die Aufgabe der Zukunft darin, aus dem eigentlich produktiven, so zu sagen ökonomischen Mittelpunkt heraus die nationale Kraft zur fruchtbaren Entwickelung zu bringen, den Organismus, der bis jetzt geschaffen wurde, zu beleben und in fruchtbarer Thätigkeit spielen zu lassen. Dazu bedürfen Sie das schwarze Meer und sein reiches Bassin, — dort liegt der wahre Mittelpunkt Rußlands, dorthin muß sich seine Zukunft entwickeln, — wie der weite Blick des Kaisers Nikolaus ganz richtig erkannte, als er jene Richtung der Zukunft Rußlands zu sichern bemüht war.«
Wieder glitt der Blick des Fürsten hinüber nach dem Aktenstück, welches das für Rußland so verhängnißvolle Dokument enthielt.
»Auf diesem Wege aber,« fuhr der General fort, — »den Rußland nach meiner Ueberzeugung eben so nothwendig gehen, — und bis in seine letzten Konsequenzen verfolgen muß« — fügte er mit Betonung hinzu, »wie wir unseren Weg in Deutschland gehen müssen, treten die russischen Interessen niemals denjenigen Deutschlands entgegen, — vielmehr können wir nur mit Freude zusehen, wenn unser starker, nationaler Nachbar seine natürliche Mission eben so glücklich erfüllt, wie wir die unsrige zu erfüllen hoffen.«
Er schwieg und blickte den Fürsten erwartungsvoll an.
Dieser sagte leicht seufzend in ruhigem Ton:
»Leider hat uns das traurige Resultat des Krimkriegs auf dem Wege, den Eure Excellenz — in so treffender Beurtheilung unserer Verhältnisse« — und er neigte leicht lächelnd den Kopf — »vorzeichnen, eine unüberwindliche Schranke gezogen — und —«
»Auch wir,« rief Herr von Manteuffel, »sind auf unserem Wege oft und lange aufgehalten worden, indeß haben wir ihn nie verlassen, — wir haben die Hoffnung nie aufgegeben, das Ziel zu erreichen.«
Der Fürst schwieg einige Sekunden. Dann sprach er langsam:
»Ich erkenne mit Eurer Excellenz an, daß die Interessen Preußens, — auch des neuen Preußens und Deutschlands mit denjenigen Rußlands nicht kollidiren, ich will auch nicht zweifeln, da Eure Excellenz es mir sagen, — daß die nationale Bewegung im heutigen Deutschland nicht die Erbschaft des Russenhasses von der demokratischen Bewegung des Jahres 1848 antreten werde, — ich sehe in diesen Verhältnissen mit Befriedigung die Bürgschaft, daß keine Wolken zwischen uns aufsteigen werden, — doch muß ich mit derselben Offenheit, mit welcher Eure Excellenz zu mir gesprochen haben — Ihnen sagen, daß ich nicht einzusehen vermag, wie gerade die gegenwärtige Situation und die — immerhin vom Standpunkte des legitimen Vertragsrechtes beklagenswerthe — Veränderung der europäischen Gleichgewichtsverhältnisse eine festere politische Verbindung — die Basis eventueller Allianzen der Zukunft darbieten könne. Sie gehen mit siegreichem Erfolge ihren Weg — uns ist der unsrige auf lange — vielleicht auf immer verschlossen.«
»Erlauben Eure Excellenz mir,« sagte Herr von Manteuffel rasch, »mich auch über diesen Punkt mit derselben rücksichtslosen Freimüthigkeit auszusprechen, die Sie« — fügte er lächelnd hinzu — »dem Soldaten zu Gute halten wollen, welcher eben aus dem Lager kommt und nur als Dilettant in die Diplomatie hineinpfuscht.«
Die Augen des Fürsten schlossen sich ein wenig und richteten sich mit einem unendlich geistreich humoristischen Blick auf den General.
Dieser fuhr leicht mit der Hand über seinen Schnurrbart und sprach:
»Der Kaiser Napoleon verlangt für die Zustimmung zu den neuen Erwerbungen Preußens und zu der neuen Konstituirung Deutschlands Kompensationen.«
»Ah!« rief der Fürst.
»Und zwar,« fuhr Herr von Manteuffel fort, »scheint man in Paris nicht blöde zu sein in dem, was man als Kompensation bezeichnen möchte.«
»Ich bin in die Verhandlungen nicht eingeweiht,« sagte der Fürst, indem sein Blick großes Interesse und lebhafte Spannung ausdrückte.
»Ich kann Eure Excellenz darüber vollständig unterrichten,« erwiederte Herr von Manteuffel, — »man wird die Grenzen von 1814, Luxemburg — und Mainz verlangen.«
Die Züge des Fürsten belebten sich immer mehr.
»Man