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Das Reichsgericht setzte auch der Aufweichung des Beweisantragsrechts durch das freie Ermessen des Tatgerichts hinsichtlich des Umfangs der Beweisaufnahme (vgl. Rn. 51, 59) Grenzen. Es hielt daran fest, das Tatgericht müsse stets die „volle Überzeugung von Schuld oder Unschuld“ erlangen.[219] Auch bei der Ausübung des freien Ermessens könne das Gericht Beweisanträge nur durch begründeten Beschluss ablehnen, damit „der Beweisführer in der Lage ist, sein weiteres Verhalten danach einzurichten, und daß das Revisionsgericht nachprüfen kann, ob der Tatrichter von zutreffenden verfahrensrechtlichen Erwägungen ausgegangen ist.“[220] Das Reichsgericht betonte auch die Pflicht zur Ermittlung entlastender Tatsachen[221] und warnte vor einem Rückgriff auf die Wahlfeststellung, um Versäumnisse bei der Wahrheitsermittlung zu kompensieren.[222] Selbst beim Vorwurf einer Straftat nach dem BlutSchG wandte sich das Reichsgericht gegen eine Absenkung des Tatnachweises.[223] Das Reichsgericht beschränkte auch das Ermessen der Gerichte hinsichtlich des Absehens von der Vereidigung von Zeugen, da dieses Ermessen im Interesse der Wahrheitsermittlung restriktiv angewandt werden müsse. Zudem musste die Ermessensentscheidung nachvollziehbar in der Sitzungsniederschrift festgehalten werden, um „den Belangen des Angeklagten gerecht zu werden“.[224]
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Trotz der gesetzlichen Einschränkungen der notwendigen Verteidigung unterstrich das Reichsgericht, der Vorsitzende müsse in jeder Lage des Verfahrens nachvollziehbar prüfen, ob die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung vorliegen.[225] Den Forderungen nach einer fast schon unbegrenzten Verfahrensbeschleunigung hielt das Reichsgericht entgegen, dem Verteidiger sei ausreichend Vorbereitungszeit einzuräumen, anderenfalls sei die Hauptverhandlung auszusetzen.[226] Beispielsweise hob das Reichsgericht 1943 ein Todesurteil wegen Mordes auf, da der Pflichtverteidiger nicht genügend Zeit gehabt hatte, sich in die Sach- und Rechtslage einzuarbeiten. Es verstieße gegen den „Willen des Gesetzgebers“ und diene nicht der Gerechtigkeit, wenn die Verteidigung reine Formsache werden würde.[227] In einem Urteil vom 15. Juli 1938 ging es um die Rüge der Verletzung des Akteneinsichtsrechts des Verteidigers nach § 147 RStPO durch das Vorenthalten von Steuerunterlagen, die die Finanzbehörde dem Gericht nur unter der Bedingung eines Weitergabeverbots an den Verteidiger zur Verfügung gestellt hatte. Zwar meinte das Reichsgericht, dass „nach heutigem Rechtsempfinden“ Behördenakten dem Verteidiger vorenthalten werden dürfen, wenn „gewichtige Belange der Allgemeinheit gefährdet“ werden würden. Es sei dann jedoch unzulässig, den in diesen Akten befindlichen Tatsachenstoff zu Lasten des Beschuldigten im Strafverfahren zu verwenden.[228] Auch in zahlreichen weiteren Entscheidungen zu strafverfahrensrechtlichen Einzelheiten lehnte das Reichsgericht den Gedanken einer „Auflockerung“ von Förmlichkeiten zum Schutz des Beschuldigten ab.[229] Manche Entscheidungen, wie z.B. zum Ausschluss des Angeklagten bei einer Gesundheitsgefährdung des Zeugen oder zur Zulässigkeit der Rügeverkümmerung durch eine nachträgliche Protokollberichtigung,[230] sind im Ergebnis auch unter heutigen Aspekten unbedenklich oder zumindest gut vertretbar, auch wenn die Begründung auf nationalsozialistische Topoi zurückgriff.
