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Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im September 1939 markierte zugleich den Beginn einer Vielzahl von strafverfahrensrechtlichen Änderungen, die in ihrer Gesamtheit ein neues „Kriegsstrafprozessrecht“ schufen.[171] Die Normsetzung erfolgte hauptsächlich in Form von mehreren sog. Vereinfachungsverordnungen, die teilweise auf den Vorarbeiten zur Gesamtreform des Strafverfahrensrechts beruhten, wie z.B. die Abschaffung des Eröffnungsbeschlusses und des Klageerzwingungsverfahrens, und damit nicht nur für die Kriegszeit gedacht waren.[172]
1. Die „Vereinfachung“ des Strafverfahrensrechts
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Unmittelbar nach Kriegsbeginn wurde zur „Mobilmachung der Rechtspflege“[173] die VO über Maßnahmen auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung und der Rechtspflege[174] (im Folgenden 1. VVO) verkündet. Zum einen ging es um eine Flexibilisierung der Gerichtsverfassung und eine Absenkung der Richterzahl innerhalb der Spruchkörper, u.a. durch die Abschaffung der Schöffen,[175] zum anderen sollte der Verfahrensgang gestrafft werden. Dazu war gegen Urteile des Amtsrichters nur noch die Berufung statthaft und die Revision gegen Berufungsurteile ausgeschlossen.[176] Das Schnellverfahren nach § 212 RStPO war stets zulässig, wenn der Sachverhalt einfach und die sofortige Aburteilung aus besonderen Gründen erforderlich war, und der zulässige Rahmen der Freiheitsstrafe im Strafbefehlsverfahren wurde auf sechs Monate verdoppelt. Die Fälle der notwendigen Verteidigung wurden erheblich eingeschränkt. Nach § 24 der 1. VVO konnten alle Gerichte Beweisanträge nach freiem Ermessen ablehnen, wenn sie die Beweiserhebung nicht für die Wahrheitsfindung für erforderlich hielten. Die ZuständigkeitsVO vom 21. Februar 1940 regelte die sachliche Zuständigkeit der Strafgerichte neu und fasste die Verfahrensvorschriften für die Sondergerichte zusammen. Strafsachen von minderer Bedeutung für die Staatssicherheit oder die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung konnten an die ordentlichen Gerichte abgegeben werden, um die „Schlagkraft“ der Sondergerichte nicht zu hemmen.[177] Nach der VO vom 6. Mai 1940 konnte die Staatsanwaltschaft davon absehen, im Ausland begangene Straftaten eines Inländers oder bestimmte Taten eines Ausländers zu verfolgen, wenn dies „vom Standpunkt der Volksgemeinschaft aus nicht geboten oder unverhältnismäßig schwierig wäre“.[178]
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Die 2. VVO vom 13. August 1942[179] beseitigte flächendeckend den Eröffnungsbeschluss, der eine bloße Formalität darstelle und das Strafverfahren verzögere.[180] An Stelle des Eröffnungsbeschlusses entschied der Vorsitzende allein über die Anordnung der Hauptverhandlung. Die Strafgewalt des Amtsrichters und der Anwendungsbereich des Strafbefehlsverfahrens wurden ausgedehnt, das Kreuzverhör abgeschafft und das Legalitätsprinzip weiter eingeschränkt. Der Angeklagte konnte Berufung und Beschwerde nur noch nach einer besonderen Zulassung einlegen. Die (Nicht-)Zulassungsentscheidungen mussten nicht begründet werden und waren unanfechtbar. Die weitere Beschwerde wurde insgesamt für alle Verfahrensbeteiligten abgeschafft. Gleichzeitig wurde der Anwendungsbereich der Nichtigkeitsbeschwerde, die der Oberreichsanwalt beim Reichsgericht gegen rechtskräftige Urteile einlegen konnte, erweitert, um eine reichseinheitliche Rechtsanwendung zu gewährleisten. Um das Justizpersonal zu entlasten, konnten Hauptverhandlungen ohne Anwesenheit eines Staatsanwalts oder eines Schriftführers stattfinden sowie Urteile in abgekürzter „volkstümlicher“ Form abgefasst werden. Die Position der Staatsanwaltschaft im Vorverfahren wurde weiter ausgebaut. In allen Strafantragssachen konnte sie das Verfahren bei fehlendem öffentlichen Interesse trotz Strafantrags einstellen. Bei Vergehen musste das zuständige Gericht vor Anklageerhebung einer Verfahrenseinstellung nicht mehr zustimmen. Das Klageerzwingungsverfahren wurde gestrichen. Mit der 3. VVO vom 29. Mai 1943 wurde die Abfassung der Anklageschrift sowie das Verlesen von Niederschriften in der Hauptverhandlung erleichtert, die Abkürzung der Ladungsfrist generell ermöglicht und das Adhäsionsverfahren eingeführt.[181]
