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Die 4. AusnahmeVO vom 14. Juni 1932[87] beruhte in Teilen auf dem 1930 gescheiterten Entwurf der Reichsregierung über das Einführungsgesetz zum Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuch und zum Strafvollzugsgesetz (vgl. Rn. 23). Die 4. AusnahmeVO machte wesentliche Punkte der EmmingerVO und damit das „Übermaß der Rechtsmittel“[88] rückgängig, indem sie das erweiterte Schöffengericht beseitigte und dessen erstinstanzliche Zuständigkeit im Wesentlichen auf die große Strafkammer übertrug. Weiterhin bekam die Staatsanwaltschaft ein Wahlrecht, bedeutende oder umfangreiche Sachen zur großen Strafkammer statt zum Schöffengericht anzuklagen (heute § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG).[89] Damit wurde die Möglichkeit von Berufungsverfahren, die zu erheblichen Verfahrensverlängerungen in der ohnehin überlasteten Strafrechtspflege geführt hatte, eingeschränkt und zugleich die Revision aufgewertet. Die Berufung gegen Urteile des Amtsgerichts blieb grundsätzlich bestehen, jedoch schloss die Einlegung der Berufung bzw. der (Sprung-)Revision das jeweils andere Rechtsmittel aus, so dass grundsätzlich eine Rechtsmittelinstanz wegfiel.[90]
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Aus Sicht der Justizpraxis bedeuteten die Anforderungen, die das Reichsgericht zur zulässigen Ablehnung eines Beweisantrags entwickelt hatte, häufig ein „Hindernis einer raschen Justiz“, indem sie zur „Ausdehnung der Hauptverhandlung, zu unnötigen Vertagungen, evtl. zu Aufhebungen sachlich richtiger Entscheidungen aus formellen Gründen“ führten.[91] In allen Strafsachen, in denen zwei Tatsacheninstanzen eröffnet waren, also in Verfahren vor dem Amtsrichter, dem Schöffengericht und dem Landgericht als Berufungsinstanz, galt nun das freie Ermessen des Gerichts hinsichtlich der Beweisaufnahme. Dies entband allerdings nicht von der Pflicht, Beweisanträge zu bescheiden und die Wahrheit von Amts wegen zu ermitteln, so dass die Gerichte vor allem von der unbedingten Pflicht zur Berücksichtigung präsenter Beweismittel entbunden wurden.[92] Hintergrund der Regelung, die in ähnlicher Form in der EmmingerVO bestanden hatte (vgl. Rn. 15), war die Überzeugung, dass bei der Eröffnung von zwei Tatsacheninstanzen der tatsächliche Sachverhalt auch ohne besondere Regeln zur Ablehnung von Beweisanträgen hinreichend zuverlässig ermittelt werden würde.[93] Auch konnten Revisionen gegen bereits ergangene Urteile nicht mehr auf die fehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrags gestützt werden, wenn eine Ablehnung nach neuem Recht zulässig gewesen wäre. In erstinstanzlichen Verfahren vor dem Landgericht galt das freie richterliche Ermessen hinsichtlich der Beweisaufnahme allerdings nicht, da dann keine zweite Tatsacheninstanz vorgesehen war.
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Eine gewisse Abmilderung der Ausdehnung des Schnellverfahrens nach § 212 RStPO brachten das Recht des Verteidigers zur Akteneinsicht ab dem Zeitpunkt des Antrags auf Anberaumung der Hauptverhandlung und die Zulässigkeit des einfacheren Verkehrs zwischen Verteidiger und Beschuldigtem ab diesem Zeitpunkt. Die zulässige Dauer der Unterbrechung der Hauptverhandlung wurde von drei auf zehn Tage erhöht, um den Gerichten eine größere Flexibilität bei der Organisation und dem Abschluss längerer Verfahren zu geben und so das Risiko einer erneuten Hauptverhandlung wegen Überschreitung der Unterbrechungsfrist zu reduzieren. Das Strafbefehlsverfahren und das Verfahren der gerichtlichen Überprüfung einer polizeilichen Strafverfügung wurden angeglichen, indem nun auch im letzteren Fall der Antrag ohne Beweisaufnahme verworfen werden konnte, wenn der Angeklagte der Hauptverhandlung fernblieb.
