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Da keine Rechtsmittel gegen Urteile der Sondergerichte statthaft waren, erschwerte die Vielzahl der sondergerichtlichen Verfahren eine einheitliche Rechtsanwendung. Das Änderungsgesetz vom 16. September 1939 gab dem Oberreichsanwalt daher die Möglichkeit, einen „außerordentlichen Einspruch“ gegen rechtskräftige Urteile, auch gegen solche der Sondergerichte, einzulegen, über die dann der Besondere Strafsenat des Reichsgerichts entschied.[195] Durch Art. 5 der ZuständigkeitsVO vom 21. Februar 1940 wurde dann zusätzlich die Nichtigkeitsbeschwerde gegen Urteile der Sondergerichte zum Reichsgericht eingeführt, die der Oberreichsanwalt – aber nicht der Verurteilte – binnen eines Jahres nach Eintritt der Rechtskraft einlegen konnte, wenn das Urteil aufgrund einer materiell fehlerhaften Rechtsanwendung der festgestellten Tatsachen „ungerecht“ war.[196] Ab 1942 legte der Oberreichsanwalt die Nichtigkeitsbeschwerde meist zu Lasten des Verurteilten ein.[197]
3. Sonderregelungen für „Volksschädlinge“ und „Fremdvölkische“
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Die VO gegen Volksschädlinge vom 5. September 1939[198] fungierte mit weit gefassten und unbestimmten Tatbeständen als Kernstück des nationalsozialistischen Kriegsstrafrechts. Gegen Volksschädlinge musste in allen Verfahren vor den Sondergerichten, die in der Regel zuständig waren,[199] die Aburteilung sofort und ohne Einhaltung von Fristen erfolgen, wenn der Täter auf frischer Tat betroffen worden war oder seine Schuld sonst offen zutage lag. Mit Beschuldigten, die nach der NS-Ideologie als Volksschädlinge galten, wurde also in der Tat „kurzer Prozess“ gemacht.[200] Dies diente nicht nur der Verfahrensbeschleunigung, sondern auch als „ein wesentliches Mittel zur Verwirklichung des erstrebten Abschreckungszweckes“.[201]
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Eine weitere Eskalationsstufe des nationalsozialistischen Strafverfahrensrechts war die VO über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in den eingegliederten Gebieten vom 4. Dezember 1941,[202] mit der das Reichsjustizministerium einen letzten Rest an Einfluss über die Strafjustiz in den Ostgebieten bewahren wollte. Alle Anklagen gegen Polen und Juden konnten vor den Sondergerichten erhoben werden. Die Beschuldigten hatten kein Ablehnungsrecht gegen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit. Abweichungen vom grundsätzlich geltenden allgemeinen Strafverfahrensrecht waren stets zulässig, „wo dies zur schnellen und nachdrücklichen Durchführung des Verfahrens zweckmäßig“ war. Durch diese Möglichkeit der „Auflockerung“ nach Praktikabilitätserwägungen galt für die nach der nationalsozialistischen Vorstellung minderwertigen Volksgruppen nun endgültig ein strafverfahrensrechtsfreier Raum. Dieser wurde unter Reichsjustizminister Thierack sogar noch weiter ausgedehnt, indem ab 1943 die Verfolgung strafbarer Handlungen von Juden vollständig der Justiz entzogen und der Polizei übergeben wurde.[203]
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Aus Sicht der nationalsozialistischen Ideologie waren die Sonderregelungen für Personen, die schlechthin nicht zur Volksgemeinschaft gehörten, durchaus konsequent. Denn bei diesen Nicht-Volksgenossen kam eine Reinigung des Volkskörpers durch eine strafrechtliche Sanktion einerseits oder die Wiederherstellung der Ehre durch einen Freispruch andererseits (vgl. Rn. 37 f.) von vornherein nicht in Betracht. Es ging schlicht um die Sanktionierung der Verletzung der „Gehorsamspflicht“[204] von Polen und Juden gegen den deutschen Machtanspruch und damit um den Einsatz der Strafjustiz zur Umsetzung der nationalsozialistischen Rassenideologie.