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Spätestens mit der 4. VVO vom 13. Dezember 1944[182] hatte die Logik des „totalen Krieges“ auch das Strafverfahrensrecht voll erfasst. Eine „geordnete, schlagkräftige und gute Strafrechtspflege“ sollte ihren Teil dazu beitragen, den „Abwehrwillen […] des deutschen Volkes“ zu stärken. Dazu musste Personal aus der Strafrechtspflege der Wehrmacht zur Verfügung gestellt und das Strafverfahrensrecht allgemein von dem „im Krieg entbehrlichen Ballast“ befreit werden. Gleichwohl sollten die „kriegswichtigen Aufgaben der Strafrechtspflege“ gewährleistet werden.[183] Die Absenkung der Besetzung der Spruchkörper machte auch vor dem Reichsgericht nicht mehr halt, die Strafsenate waren in der Hauptverhandlung nur noch mit drei Berufsrichtern besetzt. Gleichzeitig verloren die Oberlandesgerichte fast sämtliche Zuständigkeiten im Strafrecht. Das Legalitätsprinzip wurde für alle Straftaten durchbrochen, wenn „die Verfolgung im Kriege zum Schutze des Volkes nicht erforderlich ist“, wobei dem Beschuldigten bestimmte Auflagen gemacht werden konnten. Die notwendige Verteidigung wurde noch weiter eingeschränkt und die Staatsanwaltschaft konnte im Ermittlungsverfahren selbstständig Haftbefehle sowie Beschlagnahme- und Durchsuchungsanordnungen erlassen. Eine gerichtliche Kontrolle dieser Anordnungen fand nicht mehr statt.[184] Entscheidend war zudem, dass nun auch die Revision einer besonderen Zulassung bedurfte. Das ordentliche Strafverfahren näherte sich damit immer mehr dem Sondergerichtsverfahren an, in dem dem Verurteilten schon längst die Rechtsmittel genommen worden waren.
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Nur wenige Monate vor Kriegsende wurden durch VO vom 15. Februar 1945 Standgerichte in „feindbedrohten Reichsverteidigungsbezirken“ für alle Straftaten errichtet, durch die „die deutsche Kampfkraft oder Kampfentschlossenheit gefährdet wird.“[185] Formal galt im Standgerichtsverfahren die RStPO sinngemäß, wobei das Standgericht lediglich auf Todesstrafe, Freispruch oder Überweisung an die ordentlichen Gerichte entscheiden konnte.
2. Volksgerichtshof und Sondergerichte
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Während der Kriegszeit wurden die Zuständigkeiten des Volksgerichtshofs und der Sondergerichte erheblich ausgeweitet, vor allem auf solche Straftaten, die sich gegen die Wehrkraft und damit den Endsieg richteten, wie etwa die Wehrkraftzersetzung und Wehrdienstentziehung.[186] Spätestens mit der Ernennung Freislers zum Präsidenten des Volksgerichtshofs im August 1942 verschärfte sich auch allgemein die Rechtsprechung des Volksgerichtshofs. Allein im Jahr 1942 verhängte der Volksgerichtshof fast 1200 Todesurteile, im Vergleich zu 240 Todesurteilen in den Jahren 1937 bis 1941 (bei gut 4000 Angeklagten in diesem Zeitraum). Die Quote der Todesurteile lag von 1942 bis 1944 bei knapp 50 % aller Anklagen. Bemerkenswert ist allerdings, dass die Freispruchsquote im Jahr 1944 bei gut 11 % lag.[187]
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Die sachliche Zuständigkeit der Sondergerichte wurde auch im Bereich der „normalen“, nicht politisch motivierten Kriminalität ausgedehnt,[188] wodurch die Sondergerichte eine wesentliche Rolle in der Verfahrenswirklichkeit einnahmen und die Bedeutung der ordentlichen Strafjustiz zurückdrängten.[189] Die Staatsanwaltschaft hatte bei Verbrechen nach Art. I der VO über die Erweiterung der Zuständigkeit der Sondergerichte vom 20. November 1938[190] ein Wahlrecht zur Anklage vor den Sondergerichten, wenn „mit Rücksicht auf die Schwere oder die Verwerflichkeit der Tat oder die in der Öffentlichkeit hervorgerufene Erregung die sofortige Aburteilung durch das Sondergericht geboten ist“. Mit Kriegsbeginn wurde das Wahlrecht der Staatsanwaltschaft, bei einer schweren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch die Tat beim Sondergericht Anklage zu erheben, auf Vergehen ausgedehnt.[191] Um den Anstieg der sondergerichtlichen Strafverfahren zu bewältigen, konnte der Reichsjustizminister nun Sondergerichte auch für die Bezirke der Landgerichte einrichten. Die praktische Bedeutung des Sondergerichtsverfahrens war ein Grund dafür, dass eine Gesamtreform des Strafverfahrensrechts im nationalsozialistischen Sinne nicht notwendig war. Durch das Wahlrecht der Anklage zum Sondergericht konnte die Staatsanwaltschaft nicht nur das Hauptverfahren beeinflussen, sondern auch das Rechtsmittelverfahren gestalten, da schlicht kein Rechtsmittel gegen die Sondergerichtsurteile bestand,