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Dieses Ergebnis zur strafverfahrensrechtlichen Rechtsprechung des Reichsgerichts sagt jedoch nichts aus über die Verfahrenspraxis der Tatgerichte, insbesondere die Verfahrensführung vor den Sondergerichten, auch wenn die Bewertung, die meisten Strafverfahren im Dritten Reich seien „willkürliche Schauprozesse“ gewesen,[231] überzogen ist.[232] Bei einer Betrachtung der strafverfahrensrechtlichen Auslegung des Reichsgerichts muss allerdings im Auge behalten werden, dass das Reichsgericht in der Strafjustizpraxis wegen der wachsenden Zuständigkeiten der Sondergerichte und des Volksgerichtshofes ohnehin stark an Bedeutung verloren hatte.
VI. Zusammenfassung
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Die Entwicklung im Nationalsozialismus ist gekennzeichnet durch die fortschreitende Marginalisierung der Rechtsposition des Beschuldigten, die Überbetonung der staatlichen Interessen und die damit verbundene Aufwertung der Rolle der Staatsanwaltschaft unter Zurückdrängung der richterlichen Verantwortung und die faktische Ausschaltung der richterlichen Unabhängigkeit. Die beherrschende Stellung der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren war wesentlicher Baustein des NS-Strafverfahrens, da die Staatsanwaltschaft durch ihre Weisungsgebundenheit noch leichter beeinflusst werden konnte als die formal noch unabhängigen Gerichte.[233] Gleichwohl blieb das Strafverfahren im Wesentlichen der Wahrheitsermittlung verpflichtet. Die zum Teil radikalen Vorschläge einer Gesamtreform nach nationalsozialistischem Vorbild konnten sich nicht durchsetzen, was die Verfahrenspraxis, vor allem vor dem Volksgerichtshof und vor den Sondergerichten, nicht daran hinderte, ihren Teil zur „Perversion der Strafjustiz“[234] beizutragen.
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Es darf nicht vergessen werden, dass Strafrecht und Strafverfahrensrecht unter „Diktaturvorbehalt“ standen und damit – wie auch das Strafrecht insgesamt – seine Allgemeingültigkeit als wesentliches Merkmal von Recht verloren hatten. Die nationalsozialistischen Machthaber behielten sich das letzte Wort vor, die geschriebenen Regeln wurden nur anerkannt, soweit es „das wirksamste Mittel zur Erhaltung und Förderung des Volkes ist“, anderenfalls müssten „andere Mittel statt Rechtsnormen angewandt werden.“[235] Getreu diesen Vorstellungen konnten selbst rechtskräftige Strafurteile praktisch wertlos sein. Freigesprochene wurden in Konzentrationslager verbracht oder Verurteilte wurden auf Befehl des Führers getötet, wenn dieser mit Verhängung einer Freiheitsstrafe nicht einverstanden war.[236] Auch das Legalitätsprinzip wurde nicht nur durch legislative Maßnahmen durchbrochen. Viele Taten von Angehörigen nationalsozialistischer Organisationen, die auch nach damaligem Recht strafbar waren, wurden nur halbherzig oder überhaupt nicht von den Staatsanwaltschaften verfolgt.[237]
Ausgewählte Literatur
Broszat, Martin | Zur Perversion der Strafjustiz im Dritten Reich, VjZ 6 (1958), S. 390–445. |
Freisler, Roland | Die Vereinfachungsverordnung als Mittel der Schlagkraftsteigerung der Strafrechtspflege und ihr Stand in der Strafverfahrenserneuerung, DJ 1939, S. 1537–1545. |
Gruchmann, Lothar | Justiz im Dritten Reich 1933–1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner, 3. Aufl. 2001. |
Hartung, Fritz | Das Recht der Untersuchungshaft nach dem Gesetz vom 27. Dezember 1926, 1927. |
Hartung, Fritz/Niethammer, Emil | Neues Strafverfahrensrecht, 1940. |
v. Hippel, Robert | Der deutsche Strafprozeß, 1941. |
Käckell, Lothar | Der Einfluß der neuen Reichsverfassung auf Straf- und Prozeßrecht, ZStW 41 (1920), S. 680–723. |
König, Stefan | Vom Dienst am Recht, 1987. |
Koch, Peter | Die Reform des Strafverfahrens im Dritten Reich unter besonderer Berücksichtigung des StVO-Entwurfs 1939, 1972. |
Ladiges, Manuel |
Die Entwicklung des Strafverfahrensrechts im Nationalsozialismus und ihre Umsetzung
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