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Die VO des Reichspräsidenten gegen politischen Terror vom 9. August 1932[94] verschärfte die Strafrahmen für Straftaten aus politischen Beweggründen in erheblichem Maße. Mit der VO über die Bildung von Sondergerichten vom selben Tag[95] errichtete die Reichsregierung Sondergerichte in einer Vielzahl von Gerichtsbezirken. Diese Sondergerichte waren im Wesentlichen für politisch motivierte Straftaten und sonstige Taten, die gegen die Staatsgewalt oder die öffentliche Ordnung gerichtet waren, zuständig, soweit nicht eine Zuständigkeit der Oberlandesgerichte oder des Reichsgerichts bestand. Die Sondergerichte blieben in der Regel selbst dann zuständig, wenn sich in der Hauptverhandlung die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte ergab. Für das Sondergerichtsverfahren galten die üblichen Abweichungen (vgl. Rn. 4 f.). Voruntersuchung und Eröffnungsbeschluss fielen weg, die Ladungsfristen waren verkürzt. Eine mündliche Verhandlung über den Haftbefehl, den auch der Vorsitzende des Sondergerichts erlassen konnte, fand nicht mehr statt. Das Sondergericht konnte Beweisanträge ablehnen, „wenn es die Überzeugung gewonnen hat, daß die Beweiserhebung für die Aufklärung der Sache nicht erforderlich ist“. Damit wurde die Beweisantizipation in größerem Umfang zulässig und die Beweisaufnahme noch stärker in das (sonder-)gerichtliche Ermessen gestellt.[96] Das Recht zur Richterablehnung wurde eingeschränkt. Rechtsmittel waren gänzlich ausgeschlossen, die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten vor dem zuständigen ordentlichen Gericht hingegen erleichtert. Während frühere Vorschriften für das Sondergerichtsverfahren wenigstens die notwendige Verteidigung ausgeweitet hatten, galt diese nun – abgesehen vom Sonderfall des stummen oder tauben Beschuldigten – nur, wenn nach allgemeinen Vorschriften die Schwurgerichte zuständig wären. Zwar wurden diese Sondergerichte schon im Dezember 1932 wieder aufgehoben,[97] die Verfahrensregeln dienten jedoch als Vorbild der im März 1933 neu gebildeten Sondergerichte (vgl. Rn. 44).
VI. Zusammenfassung
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Nachdem im Deutschen Kaiserreich die wiederholten Initiativen, das Strafverfahrensrecht zu modernisieren, am fehlenden Konsens der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten gescheitert waren, wurden in der Weimarer Republik die entscheidenden Weichen für die Rechtsentwicklung im 20. Jahrhundert gestellt, auch wenn diese Änderungen häufig keine wirkliche demokratische Legitimation hatten. Anstelle der Entwicklung eines konsistenten Verfahrensmodells stand der Einsparungs- und Vereinfachungsbedarf im Vordergrund, der zugleich zu einer Beliebigkeit der Rechtssetzung führte. Dieser Entwicklung setzte die Rechtsprechung angesichts der Zurückhaltung bei der Normprüfung keinen Widerstand entgegen. Das Bedürfnis nach einer schnellen und effektiven Arbeit der Strafjustiz verschlechterte die Rechtsposition des Beschuldigten nicht nur in den Verfahren vor den Sondergerichten. Zugleich erweiterte es die Macht der Staatsanwaltschaft im Vorverfahren und legte damit einen Grundstein für Normsetzung und Rechtspraxis in den Folgejahren.
B. Entwicklung im Nationalsozialismus
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Während der nationalsozialistischen Herrschaft kam es zu grundlegenden Änderungen im Strafverfahrensrecht, obwohl die RStPO in ihrem Kern nicht geändert wurde, sondern weiterhin formale Grundlage des Strafverfahrens blieb. Dennoch konnte sich das Strafverfahrensrecht der radikalen Neuorientierung des materiellen Strafrechts, das ganz in den Dienst der nationalsozialistischen Ideologie treten sollte,[98] nicht entziehen. Die Entwicklung lässt sich grob in drei zeitliche Abschnitte unterteilen.[99] In der Anfangszeit bis etwa Mitte 1935 dienten die Gesetzesänderungen und NotVO vor allem dem Zweck, die Strafjustiz als ein Mittel der Bekämpfung des politischen Gegners zu nutzen und so die Machtstellung der Reichsregierung unter Hitler zu sichern. Nachdem sich die Position der Nationalsozialisten konsolidiert hatte und mit dem Gesetz vom 28. Juni 1935 eine Reihe zentraler strafverfahrensrechtlicher Forderungen aus der Reformdiskussion seit 1933 umgesetzt worden waren, standen die Jahre 1936 bis 1939 im Zeichen der Vorbereitung einer Gesamtreform des Strafverfahrensrechts. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ging es dann zum einen um die Vereinfachung der Strafrechtspflege sowie eine Entlastung von weniger kriegswichtigen Aufgaben und zum anderen um die rücksichtslose und schnelle strafrechtliche Sanktionierung von sog. Volksschädlingen und anderen Straftaten, die sich gegen die Wehrkraft des deutschen Volkes richteten.