V. Die Rolle der Rechtsprechung, insbesondere des Reichsgerichts
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Eine eingehende Analyse der Rechtsprechung zum nationalsozialistischen Strafverfahrensrecht ist hier nicht zu leisten.[205] Dennoch ist ein Blick auf die Rechtsanwendungspraxis im Bereich des Strafverfahrensrechts unerlässlich, da der nationalsozialistische Gesetzgeber vielfach mit unbestimmten Rechtsbegriffen arbeitete, die dann von den Gerichten in Übereinstimmung mit den nationalsozialistischen Vorstellungen ausgelegt werden sollten.[206] So war nach Henkel die „Strafrechtserneuerung“ nicht nur Angelegenheit des nationalsozialistischen Gesetzgebers, sondern „Aufgabe jedes einzelnen Organes der Strafrechtspflege“.[207] Konkret bedeutete dies mit den Worten Mezgers, dass sich die Richter zukünftig nicht mehr auf den Wortlaut des Gesetzes berufen konnten, „um damit im Blick auf die gesunde Volksanschauung unvernünftige Ergebnisse zu rechtfertigen.“[208] Spannungen zwischen dem geschriebenen alten Verfahrensrecht und den „zum Durchbruch strebenden neuen Grundanschauungen“ müssten im Sinne der letztgenannten aufgelöst werden.[209] Gefordert war also eine ergebnisorientierte Auslegung nach den Zielen der nationalsozialistischen Bewegung, die sich vom geschriebenen Gesetz löste. Zur praktischen Umsetzung wurden auf Grundlage des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933[210] zahlreiche nichtarische Richter und solche, „die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten“, in den Ruhestand versetzt oder entlassen.
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Für das Reichsgericht als oberste Rechtsmittelinstanz wurden die neuen Auslegungsgrundsätze in Art. 2 des Gesetzes vom 28. Juni 1935 kodifiziert. Das Reichsgericht musste nun darauf hinwirken, dass bei der Auslegung „dem durch die Staatserneuerung eingetretenen Wandel der Lebens- und Rechtsanschauung Rechnung getragen wird“.[211] Dazu konnte es auch von früheren Entscheidungen abweichen.
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Im Bereich des materiellen Strafrechts kam das Reichsgericht diesem Auftrag durchaus nach. Im Zusammenhang mit dem sog. Blutschutzgesetz liest man im Beschluss des Großen Senats für Strafsachen, die Rechtsprechung dürfe nicht am Wortlaut der Gesetze haften, sondern müsse in ihr „innerstes Wesen“ eindringen, um so die Ziele des Gesetzgebers zu verwirklichen.[212] Unter Rückgriff auf das gesunde Volksempfinden und die Einordnung des BlutSchG als „eines der Grundgesetze des nationalsozialistischen Staates“ entschied der Große Senat dann, dass auch die Begehung von Rassenschande im Ausland strafbar sein müsse, um „die Reinheit des deutschen Blutes als Voraussetzung für den Fortbestand des deutschen Volkes in alle Zukunft [zu] sichern“.[213] Die Rechtsprechung des Reichsgerichts zum Strafverfahrensrecht war dagegen weit weniger im nationalsozialistischen Sinne geprägt.[214] Eine Entscheidung des 3. Strafsenats vom 29. Januar 1940 zu einer Beleidigung eines Juden gegenüber einer deutschen Frau kann dabei fast als Ausreißer bezeichnet werden. In diesem Fall stellte die Frau erst mehr als sechs Monate nach der Kundgabe der Beleidigung einen Strafantrag, so dass die dreimonatige Antragsfrist eigentlich klar verstrichen war. Allerdings meinte der 3. Strafsenat, der Täter habe nicht nur die weibliche Ehre der Betroffenen, sondern auch die Ehre der deutschen Frau insgesamt verletzt. Die Antragsfrist für diesen Angriff auf die „Rassenehre“ habe daher erst mit dem späteren Zeitpunkt begonnen, an dem die Betroffene erfahren hatte, dass der Täter Jude war.[215]
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Insbesondere ist zu betonen, dass das Reichsgericht – jedenfalls soweit es die veröffentlichten Entscheidungen betrifft – die schützenden Verfahrensrechte des Beschuldigten im Allgemeinen anerkannte und teilweise die Änderungen des Gesetzgebers durch eine zurückhaltende Auslegung entkräftete. Die zum Teil radikalen Ausführungen aus dem wissenschaftlichen Schrifttum oder gar die Ausmerzungsrhetorik im Stile Freislers finden sich nur ganz vereinzelt.[216] Mit Urteil vom 23. März 1934 unterstrich das Reichsgericht, der Beschuldigte „muss über alles umfassend gehört werden, was als die Sache berührend angesehen werden kann. Auf ihm lastet kein Zwang zur Wahrheit.“[217] Auch später verneinte das Reichsgericht – gegen anders lautende Stimmen