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Neben dem „politischen“ Strafverfahrensrecht gab es auch „unverdächtige“ Änderungen. Die VO vom 17. Juni 1933 erleichterte die Zustellung von Schriftstücken.[129] Mit Gesetz vom 24. November 1933[130] wurden die §§ 57 bis 66 RStPO neu gefasst, um die Eidesleistungen einzuschränken, denn es hatte sich seit längerem gezeigt, dass die umfassende Eidespflicht zu einer Vielzahl von Meineidsverfahren geführt hatte.[131] Der Voreid wurde durch den Nacheid ersetzt, die Vereidigungsverbote wurden ausgedehnt und das Gericht konnte nach seinem Ermessen im größeren Umfang von der Vereidigung absehen.
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Das Gesetz vom 16. Februar 1934[132] regelte die Überleitung der Rechtspflege auf das Reich und gab dem Reichspräsidenten neben dem Begnadigungsrecht auch das Recht, anhängige Strafsachen niederzuschlagen. Nachdem Hitler nach dem Tod von Hindenburgs im August 1934 die Befugnisse des Reichspräsidenten übernommen hatte, machte er in Verfahren gegen Nationalsozialisten nach eigenem Ermessen vom Niederschlagungsrecht Gebrauch und schwächte damit das Legalitätsprinzip.[133]
2. Sondergerichtsverfahren
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Die schon in der Weimarer Republik für bestimmte Straftaten bestehenden Sondergerichte wurden durch die VO über die Bildung von Sondergerichten vom 21. März 1933[134] auf eine neue Grundlage gestellt. In jedem Oberlandesgerichtsbezirk wurde ein Sondergericht mit einem eng begrenzten Zuständigkeitsbereich für staatsgefährdende Straftaten errichtet, soweit nicht die Zuständigkeit des Reichsgerichts oder der Oberlandesgerichte gegeben war. Durch eine „schnelle und nachdrückliche Ausübung der Strafgewalt“ sollten Staatsfeinde beseitigt bzw. abgeschreckt werden, um den „reibungslosen Gang der Staatsmaschine“ nicht zu stören.[135] Dazu wurden die Zuständigkeiten schon kurze Zeit später auf weitere Strafsachen, wie Sprengstoffverbrechen, Gewalttaten gegen Justizangehörige und weitere neu geschaffene Tatbestände zur Bekämpfung von Gegnern des NS-Regimes ausgedehnt.[136]
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Auch wenn sich das Verfahren vor den Sondergerichten im Grundsatz nach der RStPO und dem GVG richtete, gab es im Interesse der Verfahrensbeschleunigung einige Sonderregelungen, die im Wesentlichen dem schon aus der Weimarer Zeit bekannten sondergerichtlichen Verfahren folgten (vgl. Rn. 4 f., 31). Weiterhin wurden Richter und Staatsanwälte durch Äußerungen aus der Ministerialverwaltung nachdrücklich dazu aufgerufen, die Rechtspraxis dem Charakter des sondergerichtlichen Verfahrens als Notbehelf anzupassen, um staatsgefährdende Verbrechen „schnell und gründlich aus[zu]rotten“.[137] Die gerichtliche Voruntersuchung sowie der Eröffnungsbeschluss wurden abgeschafft und die Ladungsfristen verkürzt. Eine mündliche Verhandlung über den Haftbefehl fand nicht statt. Auch wenn dem unverteidigten Beschuldigten bei Anordnung der Hauptverhandlung zunächst stets ein Pflichtverteidiger bestellt werden musste, waren seine Verteidigungsmöglichkeiten dadurch eingeschränkt, dass das Sondergericht eine Beweiserhebung ablehnen konnte, wenn es überzeugt war, dass diese für die Wahrheitsermittlung nicht erforderlich war. Eine effektive Kontrolle der Entscheidungen der Sondergerichte war ausgeschlossen, da es keine Rechtsmittel gab. Es bestand lediglich die Möglichkeit eines Wiederaufnahmeantrags, der zugunsten des Verurteilten auch eingelegt werden konnte, „wenn Umstände vorliegen, die es notwendig erscheinen lassen, die Sache im ordentlichen Verfahren nachzuprüfen“.[138]
3. Errichtung des Volksgerichtshofes
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Der Sicherung der nationalsozialistischen Herrschaft diente auch das Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafrechts und des Strafverfahrens vom 24. April 1934.[139] Es verschärfte die Vorschriften zum Hoch- und Landesverrat, da „der Treubruch des Volksgenossen gegenüber der Volksgemeinschaft“ zukünftig die „Ausmerzung des Schuldigen aus der Volksgemeinschaft“ bedeuten müsse.[140] Zur prozessualen Umsetzung dieses Ziels wurde als besonderes Gericht für Hochverrats- und Landesverratssachen der Volksgerichtshof errichtet, der die erstinstanzliche Zuständigkeit des Reichsgerichts für derartige Taten übernahm. Die Verfahrensordnung des Volksgerichtshofes basierte zunächst, abgesehen von einigen Spezialvorschriften, auf den bisherigen Regelungen über das Verfahren vor dem Reichsgericht in erster Instanz. Der Beschuldigte konnte einen Verteidiger jedoch nur mit Zustimmung des Vorsitzenden wählen, um sicherzustellen, dass die Hauptverhandlung vor dem Volksgerichtshof nicht zur „Plattform politischer Brandreden oder anwaltlicher Lärmpropaganda“ gemacht wurde.[141] Die Voruntersuchung entfiel, wenn sie nach Ermessen der Anklagebehörde, also des Oberreichsanwalts, nicht erforderlich war. Der Eröffnungsbeschluss wurde durch die Anordnung der Hauptverhandlung des Vorsitzenden ersetzt. In § 433 RStPO wurde die Zulässigkeit der Vermögensbeschlagnahme beim Verdacht des Hoch- oder Landesverrats erweitert.
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Zugleich wurde das 1926 eingeführte kontradiktorische Haftprüfungsverfahren (vgl. Rn. 19) für alle Strafverfahren abgeschafft, da es sich als unerträgliche Behinderung der Strafjustiz erwiesen habe.[142] Allerdings war jederzeit von Amts wegen zu prüfen, ob die Fortdauer der Haft zulässig und notwendig war; auch die Haftbeschwerde als Rechtsbehelf des Verhafteten blieb bestehen.[143]
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Mit Gesetz vom 18. April 1936 wurde der Volksgerichtshof dann zu einem ordentlichen Gericht erhoben und die personelle Zusammensetzung seiner Richterschaft neu organisiert.[144]
4. Das Änderungsgesetz vom 28. Juni 1935
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Den Abschluss der ersten Phase der strafverfahrensrechtlichen Entwicklung bildete das Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28. Juni 1935.[145] Das Gesetz stand unter dem Leitmotiv „Überordnung der materiellen Gerechtigkeit über die formale Gerechtigkeit und zu diesem Zweck Auflockerung der Strafrechtspflege und freiere Stellung des Richters und des Staatsanwaltes“.[146] Es führte einige der verstreuten Änderungen der Jahre 1933/34 zusammen und schwächte durchweg die Position des Beschuldigten. Nach der amtlichen Begründung betrafen die Änderungen besonders dringliche Fragen, die unabhängig von der geplanten Gesamtreform des Strafverfahrens einer „Vorwegregelung“